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Politik Backstage: „Die ÖVP ist kaputt und führungslos“

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Bundeskanzler Christian Stocker vor österreichischen Flagge und EU-Flagge.
 © APA-Images/APA/Helmut Fohringer

Kanzler Stocker. Viele in der Partei hätten sich ein Machtwort in der Wirtschaftskammer-Debatte gewünscht.

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Wie nach dem Super-GAU in der Wirtschaftskammer auch Kanzler Christian Stocker in die Kritik kommt. Wer sich für wen im Mahrer-Nachfolgerennen starkmacht. Warum Wolfgang Hattmannsdorfer in der Regierung nun mehr denn je gefordert ist.

Gut zehn Tage nach seiner Bandscheibenoperation zeigte sich Christian Stocker erstmals wieder ÖVP-intern. Montag vor einer Woche nahm der Partei- und Regierungschef per Videoschaltung am ÖVP-internen „Wochenausblick“ teil. Die schwarz-türkisen Minister und die Spitzenleute in der Partei- sowie Klubführung suchen sich so regelmäßig für die absehbar wichtigsten Themen der kommenden Tage und Wochen auf eine gemeinsame Linie zu kalibrieren. Die Debatte um den Super-GAU in Sachen Gagen und Glaubwürdigkeit in der Wirtschaftskammer loderte bei dem Gespräch bereits seit einer Woche und stand nolens volens ganz oben auf der Agenda.

Christian Stocker kann auch drei Wochen nach seiner Operation noch nicht länger als fünfzehn Minuten halbwegs schmerzfrei sitzen. Danach ist Stehen oder Liegen angesagt. An eine gut 50-minütige Autofahrt von seinem Haus in Wiener Neustadt ins Kanzleramt ist weiterhin nicht zu denken, so der aktuelle Befund im ÖVP-Regierungsviertel. Als der Kanzler sich vorletzten Montag erstmals zum internen wöchentlichen ÖVP-Meeting zuschaltete, musste er sich nach der ersten Viertelstunde wieder ausklinken. 

In Sachen Kammer-GAU ließ der Partei- und Regierungschef die Runde lediglich extra dry wissen: Er gehe davon aus, dass Harald Mahrer und die Wirtschaftskammer-Spitzen die knifflige Causa lösen werden. Erst hinterher erfuhr er, dass es danach noch heiß herging. Klaudia Tanner, Verteidigungsministerin und stramme niederösterreichische Parteisoldatin, ritt im Verlauf der Sitzung eine massive Attacke gegen Harald Mahrer und seinen Umgang mit der Causa. Damit sei der Kraftakt der Regierung beim Aufschnüren der Beamtengehaltserhöhung und des Deckels bei den Pensionserhöhungen total konterkariert worden. 

ÖVP-Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmannsdorfer und Wirtschaftsbund-Generalsekretär Kurt Egger, die zur Verteidigung Mahrers ausrückten, vermochten den Unmut nicht zu dämpfen. Tanner, keine Freundin leiser Worte, „hat sich richtig ausgeschimpft. Da ist es heftig wie schon lange nicht mehr zugegangen“, so ein ÖVP-Mann.

Drei Tage später war die Ära Mahrer in Kammer und Partei Geschichte. „Mit seinem fatalen Krisenmanagement und seinem beleidigten Abschiedsvideo hat er uns alle noch weiter hinuntergezogen“, resümiert ein hochrangiger Wirtschaftsbündler. In die Kritik mischt sich bei manchen freilich auch Bedauern. Mit Mahrer sei einer „der letzten intellektuell anspruchsvollen und mit einem Zug zum Tor ausgestatteten Politiker” in der jetzigen ÖVP-Führung gegangen, so der Tenor jener, die dem zugleich wendigen und schillernden 52-Jährigen nachweinen.

