
Die LIEFERKETTEN-RICHTLINIE der EU gilt als Bürokratie-Monster. Glatte Themenverfehlung, sagen Experten. Wer seine Lieferkette genau kennt, senkt Risiken und verschafft sich Wettbewerbsvorteile.
Fragebögen von 40 Seiten, die rund um die Welt an hunderte Partnerunternehmen verschickt, wieder eingetrieben und überprüft werden müssen: Die geplante Lieferketten-Richtlinie der EU gilt für viele als neuestes Bürokratie-Monster, als Symbol für die Entrücktheit der Brüsseler Bürokratie von Machbarkeit und Realität und für eine weitere Knebelung und Behinderung der Wirtschaft. Gut gemeint, aber viel zu komplex in der Umsetzung und realitätsfern. Und das mitten in einer weltweit wirtschaftlich angespannten Lage. Also weg damit, und zwar am liebsten geschreddert, damit es nicht im Zuge einer ausnahmsweise gelungenen Kreislaufwirtschaft doch noch irgendwann wieder auftaucht.
Falsch, sagt der Anwalt und Vergaberechtsspezialist Martin Schiefer. „In der Diskussion um die Lieferketten-Richtlinie dominiert das Bild einer überbordenden Bürokratie. Doch die Erzählung greift zu kurz“, so Schiefer, „denn sie verkennt, dass die genaue Kenntnis der eigenen Lieferanten ein wesentlicher Faktor für wirtschaftliche Resilienz ist.“
NEUE PERSPEKTIVE.
Stabile Lieferketten reduzieren Lieferausfälle und sichern zugleich die Qualität. Das ist besonders wichtig für österreichische Unternehmen, die vom Vertrauen in Qualität und Zuverlässigkeit ihrer Produkte und Dienstleistungen leben, gerade auch im Ausland.
Die Lieferketten-Richtlinie bitte nicht ausschließlich als Problem sehen, sondern als die größte wirtschaftliche Chance der nächsten Jahre
Die „Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD)“ der EU verpflichtet große Unternehmen künftig dazu, Verantwortung für Menschenrechte und Umweltstandards entlang ihrer gesamten Wertschöpfungskette zu übernehmen. Die Richtlinie beinhaltet, menschenrechtliche und ökologische Risiken nicht nur bei direkten Zulieferern, sondern auch bei mittelbaren Geschäftspartnern systematisch zu identifizieren, zu bewerten und zu adressieren. Dazu gehören etwa Kinderarbeit, Zwangsarbeit, gravierende Umweltschäden oder unzureichende Arbeitsschutzmaßnahmen.
AUSGEWEITETE SORGFALTSPFLICHT.
Für die Unternehmen bedeutet das eine erhebliche Ausweitung der bisherigen Sorgfaltspflichten – mit Auswirkungen auf Compliance, Einkauf und Risikomanagement. Entsprechend groß war der Aufschrei aus der Wirtschaft. Die Einhaltung wichtiger und notwendiger Standards in anderen Ländern dürfe nicht einseitig den Unternehmen aufgebürdet werden, so etwa IV-Präsident Georg Knill: „Es ist primär die Aufgabe der Politik und ihrer Institutionen, dafür Sorge zu tragen. Die Politik darf sich hier nicht aus der Verantwortung stehlen.“
Betriebe könnten Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden nur in ihrem unmittelbaren Einflussbereich und innerhalb ihres Handlungsspielraums effektiv vermeiden, so Knill, der Spielraum darüber hinaus sei jedoch durch die Komplexität weltweiter dynamischer Lieferkettenbeziehungen eingeschränkt. Mittlerweile hat sich in Brüssel der Wind gedreht, nicht nur wegen der anhaltenden Kritik aus der Wirtschaft. Die Zoll-Orgie des US-Präsidenten Donald Trump hat den globalen Welthandel aus dem Tritt gebracht, die Konjunktur schwächelt, besonders im exportorientierten Europa herrscht Wachstumsflaute. Das hat auch bei der EU die Prioritäten verändert: Wirtschaftsförderung ist an die erste Stelle gerückt, Umweltthemen und Soziales müssen sich dahinter einreihen. Die Einführung der Richtlinie wurde daher um ein Jahr auf 2028 verschoben (siehe Kasten).
