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Politik Backstage: Rüsten für „Rearm Europe“

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 © HBF/Carina Karlovits / OTS

Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmannsdorfer (ÖVP) mit Verteidigungsministerin Claudia Tanner (ÖVP) und Wolfgang Peschorn, Präsident der Finanzprokuratur.

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Warum die Kuschelkoalition nach einem halben Jahr demonstrativer Harmonie über Nacht ihre Unschuld verlor. Wie Regierung und Wirtschaft hinter den Kulissen an einer Lockerung der Hürden für österreichische Waffenexporte und an neuen Regeln für Gegengeschäfte arbeiten. Auslöser: die Aussicht, am zwei Billionen Euro schweren Aufrüstungsprogramm der EU mitzunaschen.

Das schlagzeilenträchtige Zwillingspaar stand bereits seit Wochen auf der regierungsinternen Planungsliste. Die Top-Themen der Regierungssitzung in der zweiten Septemberwoche sollten primär türkis-schwarz beflaggt werden. Für diesen Mittwoch stand zum einen das Go für den Gesetzesentwurf für ein Kopftuchverbot bis 14 Jahren in Schulen auf dem Programm. Nach langem, vor allem juristisch schweren Ringen hofft ÖVP-Kanzleramtsministerin Claudia Plakolm, ein Paragraphenwerk ins Parlament zu bringen, das nicht neuerlich vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wird.

Zudem sollte diesen Mittwoch ein zweites türkis-schwarzes Lieblingsvorhaben vom Stapel laufen: eine Reform der Sozialhilfe. Im politischen Kern zielt diese auf eine Kürzung von Geldleistungen für Asylwerber ab. Auslöser waren eine Handvoll medial spektakulärer Fälle, in denen vielköpfige Flüchtlingsfamilien auf eine monatliche staatliche Unterstützung von bis zu 9.000 Euro kamen. Eine Summe, die sich, auch angesichts von elf Kindern, nicht mehr kleinreden oder schönrechnen ließ. 

Die Kompetenz für das Kopftuchverbot, das auf das politische Konto der ÖVP einzahlen soll, liegt mit Claudia Plakolm praktischerweise bei einer durch und durch türkisen ÖVP-Ministerin. Die Kompetenz für eine neue, restriktivere Rahmengesetzgebung bei der Sozialhilfe, die ebenfalls primär aufs ÖVP-Konto einzahlen soll, liegt mit Korinna Schumann freilich bei einer in der Wolle gefärbten roten Ministerin und strammen Gewerkschafterin.

Von Schumann kursieren just seit ihrem Aufstieg zur Ministerin immer mehr Videos von bis dahin weitgehend unbeachteten Brandreden als SPÖ-Bundesrätin gegen die ÖVP. Das Misstrauen beim Aufstieg zur Ministerin war so vom Start weg gegenseitig.

Dazu kommt: Für die praktische Umsetzung und einen strengeren Vollzug der Sozialhilfe braucht es nicht nur einen Konsens zwischen Türkis, Rot und Pink. Es braucht auch vorab den Goodwill aller neun, persönlich und politisch höchst unterschiedlich gestrickten Landeshauptleute – drei roter, fünf türkis-schwarzer und eines blauen.

Beim Kopftuchverbot wurde – wie bei drei politisch höchst diversen Partnern nicht weiter überraschend – lange um den Gesetzestext gerungen, zuletzt aber nur noch um Detailfragen. Das Vorhaben wurde diesen Mittwochvormittag mit verteilten Rollen und Argumentationsschwerpunkten aber artig konsensual präsentiert.

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Türkiser PR-Doppelschlag geplatzt

Das Vorhaben, zeitgleich auch künftige FPÖ-Turbo-Schlagzeilen wie „9.000 Euro Sozialhilfe im Monat für Syrer-Familie“ aus der Welt zu schaffen, musste zähneknirschend zu später Nachtstunde wenige Stunden vor dem Ministerrat auf Drängen der SPÖ von der Tagesordnung gestrichen werden.

Dabei handelte es sich beim Projekt „Sozialhilfe neu“ noch lange nicht um ein fertiges Gesetz, sondern um einen sogenannten Ministerratsvortrag. Neu war primär die schriftliche Absichtserklärung für rasche Verhandlungen mit den Ländern. Denn viele in der Regierung sehen Gefahr in Verzug, weil einige Landesfürsten in den letzten Wochen bereits mit Umbauplänen der Sozialhilfe in ihrem Bundesland vorgeprescht waren. Inhaltlich gab der geplante Ministerratsvortrag im Kern nur wieder, was bereits im Koalitionsabkommen festgeschrieben worden war.  

