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Digitale Hilfe bei Diabetes

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Alltag mit Diabetes. 
Für viele Menschen gehören Messen und Spritzen zur täglichen Routine. Neue Systeme erleichtern das Management deutlich.

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Von Echtzeit-Sensoren über KI-Vorhersagen bis zu metabolischem Coaching: wie smarte Systeme Betroffenen mehr Sicherheit und Selbstbestimmung geben.

Diabetes ist eine echte Volkskrankheit. Weltweit leiden 800 Millionen Menschen an Typ-1- oder Typ-2-Diabetes, in Österreich sind es rund 800.000 Personen. Und die Entwicklung geht weiter nach oben, wie die Zahlen zeigen: Von 1990 bis 2022 verdoppelte sich die Diabeteshäufigkeit sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Doch ebenso rasant entwickelt sich die Technologie, die Betroffenen den Alltag erleichtert. Früher bedeutete Diabetes, mehrmals täglich in den Finger zu stechen, Werte zu notieren, Insulin zu dosieren. Heute messen Sensoren Blutzuckerwerte im Minutentakt, Apps werten Daten aus, Künstliche Intelligenz warnt vor Unterzuckerungen. Aus einer chronischen Erkrankung, die früher ständige Kontrolle bedeutete, wird zunehmend ein digital gemanagter Gesundheitszustand. 

Den größten Sprung in der Diabetestherapie brachte die kontinuierliche Glukosemessung (CGM). Eines der bekanntesten Systeme kommt vom Gesundheitskonzern Abbott: das FreeStyle Libre. Weltweit nutzen mehr als sieben Millionen Menschen in über 60 Ländern diese Technologie, die den Blutzucker ohne Fingerstiche misst. Ein kleiner Sensor am Oberarm liefert rund um die Uhr Werte, die über eine App ausgelesen werden können. Die aktuellen Modelle, FreeStyle Libre 2+ und Libre 3+, übertragen Glukosewerte nun in Echtzeit und zeigen zusätzlich Trendpfeile, die anzeigen, ob der Blutzucker steigt oder fällt. Über die Plattform LibreView können Nutzer:innen ihre Daten mit Ärzt:innen oder Angehörigen teilen – ein wichtiger Schritt in Richtung digitale Betreuung.

„Das FreeStyle-Libre-System verändert das Leben von Menschen mit Diabetes jeden Tag. Es schenkt ihnen Freiheit, Selbstvertrauen und die Möglichkeit, ihr Leben wieder aktiv zu gestalten – ohne ständige Fingerstiche, ohne Unsicherheit“, sagt Martin Hochstöger, Geschäftsführer von Abbott Diabetes Care Österreich. Besonders die neuen Generationen ermöglichen eine nahtlose digitale Anbindung: Gesundheitsdaten werden automatisch geteilt, was Therapieentscheidungen vereinfacht und zusätzliche Sicherheit gibt. In Österreich übernehmen die Krankenkassen die Kosten bei Patient:innen mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes, sofern sie eine funktionelle Insulintherapie (Basis-Bolus oder Insulinpumpe) durchführen. 

Während Abbott mit dem FreeStyle Libre den Alltag vieler Menschen mit Diabetes positiv verändert hat, geht der Schweizer Konzern Roche nun den nächsten Schritt: Mit dem neuen Accu-Chek SmartGuide bringt das Unternehmen eine CGM-Lösung auf den Markt, die nicht nur misst, sondern auch voraussieht, was passieren wird.

Frühe Warnung.

Das System analysiert die Glukosewerte in Echtzeit und nutzt zusätzlich KI-gestützte Algorithmen, um die Entwicklung des Blutzuckers in den kommenden zwei Stunden vorherzusagen. Droht der Wert zu stark abzufallen, etwa in der Nacht, warnt das System frühzeitig. Besonders nächtliche Unterzuckerungen gelten laut Studien als gefährlich: Bei Menschen mit Typ-1-Diabetes unter 40 Jahren sind sie für bis zu fünf Prozent der Todesfälle verantwortlich.

Der Sensor wird am Oberarm getragen, ist wasserfest und sendet bis zu 14 Tage lang alle fünf Minuten aktuelle Werte an eine App. Diese kombiniert die Daten mit optionalen Angaben wie Mahlzeiten oder Insulindosen, erkennt Muster und erstellt Prognosen für mögliche Hypoglykämien. So entsteht ein Schritt von der reaktiven zur proaktiven Versorgung, Patient:innen können rechtzeitig handeln, statt nur zu reagieren.

