
Die Gründer Benjamin Mayr, Philipp Heltewig und Sascha Poggemann haben einen der führenden Anbieter für automatisierten Kundenservice gebaut. KI-Agenten „sprechen“ mit den Kund:innen und erledigen einfache Aufgaben autonom. Über 1.000 Unternehmen – Nestlé, Toyota, Lufthansa, DHL, EON u. a. – nutzen die Plattform, und wickeln täglich Millionen Anrufe und Anfragen ab.
©CognigyMit Technologie und Talent spielen europäische Unternehmen im globalen KI-Wettbewerb mit, bis sie auf der Suche nach Märkten oftmals in den USA landen. Dieses Muster will die EU durchbrechen.
Es war der bislang größte KI-Exit in Europa: Ende Juli übernahm die US-Firma Nice das Düsseldorfer KI-Unternehmen Cognigy um 955 Millionen Euro. Nice, eines der führenden Unternehmen für Kundenservice, kauft sich mit dem Deal KI-Expertise ein, die die drei Gründer über neun Jahre entwickelt haben, unter anderem mit dem Geld von Investoren aus Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Skandinavien. Noch nie wurde mehr für ein KI-Unternehmen aus Europa bezahlt. In die Freude über den Exit mischen sich kritische Kommentare über den Verkauf in die USA. Gilt das Motto „Built in Europe, sold to the US“ auch im KI-Zeitalter? Kann der alte Kontinent im globalen KI-Wettrennen überhaupt mitspielen und, wenn ja, auf welcher Position?
Klar ist, es gibt sie in einer Vielzahl, die europäischen KI-Champions mit globalem Potenzial. Einer, der diese Exzellenz bestens kennt, ist Chip-Pionier und Deeptech-Investor Hermann Hauser. „Die Geschichte ist nicht auf unserer Seite, wenn man sich die neuen Technologien anschaut“, sagt Hauser. „Der Unterschied zwischen den USA und Europa ist noch immer die Höhe der Investitionen“.
Wo das Big Money zu Hause ist, weiß auch Andreas Schwarzenbrunner, einer der vier Geschäftsführer des paneuropäischen Risikokapitalfonds Speedinvest und Co-Leiter des Investmentteams. Er will dem Narrativ, dass Europa nicht mithalten kann, dennoch nur bedingt zustimmen. „Europa hat noch immer sehr viel Vermögen und ist der zweitgrößte Wirtschaftsraum. Viel Geld, das US-Fonds investieren, stammt von europäischen Versicherungen oder Rentenfonds. Europäer haben bisher gerne in den USA investiert, weil die Performance besser war.“
Für Schwarzenbrunner sind weniger die fehlenden Mittel das Problem als die falsche Prioritätensetzung: „Europäische Unternehmen geben weniger für F&E aus als US-Unternehmen, und die Subventionspolitik hat noch immer zu stark die alte Industrie, etwa den Automobilsektor, im Blick.“
Dass die europäische Technologiepolitik zu spät und auf die falschen Akzente gesetzt hat, bedauert auch Investor Markus Wagner von i5invest, der die Szene im Valley wie auch in Europa bestens kennt: „Europa hätte bei den selbstfahrenden Autos und in der Batterieerzeugung durchaus Chancen gehabt.“
Wovon Europa noch immer zehren kann, ist ein Talentepool, der von renommierten Instituten wie einer TU München, ETH in Zürich, der „Polytec“ in Paris oder der Stockholmer KTH gespeist wird. Spitzenleute, die sich oft mit Spin-offs oder eigenen Gründungen auf den Markt wagen. Für Schwarzenbrunner hat sich eine kritische Masse an Wissensclustern herausgebildet: „Die ETH ist eine Kaderschmiede für Robotics, an der TU Delft hat sich rund um ASML viel Forschungs-Know-how im Halbleiterbereich gebündelt, und die Stärke der Franzosen in Mathematik und Physik ist das Fundament für den KI-Hotspot Paris.“
Diese europäische Brainpower ist für die Big Tech in den USA gerade extrem attraktiv, wie Wagner Anfang Juli auf der WeAreDevelopers-Konferenz in Berlin feststellte, wo sich 15.000 Softwareentwickler trafen. „Ein relevanter Teil des Silicon Valley ist in Topbesetzung eingeflogen, um mit europäischen Entwicklern zu reden. Die Präsenz der US-Giganten war enorm.“
Wagner beschreibt den Blick der Amerikaner auf Europa so: „Die Europäer sind gut im Bauen, aber nicht so stark beim Wachsen.“ Die großen Technologiekonzerne investieren 2025 beispiellose Summen in ihr KI-Portfolio, Amazon will heuer 100 Milliarden Dollar in die Hand nehmen. Meta-Chef Mark Zuckerberg rekrutiert gerade eine KI-Elitetruppe mit aberwitzigen Gehältern, die sonst nur Weltfußballer abrufen.
