
Konzentriert sich auf KTM und die Produktion im Innviertel: KTM CEO Gottfried Neumeister.
©FOTO: LUKAS ILGNERMit der Verlagerung der Produktion von GasGas ins Innviertel will KTM CEO Gottfried Neumeister „Kompetenzen im Stammwerk Mattighofen bündeln". Bereits im großen trend-Interview hat sich der Manager über die Zukunft der Innviertler Motorradschmiede unter nunmehr indischem Haupteigentümer geäußert.
TREND: Stefan Pierer hat Sie Anfang 2024 als seinen Nachfolger bei KTM angeworben. Angetreten sind Sie Anfang September. Wussten Sie da schon, worauf Sie sich einließen?
NEUMEISTER: Beim Handshake kannte ich nur die Rekordzahlen aus 2023. Unmittelbar vor meinem Start wurden im August 2024 die Halbjahreszahlen veröffentlicht, die bereits deutliche Alarmsignale enthielten, obwohl das alte Management versuchte, zu beschwichtigen. Es hat noch einmal sechs bis acht Wochen gedauert, bis sich dieses Bild verfestigt hat.
Ende November war das Unternehmen insolvent. Sie haben zu Pierer nie gesagt: „Halt, so war das nicht ausgemacht, ich gehe wieder“? Das ursprüngliche Briefing war, eine Transition von einem eigentümer- zu einem managementgeführten Unternehmen durchzuführen. Und mit dieser Einstellung bin ich auch zu KTM gekommen. Aber nein, Davonlaufen war keine Option. Ich bin ein Mensch, der immer den Blick nach vorne richtet.
Sie haben in Ihrem Berufsleben vor allem gegründet und aufgebaut, aber nicht saniert oder restrukturiert. Wie dramatisch war die Situation? Das stimmt nicht ganz. Klar war ich zeit meines Lebens jemand, der Unternehmen aufgebaut und größer gemacht hat. Bei Do&Co waren es Küchen von Los Angeles bis nach Seoul. Corona hat uns damals hart getroffen: 89 Prozent Umsatzeinbruch waren die Folge. Wir mussten über 5.000 Mitarbeiter in 21 Ländern abbauen. Auch das war ein Überlebenskampf. Es ging darum, das Unternehmen, das bis dahin von Wachstum geprägt war, in eine gesunde Größe zu bringen. Heute steht Do&Co besser da als je zuvor. Sanieren heißt in erster Linie, genau zu wissen, wie man ein gesundes Unternehmen aufstellt. Bei KTM war die Situation letztendlich noch dramatischer. Das volle Ausmaß der Schieflage hatte ich nach acht Wochen aufgedeckt. Hätten wir nur zwei Tage später Insolvenz angemeldet, hätten wir nicht mehr genug Geld gehabt, um die 90 Tage in Eigenverwaltung durchzustehen. Es wäre gleich zu einem Konkurs und einer Zerschlagung gekommen.
Dann kam der zweite Produktionsstopp. Klar, das war die Folge davon, dass wir 90 Tage nicht produziert hatten. Dann ging es noch einmal um 1.200 Mitarbeiter. Ich habe mich dann quasi auf eine Bananenkiste gestellt und zu allen Mitarbeitern gesprochen: „Wir können jetzt als Orange Family zusammenstehen. Wenn wir das tun und alle auf 20 Prozent unseres Gehalts verzichten, dann können wir alle 1.200 auf der Payroll behalten. Das muss aber für drei Monate sein.“ Alle waren zunächst dafür, und auch Sozialpartner, Gewerkschafter usw. haben mitgemacht – wirklich beeindruckend. Nach drei Monaten kam aber dann die erste Alleinerzieherin zu mir und hat gesagt: „Ich kann zwar noch immer meine Wohnung und mein Auto zahlen. Aber die paar Hundert Euro, die ich mir weggelegt habe, damit ich mein Kind auf das Sommercamp schicken kann, die habe ich nicht mehr.“ Glauben Sie mir, das war eine sehr emotionale Phase, eine Hochschaubahn der Gefühle.