Genau das wurde der SPÖ-Sozialministerin in einer Online-Story der Gratiszeitung „Heute“ von anonymen Politikerkollegen vorgeworfen. „Konkrete Vorschläge aus dem zuständigen Sozialressort seien Mangelware“, gab „heute.at“ kritische Regierungsstimmen wieder. Ein halbes Jahr nach Start der Regierung „hätte die Sozialministerin mehr liefern können. Jetzt solle die Koalition mehr oder weniger ,leer’ in die konkrete Phase der Reform starten“, so der „heute“-Stimmungsbericht aus dem Regierungsviertel.

Als die Push-Meldung mit dieser Story Dienstag um 20:05 Uhr auf den Handys der Koalitionskoordinierer aufpoppte, saßen diese gerade routinemäßig beim vorabendlichen finalen Meeting zur Vorbereitung des Ministerrats im Kanzleramt zusammen. Die Chefkoordiniererrunde besteht aus den beiden Staatssekretären Alexander Pröll (ÖVP) und Michaela Schmidt (SPÖ), dem pinken Chefkoordinator Armin Hübner sowie den Klubobleuten August Wöginger (ÖVP), Philip Kucher (SPÖ) und Yannick Shetty (Neos). Fallweise finden sich bei Bedarf auch betroffene Minister in der Runde ein.

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SPÖ-Sozialministerin Korinna Schumann

 © APA/Roland Schlager

„Heute“-Push-Meldung entzweit Dreierkoalition

Die Stimmung war ob des offenen Pokers um Pensions- und Beamtengehaltserhöhungen ohnehin schon angespannt. Mit der Push-Meldung in Sachen Sozialhilfe kippte die Missstimmung umgehend in offenen Streit.

Für die Handvoll Kabinettsangehörige und Mitarbeiter, die noch die letzten Jahre von Rot-Schwarz miterlebt hatten, war es ein Déjà-vu. Für das Gros der Spitzenleute in der Dreierkoalition war es ein Tabubruch. Schließlich war es bislang eines der wenigen Assets von Türkis-Rot-Pink, nach außen hin einheitlich aufzutreten und Streit und Hader ohne Leaks an Medien hinter den Kulissen zu belassen. „Es war das erste Mal, dass ein Vorhaben sehr konkret und mit einem massiv negativen Bias an ein Medium vor einer wichtigen Sitzung durchgestochen worden war“, resümiert ein Teilnehmer.

Die Kuschelkoalition zwischen Türkis, Rot und Pink hatte Dienstagnacht endgültig ihre Unschuld verloren. Es wurde nicht – wie bislang propagiert – allein in der Sache gestritten, sondern wer hier wen medial angeschwärzt hatte. Und wie das denn nach diesem offenen Vertrauensbruch nun konstruktiv weitergehen solle. 

Weil es sich mit einem Außenfeind am besten weiterleben lässt, gaben Spitzenkoalitionäre tags darauf die Parole aus: Hinter der „heute“-Story stecke niemand aus dem Regierungsviertel, sondern ein missliebiger Landespolitiker, dem das Regierungsvorhaben gegen den Strich gehe und der es torpedieren wolle.

Fakt ist: Die Sozialhilfe neu zu regeln, war schon bisher ein Mammutprojekt. Nach dem massiven Knatsch schon vor dem Start der inhaltlichen Verhandlungen wird es die Koalitionskoordinierer so noch wochenlang auf Trab halten. 

Ukrainekrieg liefert neuen Politzündstoff

Seit Wochen höchst diskret laufen zudem regierungsintern Gespräche zu einem nachhaltigen Ausläufer des Ukraine-Kriegs, der dem Kabinett Stocker-Babler-Meinl-Reisinger neuen, höchst explosiven Zündstoff bescheren könnte: Das Bundesheer schwimmt nach Jahrzehnten des Kaputtsparens seit Kurzem erstmals im Geld und hat das politische Pouvoir, bis Ende des Jahrzehnts 25 Milliarden Euro in neue Waffen, Ausrüstung und Infrastruktur für die marode Armee zu investieren.

Brüssel hat sich angesichts der weit über die Ukraine hinausgehenden militärischen Bedrohung durch Russland der Devise „Rearm Europe“ verschrieben. Bis zu zwei Billionen Euro sollen in die Aufrüstung der europäischen Armeen investiert werden.