ABGEBREMST
DIE EU-LIEFERKETTEN-RICHTLINIE (CSDDD)
sieht vor, dass alle größeren Unternehmen aus der EU Verantwortung für die Menschenrechte, den Umwelt- und den Klimaschutz entlang der Lieferkette ihrer Produkte übernehmen. Das EU-Parlament hat diese Richtlinie allerdings im April entschärft: Sie soll erst ab 26. Juli 2028 in Kraft treten, ein Jahr später als ursprünglich geplant. Die betroffenen Firmen sollen zudem nicht mehr in ihrer gesamten Lieferkette die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards sicherstellen müssen, sondern nur noch bei ihren direkten Zulieferern. Ein Nachweis dafür würde den Vorschlägen zufolge nicht mehr jährlich, sondern nur noch alle fünf Jahre fällig. Die Kommission will zudem eine EU-weite zivilrechtliche Haftung für Verstöße gegen die Vorgaben einschränken.
BAUSTEIN FÜR RESILIENZ.
Für Anwalt Martin Schiefer, der gerne über die eng abgesteckten Grenzen juristischer Paragrafen hinausdenkt, bleibt das Thema dennoch relevant, weil es dabei um Resilienz geht – und nicht um das erzwungene Erfüllen bürokratischer Vorgaben. „Resiliente Lieferketten bieten wirtschaftliche Stabilität, da sie im Krisenfall schnelles Reagieren erlauben, was einen entscheidenden Erfolgsfaktor angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen darstellt“, so Schiefer. Anders ausgedrückt: Nur wer seine Risiken kennt, kann damit umgehen.
Zudem würden klug entworfene Vereinbarungen die Handlungsspielräume erweitern, etwa durch Informationsrechte oder Audit-Klauseln. Schiefer: „Wer seine Lieferkette kennt, verfügt über entscheidungsrelevante Daten: Fragmentierung der Lieferstruktur, undurchsichtige Preisbildung und instabile Subauftragsketten können so rechtzeitig aufgedeckt und gesteuert werden." Dass viele Unternehmen sich derzeit fragen, ob sie sich mit der Lieferketten-Richtlinie überhaupt beschäftigen müssen, ist für den Vergaberechtsspezialisten die falsche Frage: „Die bessere Frage lautet: Wie werde ich durch bessere Informationen, verlässlichere Partner und robustere Verträge resilienter und wirtschaftlich erfolgreicher?“
Tatsächlich ist das Thema Einkauf und Beschaffung ein wesentlicher Faktor für den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen und geht mittlerweile weit über das schlichte Einkaufen von Rohstoffen oder Komponenten hinaus. Moderne Lieferketten sind wie neuronale Netzwerke, die sich über viele Länder ausdehnen. Mittelgroße Unternehmen haben im Durchschnitt 30 bis 50 Lieferanten, große Konzerne wie Volkswagen bauen ihre Fahrzeuge aus Teilen zusammen, die sie von bis zu 100.000 Zulieferern beziehen.
Lieferketten sind sprichwörtlich der Stoffwechsel der Gesellschaft.

FRAGILE PARTNERSCHAFTEN.
„Lieferketten sind sprichwörtlich der Stoffwechsel der Gesellschaft“, betont auch der Komplexitätsforscher Stefan Thurner. Eine Studie Thurners hat gezeigt, dass 25 Prozent aller Firmen, die heute existieren, nächstes Jahr durch andere ersetzt sein werden – und die Hälfte aller heutigen Lieferbeziehungen. „Das System verändert sich mit dramatischer Geschwindigkeit und bleibt dennoch irgendwie gleich. Es produziert nächstes Jahr fast genau die gleichen Dinge, nur auf eine komplett andere Art und Weise.“
Andere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass gerade einmal 20 Prozent der Unternehmen ihre direkten und indirekten Zulieferer kennen. Nur sechs Prozent geben bei Befragungen an, den vollen Überblick über ihr Zuliefernetzwerk zu haben. Durchaus alarmierende Zahlen, denn das Nichtwissen in diesem Bereich bedeutet auch, Abhängigkeiten und Risiken nicht zu kennen.
Covid hat die Sensibilisierung für das Thema verstärkt.