„Accu-Chek SmartGuide unterstützt ein vorausschauendes Management der Erkrankung. Das ist nicht nur für Betroffene und Angehörige wichtig, sondern kann auch das Gesundheitssystem entlasten, denn ein gut eingestellter Blutzuckerspiegel verhindert Folgeerkrankungen wie Herz-, Leber- oder Nierenleiden“, betont Uta-Maria Ohndorf, Geschäftsführerin von Roche Diagnostics Österreich. Dass KI die Zukunft der Diagnostik verändert, davon ist Ohndorf überzeugt: „Künstliche Intelligenz ist für uns ein wichtiges Werkzeug, um medizinische Entscheidungen datenbasiert zu unterstützen. In der Diagnostik hilft sie, große Datenmengen schneller und zuverlässiger zu analysieren und relevante Muster zu erkennen. Entscheidend ist: KI erweitert die medizinische Expertise, sie ersetzt sie nicht“.

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KI-GESTÜTZTE ALGORITHMEN. Der neue Accu-Chek SmartGuide sorgt für kontinuierliche Glukosemessung mit Vorhersage.

Digitale Tools verändern nicht nur das Leben von Menschen mit einer bestehenden Diabetes-Diagnose. Auch in der Prävention spielt Technologie eine immer größere Rolle. Das Wiener Health-Tech-Start-up Hello Inside hat sich auf metabolische Gesundheit spezialisiert, also darauf, wie Ernährung, Bewegung, Stress und Schlaf den Blutzuckerspiegel beeinflussen.

Die Nutzer:innen tragen einen Glukosesensor, wie ihn auch Diabetiker:innen verwenden, und sehen in der Hello-Inside-App, wie der Körper im Alltag reagiert. „Man sieht in Echtzeit, was im Körper passiert, und bekommt dadurch ein Gefühl dafür, wie unterschiedlich Menschen auf dieselben Mahlzeiten oder Situationen reagieren“, erklärt Malina Schmidt, Senior Metabolic Health Expert bei Hello Inside.

Ziel sei es nicht, Vorgaben zu machen, sondern Bewusstsein zu schaffen. „Wir wollen, dass Menschen ihren Körper besser verstehen. Es geht darum, ungünstige Muster zu erkennen, daraus zu lernen und entsprechende Verhaltensweisen gezielt zu ändern“, sagt Schmidt.

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Metabolische Gesundheit. Malina Schmidt von Hello Inside zeigt, wie Echtzeitdaten helfen, den -eigenen Stoffwechsel besser zu verstehen.

Glukose-Tracking.

Auch Stress und Schlaf haben laut Schmidt einen messbaren Einfluss: „Wenn man schlecht geschlafen hat, reagiert der Körper anders auf Kohlenhydrate, das sieht man sofort an den Daten.“ Ein Schwerpunkt liegt auf Frauen und hormonellen Veränderungen. „Gerade in den Wechseljahren passiert sehr viel im Stoffwechsel. Viele merken, dass sich etwas verändert, können es aber nicht zuordnen. Hier kann Glukose-Tracking helfen, Zusammenhänge sichtbar zu machen“, erklärt Schmidt. Damit öffnet sich ein neues Feld zwischen Medizin, Prävention und Selbstmanagement. „Unser Ziel ist, Menschen zu befähigen, selbst Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen. Wenn man versteht, was im eigenen Körper passiert, kann man auch anders handeln“, so Schmidt. 

Während Unternehmen wie Abbott, Roche oder Hello Inside bereits zeigen, wie digitale Tools den Alltag von Patient:innen verändern, arbeitet die Forschung an der nächsten Generation der Diabetestherapie, einer, die auf Künstlicher Intelligenz und personalisierten Modellen beruht.

Im EU-geförderten Projekt MELISSA („Mobile Artificial Intelligence Solution for Diabetes Adaptive Care“) entwickeln Wissenschaftler:innen aus sieben Ländern eine Plattform, die Sensordaten, Lebensstilinformationen und Therapiedaten intelligent miteinander verknüpft. Das Besondere daran: KI soll nicht nur Muster erkennen, sondern individuelle Stoffwechselprozesse simulieren – ein sogenannter digitaler Zwilling des Patienten.