Die EU drückt bei solchen Investments ein Auge beim Blick auf das Schuldenbarometer zu. Einschlägige Ausgaben können aus der Defizit- und Schuldenquote herausgerechnet werden und werden auch in allfälligen Defizitverfahren wie jenem gegen Österreich nicht schlagend.

Mega-Milliarden für Aufrüstung als neuer Wirtschaftsmotor

Österreichische Waffenerzeuger und mögliche Sublieferanten von internationalen  Rüstungsunternehmen wollen bei diesem absehbar europaweiten Mega-Milliardengeschäft wo immer möglich mitmischen. Denn angesichts des Niedergangs der europäischen Autoindustrie und der stillen Abwanderung von immer mehr Industrieunternehmen sehen EU-weit Regierungen „Rearm Europe“ derzeit als einen der wenigen potenten Treiber für einen Wirtschaftsaufschwung.

Im Regierungsviertel gehen zudem zwei zuletzt geplatzte Waffengeschäfte als abschreckende Beispiele um, die dringend nach Änderungen im Vollzug der bestehenden Waffenexportregeln rufen. Noch in den 1980er-Jahren mischte Österreich bei internationalen Waffenverkäufen nach Kräften mit. Steyr-Panzer wurden bis nach Südamerika verschifft. Die Regierung ging sehr freihändig mit den formal notwendigen Exportgenehmigungen um.

Vom Waffenskandal zum Dienst nach Vorschrift

Einige Skandale – Stichwort Noricum-Kanonen für den Iran – brachten in den 1990er-Jahren nicht nur einige Politiker und Manager vor Gericht, sondern heimische Rüstungsgeschäfte bis zum Erliegen in Verruf. Seit damals wollen Minister aller Couleurs an Waffendeals persönlich nicht einmal anstreifen und überlassen den Vollzug der Waffenexportregeln dem Apparat. Auch dort agieren Beamte aus Sicht der Antragsteller nach dem Prinzip: Am besten an keinem Waffendeal anstreifen, um sich nicht in einem Skandal oder U-Ausschuss wiederzufinden. Das heißt: einen Akt am besten so lange im Kreis schicken, bis sich das Thema von selbst erledigt hat.

Zwei jüngst geplatzte Deals werden in Wirtschaftskreisen als dafür exemplarisch herumgereicht: Die tunesische Regierung schrieb Ende des Vorjahres die Beschaffung von 8.000 Maschinengewehren aus. Nachdem tunesische Polizisten bereits 1978 erstmals mit „STG77“ Sturmgewehren von Steyr-Mannlicher (heute: Steyr Arms) ausgerüstet wurden, rechnete sich Steyr-Arms gute Chancen für den Nachrüstungs-Auftrag aus. Das Auftragsvolumen belief sich auf 30 bis 35 Millionen Euro – inklusive Ersatzteillieferungen in den nächsten 25 Jahren.

Neben Österreich boten auch ein US- und ein chinesisches Unternehmen mit. Vor einer endgültigen Entscheidung mussten alle drei Bieter je vier Mustergewehre zum vergleichenden Test nach Tunesien schicken. Steyr Arms stellte für die vier Waffen den entsprechenden Exportantrag Ende Dezember 2024, damit innerhalb der gesetzten Frist Anfang März diese in Tunesien sein können.

Ein entsprechender Antrag muss vom Innenministerium in Absprache mit dem Außenministerium und unter Anhörung des Verteidigungsministeriums entschieden werden. Da die nötige Bewilligung nicht rechtzeitig vorlag, verlängerte Tunesien die Frist bis 16. April und schlussendlich bis 6. Mai 2025. Alles in allem waren somit gut fünf Monate Zeit, die Ausfuhr von vier Sturmgewehren auf Herz und Nieren zu prüfen. 

Trotz vielfacher Interventionen gab es seitens des Innenministeriums weder ein Nein noch ein Ja. Das mögliche Geschäft für Steyr Arms platzte. 

Experten der Industriellenvereinigung (IV) durchleuchteten den hürdenreichen Ablauf und kamen zum Befund: „Niemand hat etwas falsch gemacht, gegen eine Frist oder ein Gesetz verstoßen. Aber keiner hat sich exponiert, dass das schneller geht.“ Conclusio: „Wenn die Regeln es zulassen, dass es binnen fünf Monaten keine Entscheidung gibt und damit jeder mögliche Geschäftspartner vergrault werden kann, dann muss man etwas an den Regeln ändern“, resümiert ein IV-Mann.