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ÖVP-Führungsversagen wird zum Bumerang

Sein Abgang habe zudem grell sichtbar gemacht, „wie kaputt die ÖVP ist“, so ein ÖVP-Insider: „So einen Zustand haben wir noch nie gehabt: Einen schwachen Bund und schwache Länder. Eine einmalige Führungslosigkeit und eine Zerrissenheit in Partikularinteressen wie nie zuvor.“

Der ÖVP-Chef hatte nach Ausbruch des Desasters bis zu Mahrers Abgang nicht nur öffentlich kein Wort gesagt, sondern hatte auch intern signalisiert: Er sehe keinen Grund, sich in Kammerangelegenheiten einzumischen. Zumal der Kammerchef auch ihm gegenüber immer loyal gewesen sei.

Eine sehr persönliche Sichtweise. Denn angesichts des Scherbenhaufens, den Mahrer & Co. weit über die Kammer hinaus angerichtet hatten, hätten sich nicht nur in der ÖVP viele ein Machtwort des Parteichefs gewünscht. „Wenn ein Vorstandschef so argumentieren würde, nachdem ein Vorstandskollege gerade die ganze Firma derart in Misskredit gebracht hat, würde er zu Recht auch seinen eigenen Job riskieren“, resümiert ein ÖVP-Insider ernüchtert.

Wäre Christian Stocker nicht gerade rekonvaleszent, würde nur noch ein Funke genügen, um eine Obmanndebatte zu entfachen. In der SPÖ wird der schwarz-türkise Flächenbrand von Spitzenfunktionären noch dramatischer gesehen: „Das alles erinnert mich an den Bawag-Skandal, als bei uns in Gewerkschaft und Partei alles den Bach hinunterzugehen schien.“ Der Mitwisser und Mitverantwortliche der milliardenschweren Spekulationsgeschäfte in der Gewerkschaftsbank, der damalige ÖGB-Chef Fritz Verzetnitsch, musste über Nacht gehen. Gewerkschafter wurden von den SPÖ-Listen verbannt, der spätere Sozialminister Rudolf Hundstorfer als Troubleshooter an der ÖGB-Spitze installiert. Dennoch schaffte die SPÖ trotz des mitten in einem Wahljahr enthüllten Milliardendebakels zur eigenen Überraschung nach sieben harten Jahren auf der Oppositionsbank den Sprung zurück in eine Regierung, mit nur leichten Stimmverlusten.

Die ÖVP präsentiert sich drei Wochen nach Ausbruch des existenzgefährdenden schwarzen Kammerskandals vollständig ratlos. An Mahrers Stelle wurde mit Martha Schultz eine Top-unternehmerin und erfahrene Funktionärin installiert, die nur bleiben will, bis eine Dauerlösung gefunden ist. Wer wann wie eine große Kammerreform liefern soll, bleibt so weiterhin offen.

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Tanja Graf

Die Salzburgerin Tanja Graf wird für die mögliche Nachfolge von Harald Mahrer an der Spitze der Wirtschaftskammer kolportiert.

 © WB Salzburg

Neue Präsidentschafts­kandidaten

Die Namensliste möglicher künftiger Kammerchefs wird dieser Tage von Kennern des Wirtschaftsbund-Innenlebens um zwei Namen erweitert. Beide bringen nicht nur als Unternehmer und Nationalratsabgeordnete die nötige Erfahrung aus beiden Welten mit, sondern wären mit 50 im richtigen Alter für eine längerfristige Lösung.

Die Salzburgerin Tanja Graf hat ein mit 1.200 Mitarbeitern respektables eigenes Unternehmen in der Leihpersonal-Branche aufgebaut. Im Parlament etablierte sie sich als Energiesprecherin der Fraktion. Im Wirtschaftsbund und in der Kammer in Salzburg ist sie auf zweiter und dritter Ebene mehrfach verankert.

Der Wiener Andreas Ottenschläger fungiert in der familieneigenen Bauträgergesellschaft Deba seit bald zwei Jahrzehnten als Geschäftsführer. Er sitzt seit 2013 im Nationalrat, unter anderem als ÖVP-Verkehrssprecher. Seit Anfang des Jahres ist er Finanzsprecher der Fraktion. In der ÖVP ist er zudem seit 2017 als Finanzreferent für die Parteikassa der Bundes-ÖVP verantwortlich.

