
Künstliche Intelligenz hat die Hand ausgestreckt. Greift Europa zu, schreibt es ein neues Kapitel der Wirtschaftsgeschichte.
©PexelsVor Kurzem hätte man noch für verrückt gegolten, wenn man ein EU-Momentum in Sachen KI gefeiert hätte. Jetzt heißt es: Chancen nutzen! Ein Gastkommentar von Gerhard Kürner.
0,2 Prozent Wachstum - mehr ein Flackern auf den Radarschirmen der Konjunkturstatistik als ein echter Aufschwung. Europas Leitindustrien parken noch immer im Tal der Tränen, die Fahrzeugbauer kämpfen mit Absatzflauten und Transformationskosten. Und doch rumort es unter der Oberfläche: Ein Momentum baut sich auf, leise, schnell, kaum beobachtet – bis jetzt. Innerhalb von sechs Monaten hat sich rund um Digitaltechnologien und künstliche Intelligenz eine Aufbruchsdynamik entzündet, die selbst Optimisten überraschen dürfte. Spanien liefert ein spektakuläres Beispiel: Im ersten Halbjahr 2025 floss dort bereits mehr Risikokapital in Tech-Firmen als im gesamten Vorjahr. Die Bewertungen aller Tech-Start-ups pulverisierten die 100-Milliarden-Euro-Marke – doppelt so viel wie 2020. Möglich macht das eine seltene Konstellation: reformfreudige Politik, üppige EU-Fördertöpfe, wachsende heimische Fonds und ein Talentpool, der nach Jahren im Ausland wieder auf die iberische Halbinsel heimkehrt.
Diese Erfolgsstory lässt sich fortsetzen. München etwa: Vor zehn Jahren war die TUM nur ein guter Campus, heute ist sie Europas Hotspot der TechStart-up-Szene mit Unicorn-Dichte und Kapital. In Paris wächst neben dem KI-Entwickler Mistral eine Armada von KI-Start-ups, die ganz selbstverständlich global denken und handeln. Mit NXAI aus Linz, Quantencomputern aus Innsbruck und einer wachsenden Deep-Tech-Achse mit Wien erhält Österreich plötzlich auch international Sichtbarkeit.
Noch im Herbst 2024 höhnte Palantir-Chef Alex Karp, die KI-Revolution sei eine rein amerikanische Angelegenheit – ein strategischer Vorteil so epochal wie die Atombombe. Europa, reguliert und blutleer, werde zuschauen. Heute wirken Karps Worte uralt. Seit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf dem Pariser KI-Gipfel die europäische KI-Agenda ausrollte, treibt Brüssel den Bau eines Netzwerks von „AI Factories“ voran; für die fünf geplanten „AI Gigafactories“ gibt es 76 Bewerbungen. Gaia-X wirkt plötzlich nicht mehr wie ein Wolkenschloss, sondern wie das mögliche Rückgrat einer souveränen Datenwirtschaft, auf das selbst US-Konzerne ein Auge werfen. Auch das Kapital verschiebt seine Achse. Blackstone plant, 500 Milliarden Dollar in Europa zu investieren, Nvidia steigt beim MistralCluster ein – selbst die Chip-Könige wetten nun auf Europa. Hinter der Entscheidung steht kein Idealismus, sondern Geopolitik: Abschottungstendenzen in Washington, Zölle, Exportkontrollen und eine Präsidentenwahl, die vieles unplanbar macht.
Stabilität ist das neue Wachstum, und sie wohnt derzeit diesseits des Atlantiks; Europas Stabilität wird zur verlässlichen Konstante in einer zunehmend unberechenbaren Welt.
Natürlich gibt es noch viel zu tun. Die Fragmentierung der EU-Finanzmärkte bremst Skaleneffekte. Regulierungen sollten mit Leitplanken für mehr Klarheit sorgen und Prozesse beschleunigen, statt wie aktuell zu verlangsamen oder gar zu verhindern. Doch erstmals seit Langem überwiegt Zuversicht statt Sorgenfalten. Gründer mit Exit-Erfahrung gründen erneut, Talente aus Big Tech wechseln von Austin nach Alicante und Investitionszusagen werden schneller erteilt, als man „Amtssprache“ sagen kann. Wenn wir dieses Momentum nutzen wollen, müssen wir jetzt handeln. Erstens: „Buy European“ darf kein Lippenbekenntnis bleiben. Die USA und China hegen und pflegen ihre nationalen Champions – Europa muss lernen, dasselbe zu tun. Zweitens: Kapitalströme bündeln. Ein kontinentweiter Tech-Fonds, gespeist aus Pensions- und Staatskassen, könnte Milliarden intelligent in Skalierung und Infrastruktur lenken. Drittens: Ökosysteme vernetzen. Wenn Paris, München, Barcelona und Wien ihre Netzwerke und Talente verbinden, entsteht aus vielen Leuchttürmen ein durchgehender Lichtteppich – das dichteste Innovationsnetz und das größte Ökosystem, das Europa je gesehen hat.
Die gute Nachricht: Alles, was wir brauchen, ist bereits vorhanden – Kapital, Forschung, Talente, politischer Wille. Die noch bessere Nachricht: Der Rest der Welt erkennt das erst jetzt. Wenn Europa seine Chancen nutzt, schreibt es ein neues Kapitel der Wirtschaftsgeschichte. Wer abwartet, wird in ein paar Jahren feststellen, dass die Jahrhundertchance längst da war – und er sie nicht kommen sah.
Zur Person
Gerhard Kürner ist CEO des KI-Technologieunternehmens 506.ai und Vice Chairman von AI Upper Austria.


Über die Autoren

Gerhard Kürner
Gerhard Kürner beschäftigt sich seit den 1980er Jahren mit digitalen Möglichkeiten. In den 1990er Jahren baute er eines der ersten Streaming-Angebote Österreichs auf und war anschließend 14 Jahre lang Head of Corporate Communication bei der voestalpine. Seit 2015 ist er an mehreren Unternehmen im Digitalbereich beteiligt. Im Jahr 2020 gründete er 506.ai, das mit CompanyGPT zu den führenden Unternehmen in der Anwendung von KI für regulatorische und administrative Aufgaben zählt.