Wasser auf die Mühlen war zudem eine zweite Causa: die mögliche Lieferung von tausend Gewehren für die Polizei im Irak. Die lokale Exekutive wird mit dem Segen der UNO und Fördermillionen aus EU-Töpfen für eine gesellschaftlich belastbare Nach-IS-Ära ausgebildet.

Im Oktober 2024 startete Steyr Arms das notwendige Genehmigungsverfahren für die gewünschte Lieferung von 1.000 Sturmgewehren. Diesmal gab es nach gezählten elf Monaten Wartezeit am Ende doch ein Lebenszeichen aus dem Innenministerium – zum Leidwesen des Unternehmens einen negativen Bescheid. 

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Neos-Staatssekretär Sepp Schellhorn

 © APA/Georg Hochmuth

Regierung will Schneckentempo der Bürokratie beschleunigen

Im Regierungsviertel ist eine zeitgemäße Anpassung des Tempos der Bürokratie an die Erfordernisse des modernen Wirtschaftslebens schon seit dem geplatzten Tunesien-Deal im Mai ein Thema.  

Eine entsprechende Adaptierung des Kriegsmaterialgesetzes ist nicht das einzige sensible Thema, das einige Auskenner im Regierungsviertel in Sachen „Rearm Europe“ und neue Marktchancen für Österreich umtreibt. Seit dem Eurofighter-Skandal sind auch Gegengeschäfte bei Kauf von Rüstungsgütern durch Österreich derart in Verruf, dass das Verteidigungsministerium die Finger davon lässt. Ein hochrangiger Wirtschaftsmann sagt: „Dadurch entgeht uns nicht nur sehr viel mögliches ziviles Geschäft. Wir haben auch bei einigen Herstellern schlechtere Bedingungen oder das Nachsehen“. 

Auf Initiative von Peter Koren, Vize-Generalsekretär der Industriellenvereinigung, brütet daher gerade eine kleine Arbeitsgruppe angeführt vom Milizbeauftragten des Bundesheeres, Generalmajor Erwin Hameseder, im Zivilberuf Raiffeisen-Generalanwalt, und Wirtschaftskammer-Vizepräsident Wolfgang Hesoun, Ex-Siemens Chef und SPÖ-Netzwerker, über neuen Spielregeln für Gegengeschäfte bei Rüstungsdeals.

Einer der Mitdenker und Eckpfeiler des Projekts: Wolfgang Peschorn, parteiübergreifend gut beleumundeter Chef der Finanzprokuratur. Peschorn soll auch bei der praktischen Umsetzung Gegengeschäfte ohne auch nur den Anschein von unsauberen Praktiken und Korruption garantieren.

Wunschszenario auch von Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmannsdorfer und Verteidigungsministerin Klaudia Tanner: Innen-, Verteidigungs- Wirtschafts- und last but not least Finanzministerium gründen eine eigene ausgelagerte Beschaffungsbehörde, die Beschaffungen samt Gegengeschäften abwickelt. „Am besten wäre es, wenn bei so einer ausgelagerten und damit effizienten Behörde auch gleich die Rüstungsexportgenehmigungen angesiedelt werden“, ergänzt ein beteiligter Insider.

Neos-Staatssekretär Sepp Schellhorn sprach die heiße Kartoffel Rüstungsexporte im Kreis der österreichischen Botschafter im Ausland jüngst auch erstmals in einem größeren Kreis offen an. Diese sind dafür bei Auftraggebern vor Ort oft die ersten Ansprechpartner und bisweilen auch die Klagemauer für gescheiterte Deals. „Meine Rolle ist es, alles etwas einfacher zu machen. Wir müssen uns daher dringend der Frage widmen, wie novellieren wir das Kriegsmaterialgesetz“, so Schellhorn bei der jüngsten Botschafterkonferenz.

Im kleinen Kreis machte der umtriebige gelernte Unternehmer zudem deutlich, dass es ihm nicht nur um schnellere Entscheidungen bei Waffenexporten, sondern auch um den Abbau von unnötigen Hürden und hartnäckigen Tabus geht. Schellhorn: „Es ist doch absurd, dass beispielsweise Hersteller von Gummireifen nicht bei Aufträgen für den Bau des Pandurpanzer mitbieten dürfen, weil einige Angst davor haben, dass damit das Thema Neutralität aufgemacht wird.“

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