Das Personalkarussell in der Mahrer-Nachfolge hat freilich noch nicht Fahrt aufgenommen, weil innerhalb der Kurfürsten, der neun Landeskammer-Präsidenten, noch um das richtige Profil für das neue Gesicht an der Kammerspitze gerungen wird. Eine Gruppe, angeführt von Wiens Kammerpräsident Walter Ruck, will die WKÖ weitaus klarer als Unternehmer-Kammer positionieren und dort keinen Politiker mehr installiert wissen. Eine andere Gruppe rund um den NÖ-Kammerpräsidenten Wolfgang Ecker und die NÖ-ÖVP hat bei der Wahl des Mahrer-Nachfolgers primär dessen Wirtschaftsbund-Funktion als ÖVP-Machtfaktor im Auge. Die machtbewusste Truppe um Johanna Mikl-Leitner will daher einen ihr genehmen gestandenen Politiker als Mahrer-Erben. 

Ein möglicher Kompromiss in diesem internen Tauziehen könnte ein Funktionssplitting sein: an der Kammerspitze jemand mit dem von Ruck & Co. gewünschten scharfen Unternehmerprofil, an der Wirtschaftsbundspitze jemand aus der Unternehmerwelt mit starken ÖVP-Wurzeln.

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Andreas Ottenschläger

Auch der Wiener Andreas Ottenschläger wird für die Spitze der Wirtschaftskammer kolportiert.

 © ÖVP Wien

Hattmannsdorfer sucht Schulterschluss mit Gewerkschaft

Für keine der beiden Funktionen ernsthaft im Rennen ist der medial mehrfach als möglicher Mahrer-Erbe genannte Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmannsdorfer. Der oberösterreichische Ex-Landesrat hat intern eindeutig signalisiert, dass er sich mehr denn je auf seine neue Rolle als Anwalt der Wirtschaft in der Regierung konzentrieren will. Da beim diskreten Interessenabtausch zwischen Wirtschaft und Gewerkschaft ein Spitzenplayer über Nacht weggefallen ist, wird der erfolgshungrige Jungminister in den kommenden Wochen noch mehr gefordert sein.

Der schillernde WKÖ-Chef Harald Mahrer und der erdige ÖGB-Chef Wolfgang Katzian haben trotz oder wegen ihrer höchst unterschiedlichen Charaktere eine tragfähige gemeinsame Ebene gefunden, berichten teilnehmende Beobachter. Hattmannsdorfer, sagen Kenner, pflegt seit seinen Jahren in der oberösterreichischen Landespolitik bewusst gute Kontakte zu den Gewerkschaften, vor allem auch auf Betriebsratsebene.

Mitte Oktober formierte sich eine Industrieallianz, die in offenen Briefen an den Kanzler und die Regierung für mehr Augenmaß bei der Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen mobil machte, um die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Betriebe zu sichern. Unterzeichnet waren die Briefe sowohl von den Firmen- als auch von den Betriebsratschefs von Topunternehmen wie voestalpine, AMAG, RHI, Wienerberger, Sappi, Zellstoff Pöls und anderen mehr. Hauptanliegen der „Plattform Energieintensive Industrie“ und „Industrieallianz“: Die Regierung muss auf EU-Ebene Druck für eine Verlängerung der CO2-Gratiszertifikate machen. Laut den derzeitigen EU-Plänen müssen Betriebe, die in einem Stufenmodell zwischen 2026 und 2034 die Annäherung an das EU-Ziel einer Nullemission nicht schaffen, entsprechende CO2-Zertifikate bald ersatzweise zukaufen. Ein Zeithorizont, den die Industrie- und Betriebsratschefs unisono für „unrealistisch“ halten.

Auf eine ähnlich breite Achse setzt der Wirtschaftsminister, dem mit Mahrer über Nacht ein wichtiger Verbündeter abhandengekommen ist, nun auch mehr denn je bei der Erarbeitung der Industriestrategie. In seinen Tagesmappen liegt ein Papier, das im Regierungsviertel wie ein Geheimdienst-Dossier gehandelt wird. Es ist ähnlich wie das Regierungsabkommen in unterschiedlichen Farben markiert, die den Ergebnisstand dokumentieren. Das bereits breit dominierende Grün steht für Konsens, Orange für Themen, die noch auf ihre Vereinbarkeiten mit dem EU-Recht abgeklärt werden müssen. Rot signalisiert „mehr offene Fragen denn tatsächlichen Dissens“, so einer der Autoren des Papiers.