Dieser Zwilling kann künftig vorhersagen, wie sich Ernährung, Bewegung oder Insulindosen auf den Blutzucker auswirken, noch bevor etwas passiert. Ärzt:innen und Patient:innen könnten so Therapien im Voraus testen und Risiken minimieren – ein Paradigmenwechsel, weg von reaktiver Behandlung hin zu präventiver, datengetriebener Medizin. Damit geht MELISSA deutlich über die bisherigen Systeme hinaus: Statt nur Daten zu messen oder Trends zu zeigen, soll die Plattform verstehen, warum sie entstehen, und daraus adaptive Empfehlungen ableiten. Ein lernendes System also, das mit jeder neuen Messung präziser wird.

Neben der technologischen Innovation beschäftigt sich das Konsortium auch mit ethischen Fragen und Datenschutz. Denn wenn medizinische KI-Systeme klinische Entscheidungen unterstützen, braucht es transparente Algorithmen, nachvollziehbare Empfehlungen und klare Verantwortlichkeiten. Was MELISSA so zukunftsträchtig macht, ist der Gedanke, medizinische Versorgung als dynamischen Prozess zu denken, in dem Mensch und Maschine zusammenarbeiten. Eine Vision, die nicht nur das Diabetesmanagement, sondern das gesamte Gesundheitssystem verändern könnte.

„Digitale Therapieprogramme werden die Versorgung revolutionieren“

Diabetologie-Expertin Julia Mader erklärt, wie KI, automatisierte Systeme und neue Medikamente die Behandlung verändern.

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Forschung. Julia Mader ist Internistin und Diabetologin an der Medizinischen Universität Graz und Vorstandsmitglied der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG).

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Welche Potenziale und Grenzen sehen Sie bei digitalen Tools im Diabetes-Management?

Julia Mader

Digitale Technologien haben die Diabetesbehandlung enorm verändert. Kontinuierliche Glukosemessung und automatisierte Insulindosierung ermöglichen eine deutlich bessere Einstellung, weniger Hypo- und Hyperglykämien und damit mehr Lebensqualität. Daten sind für Patient:innen und Behandlungsteams in Echtzeit verfügbar und erlauben eine individuellere, datenbasierte Betreuung, auch telemedizinisch. So profitieren auch Menschen in ländlichen Regionen von der Expertise spezialisierter Zentren. Künstliche Intelligenz wird diese Entwicklung weiter vorantreiben, etwa durch Mustererkennung in Glukosedaten oder automatisierte Therapieanpassungen. Gleichzeitig müssen wir die Grenzen sehen: Nicht alle haben denselben Zugang, und Datenschutz, Interoperabilität und rechtliche Verantwortung sind noch ungelöst. 

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Was braucht es, damit moderne Technologien allen zugutekommen?

Julia Mader

Österreich hat im internationalen Vergleich gute Erstattungsrichtlinien, doch Innovation wird kaum gefördert. Neue Systeme müssen sich am günstigsten Produkt messen, was Investitionen bremst. Wir setzen uns derzeit dafür ein, automatisierte Insulindosierungssysteme mit Patchpumpen in die Regelerstattung zu bringen. Sie sind besonders für Kinder und Jugendliche wichtig, gelten aber offiziell nur als Komfortlösung. Auch flexible Erstattungsmodelle wären nötig, etwa Zuzahlungen zu moderneren Therapien oder Mietmodelle statt sechsjährige Bindungen. Zudem brauchen wir digitale Ausbildung für Fachpersonal und Patient:innen sowie Anreize für Telemedizin und Datenanalysen.

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Welche Rolle spielt Prävention? 

Julia Mader

Prädiabetes ist eine stille Epidemie. Wir brauchen eine nationale Strategie zur Früherkennung: Screening beim Hausarzt, bessere Erstattung von Beratungsgesprächen und digitale Präventionsprogramme, die Bewegung, Ernährung und Gewichtsreduktion unterstützen. Die ÖDG kann hier Standards entwickeln, Angebote zertifizieren und den Dialog mit Krankenkassen und Politik vorantreiben.

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Ihr Ausblick? 

Julia Mader

In den nächsten Jahren werden KI--gestützte Closed-Loop-Systeme Standard werden, Stammzelltherapien und Immuninterventionen den Typ-1-Diabetes verändern. Bei Typ-2-Diabetes werden neue Medikamente und digitale Therapieprogramme die Versorgung revolutionieren. Wenn wir diese Innovationen verantwortungsvoll umsetzen, kann Österreich in der digitalen Diabetologie Maßstäbe setzen.

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