Tatsächlich hat erst die Covid-Pandemie das Thema so richtig in den Fokus gerückt. Leere Regale, fehlende Arzneimittel – in den westlichen Überfluss-Industrieländern war das ein Schock. „Covid hat die Sensibilisierung für das Thema verstärkt“, sagt auch Peter Klimek, Leiter des 2023 gegründeten Supply Chain Intelligence Institute Austria (ASCII), „es ist aber auch klar, dass sich die strukturellen Probleme nicht so schnell lösen lassen.“
Ein Beispiel dafür ist der heimische Arzneimittelmarkt. Es gibt die Produktion in Kundl in Tirol, aber diese deckt auch nur einen kleinen Teil von dem ab, was in Österreich benötigt wird. Zudem kann rechtlich kein Hersteller gezwungen werden, seine Produkte nur in Österreich zu verkaufen. Ein durchaus heikler Punkt, sagt auch Experte Schiefer: „Wir haben das EURecht, das uns verbietet, nur für den österreichischen Markt produzieren zu lassen. Damit wird die Lieferkette aber wieder schwerer überprüfbar.“
HEBEL FÜR RESILIENZ.
Eine besondere Rolle beim Thema Beschaffung und Resilienz spielen öffentliche Auftraggeber. Bund, Länder und Gemeinden zählen in vielen Ländern zu den größten Einkäufern und Auftraggebern, auch in Österreich. Rund 70 Milliarden Euro gibt die öffentliche Hand hier für Aufträge aus, vom Kauf von Kopierpapier und Computern bis zum Bau von Kindergärten und der Sanierung von Straßen. Eine enorme Summe – und ein enormer Hebel, durch gezielte Auftragsvergaben die Resilienz der Wirtschaft zu stärken.
Ein bewusster Fokus auf Resilienz – das ist gerade für Europa ein extrem wichtiges Thema. Europas Volkswirtschaften sind stark exportorientiert und auf internationale Vorprodukte angewiesen. Ob Automobilindustrie, Maschinenbau oder Pharma – viele Schlüsselbranchen basieren auf Komponenten aus Asien, Nordamerika oder anderen Teilen der Welt. Das ist effizient, schafft aber auch Abhängigkeiten und Risiken. Gegenzusteuern ist gar nicht so einfach. Der europäische Binnenmarkt verlangt offene Grenzen und garantiert wirtschaftliche Freizügigkeit. Unternehmen vorzuschreiben, wo sie ihren Standort haben müssen und an wen sie verkaufen dürfen – und an wen nicht –, ist heikles Terrain.
Zudem hat der Europäische Gerichtshof erst Mitte Jänner entschieden, dass man nicht einmal die Produktionsweise vorgeben darf. „Das steht im Widerspruch zu unserem Ziel, Lieferketten zu hinterfragen“, sagt Schiefer, „und wenn wir das nicht dürfen, kommt die Ware eben aus China.“ Aus juristischer Sicht sei „Made in Europe“ aber möglich. Über die verbindliche Anwendung von ESG-Kriterien ließen sich Lieferketten beeinflussen. Schiefer: „Kurze Wege, regionale Wertschöpfung und Arbeitsplätze als Kriterien für die Vergabe von Aufträgen – das wäre ein wirkungsvolles Mittel, um Lieferketten strategisch neu aufzustellen und Europas Resilienz zu stärken.“


MARTIN SCHIEFER ist Gründer der auf Vergaberecht spezialisierten Kanzlei Schiefer Rechtsanwälte mit rund 50 Mitarbeitenden an sechs Standorten in ganz Österreich. Sein Anliegen: die Transformation der Wirtschaft Richtung Nachhaltigkeit und die Stärkung Europas. Dafür denkt er gerne auch über die Grenzen der Juristerei hinaus.
© SchieferVergaberechtsspezialist MARTIN SCHIEFER sieht die Überprüfung der Lieferketten nicht als Kostenfaktor, sondern als echte wirtschaftliche Chance.
Die EU hat die Lieferketten-Richtlinie entschärft, die Wirtschaft jubelt. Zu Recht?
Ich sehe das etwas differenzierter. Wer seine Lieferkette genau kennt, senkt seine Risiken und stärkt seine Resilienz. So betrachtet sind resiliente Lieferketten kein Kostenfaktor, sondern ein strategischer Wettbewerbsvorteil, auf den kein Unternehmen verzichten sollte.
Aber der bürokratische Aufwand ist erheblich und vielfach kritisiert …
In der Diskussion um resiliente Lieferketten und Lieferantenprüfung, also Supplier Due Diligence, dominiert das Bild einer überbordenden Bürokratie. Doch diese Erzählung greift zu kurz. Sie verkennt, wo die Chancen für Österreichs exportorientierte Wirtschaft liegen, die vom Vertrauen in Qualität und Zuverlässigkeit ihrer Produkte und Dienstleistungen lebt. Supplier Due Diligence ist nicht das Problem – sie ist die größte wirtschaftliche Chance der nächsten Jahre.
Hört sich gut an, aber worin liegt konkret diese Chance?
Resiliente Lieferketten reduzieren Lieferausfälle und sichern zugleich die Qualität. Sie bieten also wirtschaftliche Stabilität. Zudem erlauben sie im Krisenfall ein schnelles Reagieren. Wissen über die eigenen Beschaffungsnetzwerke liefert wichtige, entscheidungsrelevante Daten. Eine gefährliche Fragmentierung der Lieferstruktur, undurchsichtige Preisbildung und instabile Subauftragsketten können so rechtzeitig aufgedeckt und gesteuert werden.
Die heftig bekämpfte Lieferketten- Richtlinie als große Chance – das klingt nach einer mutigen These.
Die ganze Diskussion ist falsch gelaufen: Die Frage sollte nicht sein, ob wir ein Gesetz erfüllen müssen. Die Frage muss lauten, wie wir wirtschaftlich klug handeln. Für Österreichs Unternehmen ist die Antwort klar: Vertrauen wir auf Qualität und Verlässlichkeit bei uns selbst und in der gesamten Lieferkette! Gut strukturierte Verträge, Lieferantenbeziehungen und Informationsflüsse bringen nicht nur einen Vorsprung gegenüber dem Mitbewerb, sondern auch Sicherheit und Kapital. Außerdem verlangen Investoren, Banken und öffentliche Förderstellen zunehmend belastbare Informationen über Nachhaltigkeit und Resilienz. Grüne Kredite und grüne Anleihen gibt es flexibler und mit besseren Konditionen als konventionelle Finanzierungen. Solche Finanzierungen setzen aber voraus, dass Unternehmen ihre eigenen Risiken und jene ihrer wichtigsten und sensibelsten Vertragspartner kennen und mindern.
Wie lässt sich das Risiko in Lieferantenbeziehungen reduzieren?
Sicher nicht
mit einem 20-seitigen Supplier Code of Conduct und einem 40-seitigen Lieferantenfragebogen. Supplier Due Diligence ist kein Selbstzweck. Es geht im Kern darum, durch bessere Informationen, verlässlichere Partner und robustere Verträge wirtschaftlich erfolgreicher zu werden. Klug entworfene Vereinbarungen erweitern die Handlungsspielräume, etwa durch verpflichtende Informationsrechte oder Audit-Klauseln. Und das ist nur ein Beispiel. Die Unternehmen stehen vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen durch die hohen Energiepreise und eine erratische Zollpolitik des US-Präsidenten, der gesamte freie Welthandel ist bedroht. Das muss das Thema Resilienz in den Fokus rücken, gerade auch aus europäischer Sicht. Europa muss seine wirtschaftliche Resilienz stärken, und stabile Lieferketten sind dafür ein entscheidender Faktor.
Welche Rolle kann die öffentliche Auftragsvergabe dabei spielen?
Eine ganz zentrale Rolle. Bund, Länder und Gemeinden vergeben in Österreich in Summe jährlich Aufträge für rund 70 Milliarden Euro. Damit gehören sie zu den wichtigsten Auftraggebern des Landes. Und dies lässt sich selbstverständlich auch für die Stärkung der Resilienz heimischer und europäischer Unternehmen nutzen.
Wie kann das konkret aussehen?
Indem ich die Vergabe öffentlicher Aufträge an Kriterien wie regionale Wertschöpfung, Schaffung von Arbeitsplätzen oder die Recyclingfähigkeit knüpfe. Das stärkt die regionale und auch die europäische Wirtschaft – und damit die Resilienz Europas.
Also braucht Europa eine strenge Lieferketten-Richtlinie?
Wichtig ist, dass eine solche Richtlinie praktikabel ist. Aber es geht um etwas anderes: Wer auf Resilienz setzt, denkt nicht an regulatorische Vorgaben, sondern an Zukunftsfähigkeit. Ob und wann die EU-Lieferketten-Richtlinie kommt, ist für Unternehmen, die ihr wirtschaftliches Schicksal in die eigenen Hände nehmen und selbst bestimmen wollen, nach rangig.