Es gibt dieses schaurige Video von Ihnen und Pierer am Tag der Insolvenz. Haben Sie noch einen Draht zu ihm? Pierers Lebensleistung bei KTM ist unbestritten. Irgendwann haben wir jedoch gesagt: Wenn einer das Segel in der Hand hat und der andere das Ruder, dann droht das Schiffzu kentern. Er selbst hat Anfang 2025 persönlich die Konsequenzen gezogen und ist aus dem Vorstand der KTM AG und auch der Pierer Mobility AG ausgeschieden. Und seither versuche ich, ein eigenes Team aufzubauen. Das ist mir auch gelungen.
Der Unternehmer und Investor Stephan Zöchling hat im Dezember mit einem 65-Millionen-Investment KTM gerettet und ist dennoch nicht mehr an Bord. Warum? Das müssen Sie ihn selbst fragen. Aber er hat in einer entscheidenden Phase – ebenfalls sehr mutig – dem Unternehmen oder in erster Linie einer Gesellschaft von Stefan Pierer Geld zur Verfügung gestellt und sich dafür ausbedungen, dass er Aufsichtsratschef wird. Ohne ihn würde es KTM heute nicht mehr geben. Das Geld wurde zurückgezahlt, und somit ist Zöchling auch wieder aus dem Aufsichtsrat ausgeschieden. Ich bin mir sicher, auch er wird lebenslang ein Fan von KTM bleiben.
Der starke Mann ist nun der Inder Rajiv Bajaj, langjähriger KTM-Partner und bald auch formell 75-ProzentEigentümer. Er hat neulich – nicht explizit auf KTM gemünzt – gemeint: „Die europäische Produktion ist tot.“ War das klug? Ich habe einen sehr guten und auch persönlichen Draht zu Rajiv Bajaj. Für mich war das in erster Linie eine sehr pointierte Aussage.
Sie untertreiben. Es war ein provokanter Weckruf. Ich glaube, er war nicht der Erste damit. Auch Mario Draghi hat jüngst eine Brandrede zu Europa gehalten. Dieser Weckruf bedeutet, dass wir auch in Österreich unsere Prozesse effizienter gestalten und unsere Kosten in den Griff bekommen müssen.
Im Lagebericht Ihrer F&E-Tochter steht: „Ziel ist, durch die Verlagerung von Entwicklungs- und Produktionsprozessen beiderseitig Synergien zu nutzen.“ Bajaj ist seit 18 Jahren unser Partner. Wir können sehr erfolgreich kleinere Modelle, unsere 125er Duke, unsere 390er, in Indien in einer sehr hohen Qualität zu kostengünstigen Preisen produzieren. Die KTM-Produktionen in Österreich, in Indien und in China ergänzen einander, statt sich auszuschließen. Heute kommt bereits rund jedes zweite Motorrad unserer Konzernmarken aus Asien, vornehmlich die Volumenmodelle im Einstiegsund Mittelklassesegment. Gleichzeitig bleiben die größeren Premium-Modelle und Rennmaschinen nach wie vor bei uns in Österreich in Produktion, ebenso wie der gesamte Bereich der Forschung und Entwicklung. Indem wir ausgewählte Modelle in Indien oder China fertigen, sichern wir die Wettbewerbsfähigkeit und damit langfristig auch Arbeitsplätze und die Fertigung in Österreich.
Also Modell Swarovski: Am Stammsitz in Österreich werden noch hochwertige Produktlinien gefertigt, es wird entwickelt und mit einem Museum – bei Ihnen die Motohall in Mattighofen – die Marke gepflegt. Aber die Volumenslinien wandern mehr und mehr ab. Österreich bleibt das Herz von KTM. Unsere Wurzeln liegen hier, die Expertise und das Knowhow unserer Mitarbeiter sind einzigartig. Von hier aus sind wir groß geworden. Langfristig wird viel davon abhängen, wie sich die Rahmenbedingungen entwickeln. Wenn es uns gemeinsam – Unternehmen und Politik – gelingt, Europa wieder wettbewerbsfähiger zu machen, dann hat Produktion in Österreich auch künftig ihre Berechtigung. Ich werde jedenfalls alles daransetzen, Know-how und Wertschöpfung im Land zu halten, so weit es wirtschaftlich darstellbar ist.
