
Künstliche Intelligenz kann Patienten entlasten und das Gesundheitssystem effizienter machen. Die entsprechenden Forschungen an den heimischen Universitäten sind vielversprechend.
Im Eingang der Augenklinik wartet ein Roboter. Alle Eintretenden blicken in ein Gerät, das unter Einsatz Künstlicher Intelligenz eine erste Diagnose stellt. Auf einem Ausdruck erhalten die Patienten eine Information über die Abteilung, die auf die Behandlung ihres Leidens spezialisiert ist. Kein Warten am Schalter, keine Erstuntersuchung, auf die dann erst die Zuweisung zum richtigen behandelnden Arzt erfolgt.
Zukunftsmusik? Nein, Realität, und zwar in Singapur. „Asien ist beim Einsatz Künstlicher Intelligenz in der Medizin viel weiter als wir in Europa“, berichtet Leopold Schmetterer. Als doppelter Professor für Augenheilkunde und für medizinische Technik hatte er im Singapore National Eye Center die Gelegenheit, aus nächster Nähe das medizinische System in dem asiatischen Kleinstaat zu studieren. Derzeit arbeitet der graduierte Diplomingenieur und Arzt als Professor an der Universitätsklinik für Klinische Pharmakologie, Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der MedUni Wien.
Dort ist man sich der Bedeutung von Künstlicher Intelligenz (KI) für die Zukunft der Medizin freilich voll bewusst. Im Frühsommer startete an Österreichs führender Ausbildungseinrichtung für Ärzte das „Comprehensive Center for Artificial Intelligence in Medicine“ der MedUni Wien. Dessen Leiter, Georg Langs, fasst zusammen, was die Neugründung bezweckt: „In vielen Instituten sind kleinere Forschungsgruppen entstanden, die sich mit dem Einsatz von KI beschäftigen. Sie bleiben auch weiterhin verbunden mit ihren jeweiligen Kliniken, werden hier aber in einem Wissenspool zusammengefasst.“
Eines der Vorbilder ist das Computer Science and Artificial Intelligence Lab (CSAIL) der renommierten US-Elite-Hochschule MIT. Ähnliche Forschungseinrichtungen werden gerade in mehreren Ländern gegründet. „Wir haben gesehen, dass es nichts bringt, wenn man sich nur alle paar Monate austauscht. Hier entsteht eine kritische Masse von Forscherinnen und Forschern.“ Das Vorhandensein solcher Einrichtungen ist auch ein Magnet für PhD-Studierende aus anderen Ländern. „In den Gesprächen mit Studentinnen und Studenten aus dem Ausland dreht sich viel um das Thema AI, ob hier entsprechende Forschungseinrichtungen existieren und wie man mit diesem Zentrum in Kontakt treten kann“, so Langs.


LEOPOLD SCHMETTERER, Professor an der Universitätsklinik für klinische Pharmakologie, Zentrum
für medizinische Physik und biomedizinische Technik an der MedUni Wien, ortet bei der Anwendung
Künstlicher Intelligenz im medizinischen Bereich
Nachholbedarf.
Derzeit arbeiten im Comprehensive Center 23 Forschungsgruppen mit insgesamt 120 Personen an 27 Projekten. Einige dieser Projektgruppen beschäftigen sich mit der Erforschung weit verbreiteter Krankheiten, etwa Diabetes. So etwa untersucht die Gruppe um Marian Slap Rupnik die Funktion der Bauchspeicheldrüse, um die Mechanismen der Entstehung, Vorbeugung und Behandlung der Volkskrankheit Diabetes zu ergründen. Das Team um den gebürtigen Slowenen entwickelt neue Methoden maschinellen Lernens, um zu untersuchen, wie diese präzise Regulierung funktioniert, und um zu verstehen, wie diese Interaktionen einen gesunden Blutzuckerspiegel aufrecht erhalten.