Die Europäer sind gut im Bauen, aber nicht so stark beim Wachsen.
Fruchtbarer Boden in Frankreich
Microsoft allein hat für 2025 Rekordinvestitionen von 80 Milliarden Dollar angekündigt, die in KI-Rechenzentren fließen. Im Vergleich dazu hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gerade einmal 20 Milliarden Euro für den Aufbau von KI-Infrastruktur ausgelobt. Angesichts der Kräfteverhältnisse wäre die Priorisierung der Mittel umso entscheidender, findet Wagner. „Die Forderungskataloge gibt es seit 15 Jahren, es geht dabei vor allem um die Mobilisierung von Kapital, das unternehmerisch einen großen Hebel entfalten kann. Sonst reiht sich das Thema KI in Europa endgültig in die Reihe verschlafener Technologiesprünge ein.“
So traf denn auch der Befund zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit von Mario Draghi im Herbst einen wunden Punkt: Europa hat zu wenig Geld für digitale Schlüsseltechnologien, und der digitale europäische Binnenmarkt funktioniert nicht, lautete eine Conclusio. Henna Virkkunen, Vizepräsidentin der EU-Kommission für technologische Souveränität, Sicherheit und Demokratie, hat die Unabhängigkeit („digitale Souveränität“) oben auf die Agenda gesetzt. Über die „InvestAI“-Initiative sollen Investitionsanreize in der Wirtschaft geschaffen werden.
Der Boden für KI-Investments ist aber nicht überall in der EU gleich fruchtbar. Dass mit Mistral der strahlendste KI-Leuchtturm in Frankreich sitzt, ist auch das Ergebnis kluger Standortpolitik. Präsident Emmanuel Macron hatte schon 2018 die nationale KI-Strategie formuliert, vier Jahre vor ChatGPT. Ob Mistral als wertvollste KI-Gründung europäisch bleiben kann, wird sich zeigen. Investor Wagner rechnet mit weiteren Übernahmen: „Das wird mit vielen guten europäischen Unternehmen passieren.“ Erwartet wird, dass Apple in Europa einkauft. Der iPhone-Konzern hat die erste KI-Runde – das Aufkommen der generativen Anwendungen – verpasst, aber Milliarden von Dollar für Dutzende Cognigys am Konto.
Europäische Hoffnungsträger
Cognigy
Der größte KI-Exit in Europa ist wenige Tage alt. Ende Juli übernahm der US-Konzern Nice das Düsseldorfer Unternehmen Cognigy um 955 Millionen Dollar. Die Gründer Benjamin Mayr, Philipp Heltewig und Sascha Poggemann haben einen der führenden Anbieter für automatisierten Kundenservice gebaut. KI-Agenten „sprechen“ mit den Kund:innen und erledigen einfache Aufgaben autonom. Über 1.000 Unternehmen – Nestlé, Toyota, Lufthansa, DHL, EON u. a. – nutzen die Plattform, und wickeln darüber täglich Millionen Anrufe und Anfragen ab. Finanziert haben den Aufbau etwa Investoren aus Großbritannien, Frankreich und den USA. In der Pandemie gab es massive Nachfrage nach neuartigen Lösungen für den Kundenservice, und die Düsseldorfer erkannten früh, dass Datenschutz und Compliance technisch und im Vertrieb zu Schlüsselassets gehören. Mit Nice soll die Plattform eigenständig bleiben und noch stärker mit klassischen Contact-Center-Lösungen integriert werden.