Um für die Zukunft gut aufgestellt zu sein, müssen Sie die Fehler der Vergangenheit genau benennen können. Ihr Resümee? Wir haben uns in den letzten Jahren sicher auch mit Nebengeräuschen verzettelt, dem Fahrradgeschäft, verlustreichen Beteiligungen wie MV Agusta. Wir fokussieren jetzt wieder auf unser Kerngeschäft Motorrad. Aber da wollen wir unsere Produktpalette vereinfachen. Es gab einmal 84 Enduro- und MotocrossModelle im gesamten Konzern! Inzwischen sind wir bei 41.
Die Krise wurde anfangs mit Standortfaktoren begründet. De facto war es großes Managementversagen, oder? Ich möchte gar nicht urteilen. Aber ja, es gab Managementfehler, und ich finde, man muss selbstkritisch sein, weil sonst kann man gar nicht aus einer Krise lernen. Das Management hat selbst persönlich die Konsequenzen daraus gezogen. Für uns ist wichtig, dass wir den Kunden wieder in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen die Produktionsplanung in Zukunft wieder strikt nach der Marktnachfrage ausrichten.
Wie ist es möglich, dass ein ganzer Jahresbedarf an KTMs – 270.000 Bikes – auf Halde lag, also wie wild fürs Lager produziert wurde? KTM hat über Jahrzehnte das Ziel verfolgt, der Beste zu sein. Leider ist man von diesem Ziel in den letzten Jahren ein wenig abgekommen. Das Ziel, der Größte sein zu wollen, ist in den Vordergrund gerückt. Und es ist ja auch gelungen, für eine Zeit der größte Motorradhersteller Europas zu werden. Aber diesem Ziel wurden leider viele andere Dinge untergeordnet: Man hat den Kunden und die Qualität vernachlässigt. Zahlungsziele von bis zu 360 Tagen haben das Unternehmen in eine finanzielle Schieflage gebracht.
Mit dem Lagerbestand in den USA können Sie ja den Trump-Zöllen entgehen. Sie sehen mich jetzt lächeln. Ja, das hilft, ist aber natürlich kurzfristig. Zu der selbstund hausgemachten Krise, die ich vorgefunden habe, kommt aktuell global einiges an Herausforderungen auf uns zu. Denn die von Ihnen angesprochenen Zölle führen auch zu Rezessionsängsten und zur Kaufzurückhaltung.
Wie ist die Aussicht für die nächsten Monate? Die nächsten drei bis sechs Monate werden bestimmt noch holprig werden. Es wäre illusorisch, zu glauben, dass man hier einfach
durchsegeln kann. Irgendwann wird ein Lieferant dann sagen, ich habe jetzt statt 9.000 Stück nur 6.000 Stück. Dann muss ich trotzdem darauf reagieren und vielleicht das eine Modell vorziehen und das andere zurückstellen. Es ist einfach Teil dieser Transformation, dass wir auch nächstes Jahr noch einschichtig fahren. Wenn man so viel Betriebsleistung herausnimmt, kann man seine Fixkosten nicht verdienen. Das heißt, nächstes Jahr werden wir nicht positiv sein. Dafür soll 2027 nicht nur Cashflow-positiv sein, sondern wir wollen auch ein positives EBIT erwirtschaften.
Behalten Sie Husqvarna und GasGas? Ja. Die Frage ist, in welcher Größe und in welchem Segment. Man muss, glaube ich, ganz genau analysieren: Hat die eine Marke der anderen vielleicht auch Geschäft weggenommen und sie kannibalisiert? Aber im Moment wird sicher an diesen drei Marken festgehalten. Das Hauptaugenmerk liegt allerdings auf KTM.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang die aktuelle Produktionsverlagerung von GasGas nach Mattighofen? (1)
Wir bündeln damit unsere Kompetenzen im Stammwerk Mattighofen. So können wir unsere Produktionsprozesse weiter optimieren und die Effizienz im gesamten Unternehmen steigern.
Das Orange bleibt – bleibt auch „Ready to Race“? Selbstverständlich. Motorsport ist Teil unserer DNA. Pit Beirer und sein Team machen einen unglaublichen Job. Wir haben in der Zeit der größten Krise die Dakar-Rallye gewonnen, das war ein Nordstern. Wir haben die Konstrukteursweltmeisterschaft in der 250er-Straßenweltmeisterschaft (Moto 3) bereits gewonnen. Simon Längenfelder wurde soeben Motocross-Weltmeister in der 250er-Klasse, wo wir mit KTM und Husqvarna die ersten vier Plätze belegen. Hinzu kommen noch weitere Enduro- und Hard-Enduro-WM-Titel.
Wie weit ist der 15-köpfige Kunden-Aufsichtsrat, den Sie angekündigt haben? Es gab 5.000 Bewerbungen, und vor Kurzem hatten wir in Mattighofen die erste Sitzung. Da waren KTM-Fans von Australien bis Los Angeles da, einige sind mit dem Motorrad von Schottland oder der Türkei ins Innviertel gekommen, als sie erfahren haben, dass sie ausgewählt wurden. Wir haben alle Türen geöffnet, haben unser Herz offengelegt, unsere Entwicklung gezeigt, haben neue Prototypen zur Verfügung gestellt. Ganz klar, wir wollen wieder die Besten sein und die Kunden wieder ins Zentrum stellen.
Sie selbst fahren seit einem Jahr jeden Montag um 5.30 von Wien ins Innviertel und am Freitag wieder zurück, haben kaum Urlaub gemacht. Wie geht das? Autopilot? Es ist auch ein wenig Autopilot dabei. Natürlich war und ist es enorm viel. Aus dem früheren sechsköpfigen Vorstand ist über Nacht ein zweiköpfiger geworden, viele Führungskräfte haben direkt an mich berichtet. Mein Fokus liegt darauf, KTM gemeinsam mit meinem Team wieder auf nachhaltigen Erfolgskurs zu bringen. Wir haben gerade mit Petra Preining eine sehr erfahrene CFO in den Vorstand geholt und sie bis Ende 2028 bestellt. Dieses langfristige Engagement zeigt, dass wir als Unternehmen strategisch in die Zukunft planen und KTM personell wie strukturell für die kommenden Jahre rüsten.
Sie haben für Niki Lauda und Attila Dogudan gearbeitet. Was kann man von ihnen für solche Situationen lernen? In Summe waren es 15 Jahre gemeinsam mit Niki Lauda und zwölf mit Attila Dogudan, die meisten davon in einem Zweiervorstand. Niki war geprägt von einer unfassbaren Analysefähigkeit und Schärfe, auch der Fähigkeit, komplizierte Dinge in einfache Worte zu fassen. Er hat immer gesagt: Wenn du etwas nicht in einfache Worte fassen kannst, hast du es selbst nicht verstanden. Seine Analysefähigkeit hat dazu geführt, dass er immer Schwächen aufgedeckt und alle um ihn herum angetrieben hat, sich zu verbessern. Attila ist für mich einer der herausragendsten Unternehmerpersönlichkeiten des Landes. Er vereint für mich Intellekt, Mut und Fleiß. Und gerade die letzte Komponente ist eine immer seltener werdende, denn es gibt viele gescheite Menschen, aber nur wenige, die auch fleißig sind. Die meisten wollen es sich so richten, dass sie nicht so viel arbeiten müssen. Attila arbeitet Tag und Nacht, geht keine Kompromisse ein, und zwar in positivem Sinn, wenn es um Qualität geht.
Haben Sie sich schon das Vertrauen der Innviertler erarbeitet, eines besonders stolzen Völkchens? Ich hoffe es. Also, ich war natürlich am Anfang der „Zuagraste“, meine Antwort darauf war, mir mit Demut und Fleiß Respekt zu erarbeiten. Die kleinen Erfolge, die wir jetzt Schritt für Schritt sehen – von der Stabilisierung der Finanzen bis zum Wiederhochlauf der Produktion –, verdanken wir der gemeinsamen Anstrengung aller bei KTM. Und deswegen gilt mein Dank der gesamten Belegschaft und unseren Händlern, die es möglich gemacht haben, durch diese Krise zu kommen.
ZUR PERSON. GOTTFRIED NEUMEISTER, 48, gründete gemeinsam mit Niki Lauda 2003 flyniki und war ab 2012 in Attila Dogudans Do&Co. tätig. Im September 2024 trat er als Co-CEO an der Seite von Stefan Pierer bei KTM an, am 23. Jänner 2025 übernahm er den alleinigen Vorsitz.
Das Interview erschien erstmals in der trend.PREMIUM-Ausgabe vom 26. September 2025.
(1) Diese Frage wurde am 22. Oktober aktualisiert.