
Eine weithin unbeachtete Kurve hat den österreichischen Aktienmarkt nach oben getrieben.
von
Zinsstrukturkurve
Die größten Marktschwankungen werden von den unbemerkten Faktoren verursacht. Diese schlichte Tatsache hat sich in meiner über 50-jährigen Karriere als Vermögensverwalter immer wieder bestätigt.
Aktuell schwelt eine große, weitgehend übersehene bullishe Kraft: Die globale Zinsstrukturkurve steigt gerade still und heimlich an.
Zinsstrukturkurven stellen die Zinsen für Staatsanleihen von drei Monaten bis zehn Jahre Laufzeit dar. Wenn langfristige Zinsen die kurzfristigen Zinsen dabei übersteigen, steigt diese Kurve – steil und historisch gesehen bullish – an. Ist es umgekehrt, ist die Kurve invers – eine (wenn auch nicht perfekte) Rezessionswarnung. Warum? Sie sagt gewöhnlich die Zukunft von Kreditvergaben durch Banken voraus.
Letztere nutzen kurzfristige Einlagen zur Finanzierung langfristiger Kredite und kassieren die Differenz. Steile Kurven bedeuten also höhere Gewinne. Wenn Kreditgewinne steigen, vergeben Banken bereitwillig Kredite und kurbeln das Wachstum an. Inverse Kurven schmälern die Rentabilität, bremsen Kredite und auch das BIP.
Jahrzehntelang war die Zinsstrukturkurve ein verlässlicher Indikator. Daher wurde sie auch fleißig beobachtet, besonders in den USA. Aber ähnlich wie bei der Annahme, dass ein Armaturenbrett im Auto immer die ganze Wirklichkeit zeigt, ignorierten viele dabei das eigentliche Geschehen „unter der Haube“ – im vorliegenden Fall also die Kreditvergabe selbst. Die Kurve funktionierte also, bis sie versagte.
Defekte Kurve
Nach der Korrektur des globalen Aktienmarktes 2022 und einhergehend mit einer starken Baisse für den ATX drehten die globalen Zinsstrukturkurven. Die Rezessionsängste wuchsen! Und dennoch wurden mehr Kredite vergeben. Österreich und Deutschland durchlebten in den Jahren 2022 und 2023 eine Rezession und bildeten damit eine Ausnahme, denn das globale BIP und das BIP der USA wie auch das BIP der Eurozone wuchsen. Die Aktienkurse stiegen überraschend. Die Kurve blieb 2023 und großteils 2024 invertiert, wobei Aktien stiegen und auch die meisten Volkswirtschaften wachsen konnten. Bald betrachtete man die Zinsstrukturkurve somit als defekt und ignorierte sie.
Aber warum funktionierte sie jetzt plötzlich nicht mehr?
Insgeheim hielten Banken große Mengen teils extrem niedrig verzinster Einlagen aus der Covid-Ära. 2020 stiegen Bankeinlagen in den USA im Jahresvergleich um 20,8 Prozent, 2021 um weitere 11,7 Prozent, ebenso 2022 und 2023. Sichteinlagen in der Eurozone stiegen in beiden Jahren um 10,8 bzw. 5,2 Prozent. Diese Einlagen machten das Kreditgeschäft trotz 4,5 Prozent Zinsen der EZB profitabel.
Nun drehten Zinsstrukturkurven unbemerkt ins Positive und begünstigen die Kreditgewinne. Das liegt an kurzfristigen Zinssenkungen wie jenen der EZB und steigenden langfristigen Zinsen außerhalb Österreichs.
Globale Ströme
Geldströme fließen global zwischen unterschiedlich großen Volkswirtschaften, daher verwende ich eine BIPgewichtete globale Zinsstrukturkurve. Seit Juni drehte sie sich von minus 0,63 auf plus 0,55 Prozentpunkte – ein Anstieg bei Krediten von 1,18 Punkten. Das erklärt die jüngsten Trends.
Dies geschah größtenteils außerhalb der USA. Die US-Kurve verbesserte sich, bleibt aber mit 0,01 Punkten flach. Großbritannien drehte von minus 1,02 auf 0,4. Kontinentaleuropa verschob sich stärker, konkret von minus 0,57 auf 1,03. Österreich schwankte ähnlich, von minus 0,43 auf 1,05.
Aktien bestätigen den Trend: Der MSCI Europe bewegt sich Richtung Allzeithoch. Der ATX stieg seit Jahresbeginn um 27,4 Prozent. Beide führen 2025 die Weltmärkte an. Amerika hinkt hinterher.
Steilere Zinsstrukturkurven beflügeln Value-Aktien (die in Österreich und Europa häufig sind) stärker als Wachstumsaktien, wie sie in den USA dominieren. Europäische und österreichische Finanztitel – mit einem Plus von 25,9 bzw. 35,3 Prozent – führen 2025 das Feld leise an und lassen US-Techwerte mit minus 1,6 Prozent weit hinter sich. Warum? Der Wandel steigert die Bankgewinne. Europäische Value-Aktien aus dem Industriesektor – auch österreichische – liegen vorn. Mehr Kredite bedeuten mehr Kapital für Wachstum.
Die meisten ignorieren diese Kurve noch. Ihre Aufwärtsdynamik ist nicht vollständig in Aktienkursen eingepreist. Sie dürfte Europas und Österreichs Führung aber nachhaltig stärken.
Der Artikel ist in der trend.EDITION vom 8. August 2025 erschienen.
Über die Autoren

Ken Fisher
Kenneth Lawrence Fisher, geb. 1950, ist Investment-Analyst und einer der erfolgreichsten Investmentberater der USA. Er ist zudem Autor zahlreicher Bücher zu den Themen Wirtschaft und Finanzen. Fisher ist Gründer und Vorsitzender von Fisher Investments, einer Firma für Finanzberatung und Vermögensverwaltung mit Sitz in Camas, Washington.