Zu den weit verbreiteten Risiken für die Gesundheit zählt Übergewicht und die daraus resultierenden Gefäßerkrankungen. „Die zunehmenden Probleme, die durch Übergewicht entstehen, betreffen mehr als 436 Millionen Menschen in ganz Europa, was mit einer signifikanten Zunahme des Risikos kardiovaskulärer Erkrankungen einhergeht“, so ein Statement der Forschergruppe. Dies werde zunehmend zu einem finanziellen Problem für das Gesundheitswesen. Ziel der Forschung ist es, aus den Daten von klinischen Untersuchungen, Laborwerten und den Befunden aus bildgebenden Methoden einen Risikoscore für die betroffenen Patienten zu ermitteln, der dann die Grundlage für die weitere Behandlung oder Präventivmaßnahmen liefern soll. Dieser Risikoscore soll die Betroffenen auch motivieren, sich effektiver um ihre Gesundheit zu bemühen.
Datenpool.
Etwa jeder zweite Mann und jede dritte Frau erkranken im Lauf ihres Lebens an Krebs. Diese Erkenntnis hat die EU-Kommission dazu bewogen, die „European Cancer Imaging Initiative“ zu starten. Koordiniert wird das Projekt, an dem unter der Ägide von Georg Langs auch Österreich teilnimmt, von der European Federation for Cancer Images EUCAIM. Auf Basis eines Co-Fundings des DIGITAL-Programms der EU in Höhe von 18 Millionen Euro wurden Daten aus zwölf Ländern vernetzt. Ziel ist es, 30 Länder an Bord zu holen, um aus diesem Datenpool Erkenntnisse für Prognose und Therapie verschiedener Krebsarten zu gewinnen.
Speziell auf die Früherkennung von Lungenkrebs zielt das „CD Lab Machine Learning Driven Precision Imaging“-Projekt, ebenfalls unter der Leitung von Langs, ab. Lungenkrebs ist die häufigste Todesursache unter allen Krebserkrankungen. Mit Hilfe von Machine Learning werden hier Daten aus bildgebenden -Methoden und der Molakularanalyse kombiniert, um zielgerichtete personalisierte Behandlungsmethoden zu entwickeln. Finanziert wird dieses Projekt durch die Christian-Doppler-Forschungsgesellschaft, einem gemeinnützigen Verein, der sich aus forschungsaktiven Mitgliedern zusammensetzt.
Entscheidungshilfe.
Ziel aller dieser Projekte ist es, die Effizienz und Präzision medizinischer Behandlungen zu verbessern. Was das konkret bedeuten kann, erläutert MedUni-Professor Schmetterer: „Ich sehe hier vor allem zwei Bereiche, bei denen AI eingesetzt werden kann: Diagnostik und Triage.“ Was die Diagnostik betrifft, kann KI helfen, Krankheiten früher zu erkennen und damit die Heilungschancen zu verbessern. Ein heikles Thema ist Triage. Hier geht es nicht darum, den Zugang zu medizinischen Dienstleistungen einzuschränken, sondern Auswahlverfahren effizienter und für Patienten weniger belastend zu gestalten.
Ein Beispiel aus dem Spezialgebiet Schmetterers, der Augenheilkunde: „Wenn zum Beispiel ein Patient zu mir kommt, und die KI sagt mir, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er in 30 Jahren erblindet, sehr hoch ist, macht es einen großen Unterschied, ob dieser Patient 83 oder 38 Jahre alt ist.“ Dem 83-Jährigen kann eine möglicherweise belastende Behandlung erspart werden, während der jüngere Patient dringend einer Therapie bedarf. „Die KI kann auch ermitteln, ob eine Erkrankung sehr schnell progredient ist oder ob sie nur langsam fortschreitet“, so Schmetterer. Dies kann Patienten möglicherweise invasive oder belastende Eingriffe ersparen. Was das etwa für Lungenkrebs-Patienten bedeutet, erklärt Langs: „Da kann die KI bei der Entscheidung helfen, ob eine Punktion erforderlich ist oder nicht. Und durch präzisere Diagnosen können punktgenaue Therapiemethoden angewendet werden, die den Patienten weniger belasten und überdies auch zu einer Ersparnis im Gesundheitssystem führen“.