Die „Chefredakteure“ der Industriestrategie – ÖVP-Mann Hattmannsdorfer, SPÖ-Infrastrukturminister Peter Hanke und Neos-Staatssekretär Sepp Schellhorn – ziehen bei der Endredaktion weitgehend an einem Strang, heißt es aus allen drei Lagern. Für Bremsmanöver werden da und dort noch Gewerkschaftskreise verantwortlich gemacht. 

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Wirtschaftsminister Hattmannsdorfer mit voestalpine-Chef Herbert Eibensteiner auf Geländer der voestalpine

Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmannsdorfer (links) muss die Kastanien aus dem Feuer holen. Seine neue Rolle: Anwalt der Wirtschaft (im Bild mit voestalpine-Chef Herbert Eibensteiner).

 © APA-Images/fotokerschi/Werner Kerschbaummayr

Erster D-Day für Reformfähigkeit: 3. Dezember

Damit es freilich nicht bei gut gemeinten Wünschen bleibt, ist im Finale vor allem der Finanzminister noch intensiv gefragt. Denn der Wunsch, neue Schwerpunkte bei der Förderung für Schlüsseltechnologien wie AI oder Quantencomputing festzuschreiben, ist das eine. Die Umschichtung oder gar mehr Fördergelder sind das andere. 

Noch vor der geplanten Präsentation der Industriestrategie bei einer Regierungsklausur im kommenden Jänner steht ein zeitnaher D-Day dicker denn je auch im Kalender des Wirtschaftsministers: Die Ministerratssitzung am 3. Dezember soll allein der Abschaffung von Vorschriften, Gesetzen und Verordnungen gewidmet sein. Das Datum ist vor allem eine Feuerprobe für den pinken Deregulierungsstaatssekretär Schellhorn, aber auch für Wirtschaftsminister Hattmannsdorfer.

Beide harmonieren nach anfänglicher Skepsis auf beiden Seiten schon seit Monaten besser als erwartet. Beide wissen, sie müssen angesichts schlechter Wirtschaftsprognosen und noch schlechterer Stimmung in vielen Unternehmen liefern. Schellhorn will zuvorderst mit Verwaltungsvereinfachungen wie etwa der Verlängerung der Prüfintervalle für die Autoplakette von ein auf zwei Jahre breit punkten. Hattmannsdorfer hat vor allen die Vereinfachung von Genehmigungsverfahren auf der To-do-Liste: So will er etwa bis zu einer bestimmten Größe E-Ladestationen und Photovoltaikanlagen genehmigungsfrei stellen.

Bei einem ganz anders gelagerten Prestigeanliegen, das Harald Mahrer wegen großen Widerstands aus dem ÖGB unerledigt hinterlassen musste, dürfte auch der ÖVP-Wirtschaftsminister trotz seiner intensiv gepflegten Achse zu Betriebsräten und Gewerkschaft auf Granit beißen. Der Plan, angesichts des Fachkräftemangels Pensionisten künftig mit einer Flat Tax von 25 Prozent vermehrt zur Weiterarbeit zu motivieren, ist so gut wie tot. „Wir können uns maximal einen Steuerabsetzbetrag zwischen 500 und 1.000 Euro vorstellen“, sagt ein SPÖ-Verhandler. Sprich: Die ersten fünfhundert bis tausend Euro als Zuverdienst werden steuerfrei gestellt, der Rest bleibt wie bisher steuer- und sozialversicherungspflichtig.  

Die schwarz-rote Koalition in Deutschland unter Friedrich Merz, die eine ähnlich durchwachsene Nachrede wie der Dreibund in Österreich hat, entschied sich dieser Tage für einen couragierteren Kompromiss: Die künftige „Aktivrente“ stellt ab 2026 mit 2.000 Euro einen doppelt so hohen Betrag an monatlichem Zusatzeinkommen vollkommen abgabenfrei. 

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