Mistral: Europäisches Sprachmodell
Mistral wird als das europäische Pendant zu OpenAI betrachtet, gegründet erst 2023 von Guillaume Lample, Timothée Lacroix und Arthur Mensch (CEO), der zuvor drei Jahre bei der Google-KI-Tochter DeepMind war. Bereits vier Wochen nach der Gründung warben sie für die Entwicklung ihres Sprachmodells Le Chat 105 Millionen Euro ein. Nach der Kapitalrunde 2024 war das Pariser Unternehmen bereits 6,5 Milliarden Dollar wert und ist in diesen Wochen in Verhandlungen über eine nächste. Mehr als drei Dutzend Kapitalgeber aus aller Welt setzen auf die Franzosen, staatliche und private Fonds ebenso wie Unternehmen: Microsoft, IBM, Samsung, Salesforce und andere sind investiert. Positioniert haben sich die Franzosen mit einem transparenten Entwicklungszugang und europäischen Sicherheits- und Datenschutzstandards. Bald wollen sie auf Basis von Nvidia-Chips eine eigene KI-Infrastruktur anbieten. Mistral ist eine Blaupause für die jüngsten Bestrebungen in der europäischen Technologiepolitik, unabhängiger zu werden. „Europa, der Nahe Osten, Asien und die südliche Hemisphäre haben auf eine Alternative gewartet“, kündigt der Konzern seine Plattform Mistral Compute an, die mit Firmen wie Thales, BNP Paribas und Orange startet.
Lovable: Chatten statt programmieren
Nach Spotify und Klarna geht mit Lovable in Stockholm der nächste Stern auf. Der 35-jährige Anton Osika hat kein eigenes KI-Modell, sondern nutzt bestehende wie ChatGPT, Mistral & Co. extrem wirkungsvoll. Mit Lovable lassen sich ohne Programmierkenntnisse Websites und Apps bauen – binnen kürzester Zeit mit ein paar Prompts. Nutzer und Investoren sind begeistert. Lovable hat in nur acht Monaten 100 Millionen Dollar Umsatz erreicht und ist profitabel. Seit der jüngsten Finanzierungsrunde, angeführt vom US-Fonds Accel (gehört zu KKR), wird das Unternehmen auf 1,8 Milliarden Dollar taxiert. Allein im Juni wurden damit 2,5 Millionen Websites gebaut, über 20.000 Unternehmen nutzen das Programm. Lovable hat eine starke Community und Perspektiven, der Markt für No-Code-Anwendungen ist allerdings extrem umkämpft.
DeepL: Übersetzer der Geschäftswelt
Ein weiterer KI-Big-Player sitzt wenige Kilometer rheinaufwärts in Köln: DeepL (steht für Deep Learning). Hinter dem Unternehmen steht der in Polen geborene und in Deutschland aufgewachsene Programmierer Jarek Kutylowski, heute 43. Er begann als CTO des Onlinewörterbuch Linguee ab 2017, die Übersetzungsprogramme mit neuronalen Netzen zu trainieren. Aus Linguee wurde DeepL, Kutylowski der Chef. DeepL ist laut Messungen eines der besten Übersetzungsprogramme weltweit. Neben Privaten nutzen über 200.000 Unternehmen und Behörden die Produkte der Kölner, auch in den USA: Die Hälfte der Fortune 500 nutzt DeepL. Technisches Asset sind präzise, natürlich klingende Übersetzungen für 35 Sprachen, multimedial und sicher, buchbar ab 50 Euro pro Nutzer und in die IT gut integrierbar. Wachstumskapital kommt von Investoren aus den USA und aus Europa, die das Unternehmen mit der jüngsten Runde (300 Millionen Dollar 2024) auf zwei Milliarden Dollar Wert brachten. DeepL konzentriert sich erfolgreich auf seine Nische und den profitablen Firmenkundenmarkt, neuerdings mit großen IT-Vertriebspartnern wie Bechtle.
Der Artikel ist in der trend.EDITION vom 8. August 2025 erschienen.