Letztlich bezwecken alle Forschungsinitiativen die Überleitung der Künstlichen Intelligenz in die klinische Anwendung. Die enge Verzahnung von Forschung an der Medizinischen Universität Wien und der klinischen Versorgung am Universitätsklinikum AKH Wien soll dies gewährleisten. Tatsächlich unterstützt KI jetzt bereits in einigen Bereichen die klinische Praxis – etwa in der Neurochirurgie. Hier ermöglicht es eine neue KI-Software, während einer Gehirntumoroperation innerhalb weniger Minuten spezifische Tumormerkmale anhand digitaler histologischer Bilder zu bestimmen, was Eingriffe präziser und für die Patienten schonender macht.
In der Radiologie bieten Deep-Learning-Algorithmen neue Möglichkeiten, Muster in Bilddaten zu erkennen und -deren Zusammenhang mit Diagnose und Prognose herzustellen. Modernste Verfahren halten Einzug in die klinische Versorgung und ermöglichen es, subtile Krankheitsanzeichen frühzeitig zu erkennen oder den Krankheitsverlauf und die Therapiewirkung zu quantifizieren.
Weit fortgeschritten ist die Anwendung von KI bereits in der Dermatologie. Bildanalyse auf Basis Künstlicher Intelligenz wird bereits in der klinischen Praxis im Rahmen der Früherkennung von Melanomen eingesetzt – insbesondere bei der erweiterten Analyse von Ganzkörperaufnahmen. Die Treffsicherheit der KI liegt dabei weit über 90 Prozent. Einige Studien legen die Vermutung nahe, dass KI-gestützte Diagnose an Treffsicherheit sogar das Urteil von Fachärzten deutlich übertreffen. Die KI erkennt potenziell Hunderte von Pigmentläsionen, gleicht sie mit Folgeaufnahmen ab und führt auf Basis ihrer Veränderungen eine Priorisierung durch.
Dank KI können punktgenaue Therapiemethoden angewendet werden, die zu einer Ersparnis im Gesundheitssystem führen.
Zukunftsmusik.
Theoretisch möglich, vorerst aber noch Zukunftsmusik ist eine Abkürzung von Patientenwegen, wenn Smartphone und KI sinnvoll kombiniert werden. Wer an sich eine Hautveränderung entdeckt, müsste dann nicht mehr zum praktischen Arzt, der zum Hautarzt überweist, der wiederum je nach Schwere des Falls entweder selbst mit der Behandlung beginnt oder an einen Spezialisten oder ein Spital weiterleitet. Es genügt die Aufnahme eines Muttermals oder einer anderen Hautveränderung mit dem Smartphone, um von der KI direkt zur passenden Behandlungseinheit weitergeleitet zu werden.
Dass sich auch Patienten mit dem Einsatz von KI in der Medizin anfreunden und dabei wohl einige mentale Hürden überspringen müssen, scheint ebenso klar. So erwähnt das Münchner Fraun-hofer-Institut für Kognitive Systeme als möglichen Einsatzbereich von KI die Unterstützung von Erstgesprächen durch kognitive Systeme. Zu Ende gedacht können solche Systeme zumindest Teile eines telemedizinischen Erstgesprächs übernehmen und die Nachsorge zu Hause unterstützen oder sogar zum Teil übernehmen.
In jedem Fall bietet der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Medizin ein beachtliches Einsparpotenzial. Experten sprechen von bis zu 25 Prozent. Präzisere Diagnostik, zielgerichtete Therapien und die Vermeidung unnötiger Arztbesuche könnten zu einer Effizienzsteigerung des Gesundheitssystems führen.
Hierzulande lauern freilich noch einige Hürden: Ärzteschaft, Spitäler, Gesundheitskasse, Assekuranzen, Patientenvertreter und Behörden müssen unter einen Hut gebracht werden. „Ein Problem ist sicher auch der Datenschutz“, resümiert Schmetterer, „die Asiaten gehen damit viel entspannter um.“ So zeigt auch das Thema KI: Europa hat ein beachtliches Forschungspotenzial, ist aber schwerfälliger als der Rest der Welt bei der Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen.