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Ex-Kanzler Schüssel: „Völlig aus dem Ruder gelaufen“

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Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel

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Zu Silvester wird er „zuversichtlich auf das neue Jahr anstoßen". Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel über die dringend gebotene Krisenbewältigung in Österreich, Trumps Kreuzzug gegen Europa und Chinas Aufstieg zur High-Tech-Macht.

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Seine Koalition mit der Haider-FPÖ im Jahr 2000 brachte Schüssel harsche internationale Kritik ein. Unter politischem und wirtschaftlichem Druck, begleitet von Demonstrationen, seien aber viele wichtige Entscheidungen getroffen worden, sagt er. Und er empfiehlt, auch die aktuelle Krise wieder zum Handeln zu nutzen.

 © APA-Images/APA/Roland Schlager
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Sie kamen erst kürzlich aus China zurück. Was sind Ihre Eindrücke?

Wolfgang Schüssel

Man sieht im Zeitraffer, wie sich das Land dramatisch verändert. Plötzlich fahren dort mehr als 50 Prozent Elektroautos. Vor einem Jahr war es ein Drittel. China will zwar noch als Entwicklungsland gelten, zählt aber – natürlich nicht in allen Landesteilen – mittlerweile zu den wirtschaftlich führenden Hightech-Nationen. Die Probleme, die dadurch auch entstehen, habe ich bei einer Diskussion dort angesprochen: „Wir haben in Österreich eine soziale Marktwirtschaft, in der ich mir mehr Markt wünschen würde. Ihr habt eine sozialistische Wirtschaft, in der das Soziale kaum vorhanden ist.“

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Was haben die Chinesen darauf geantwortet?

Wolfgang Schüssel

Sie reden nur darüber, was super läuft. Alles andere wird ausgeblendet. Während wir in Europa dazu neigen, Probleme überzubetonen, ist im offiziellen China das Gegenteil der Fall. Auf Fragen zur Jugendarbeitslosigkeit von über 20 Prozent, zur Staatsverschuldung von 50.000 Milliarden Euro oder zur totalen Überwachung bekommst du keine Antwort. Trotzdem glaube ich, dass China eine wichtige Rolle in der friedlichen Entwicklung der Welt spielen kann und muss.

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Haben wir in Europa die Konkurrenz aus China für unsere Wirtschaft zu lange unterschätzt?

Wolfgang Schüssel

Vielleicht wurde das Tempo unterschätzt, mit dem das Land aufholt. Aber es ist ja nicht so, dass wir uns jetzt fürchten müssten. Es braucht eine seriöse Diskussion, was Europa von China lernen kann und was die Chinesen von Europa übernehmen können. Wettbewerb ist ja an sich nichts Schlechtes. Der Aufstieg Chinas hat uns und viele unserer Firmen gestärkt. Es ist ein Unsinn, wie die Amerikaner zu glauben, dass irgendwas besser wird, wenn man einander klein hält oder sich wechselseitig mit Handelskriegen überzieht. Da schießen wir uns nur selbst ins Knie. Wir müssen die richtigen Schlüsse ziehen. Bei der Energiewende haben wir das nicht gut gemacht. Die Chinesen sind auch sehr weit in diesem Bereich, machen aber nicht den gleichen Fehler, dass sie auf Verbote setzen, sondern sind viel flexibler und pragmatischer. Wir müssen uns auf Bildung, Forschung und Innovation konzentrieren. Friedrich August von Hayek, Joseph Schumpeter, Peter Drucker – das sind alles österreichische Ökonomen von Weltgeltung. Aber wir haben unsere Fähigkeiten wie das Dornröschenschloss überwuchern lassen. Daraus müssen wir uns wieder befreien.

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Sehen Sie Ansätze zu einer solchen Befreiung?

Wolfgang Schüssel

Ich glaube, wir haben den Weckruf verstanden. Es wird wieder massiv in Forschung investiert, in Sicherheit und in die Bewahrung der eigenen Souveränität. Zum ersten Mal arbeiten die drei großen Rüstungskonzerne Rheinmetall, Leonardo und Thales zusammen. Österreich hat seine Verfassung geändert, um mit einem EU-Mandat an der Verteidigung Europas voll mitarbeiten zu können. Die Neutralität ist in diesem Bereich nicht mehr existent. Erstmals kooperiert Europa auch gegen Cyber-Bedrohungen und Fake-Informationen. Und es schießen Start-ups wie die Schwammerl aus dem Boden, die man mit allen Mitteln fördern sollte. Selbst die Chinesen bescheinigen uns, dass wir immer noch tolle Forscher und Innovatoren haben.

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Die schwer verunsicherte europäische Exportwirtschaft befindet sich in der Zwickmühle zwischen USA und China. In welche Richtung soll sie sich stärker orientieren?

Wolfgang Schüssel

Die neue nationale Sicherheitsstrategie der USA zeigt deutlich, wohin die Reise geht. Es gibt keinen Schutzschirm und keine besondere Zuneigung mehr. Wir sollten uns aber deswegen nicht an China anlehnen, sondern uns konzentrieren. Das ist entscheidend. Europa ist ein riesiger Binnenmarkt, der durch Öffnung und Weiterentwicklung noch wesentlich verbessert werden könnte. Das allein würde einen Wachstumsschub von zwei, drei Prozent bringen. Wir müssen mehr zusammenarbeiten, unsere Interessen klar formulieren und sie genauso konsequent vertreten wie die anderen.

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Aber die Unternehmen müssen auch im Export weiter Geld verdienen, oder?

Wolfgang Schüssel

Ja, aber wir schauen in alle Richtungen. Natürlich müssen wir den Chinesen klarmachen, dass es auf Dauer nicht geht, für 2.400 Milliarden Dollar zu exportieren und nur für 1.600 Milliarden zu importieren. So wie früher die Europäer nach China gegangen sind, können jetzt ruhig auch chinesische Investoren in Europa produzieren, damit hier Jobs gesichert bleiben. Sonst wird es Gegenmaßnahmen geben, um das Ungleichgewicht zu korrigieren. Die Kommission ist da gut unterwegs, auch gegenüber Amerika, Stichwort Tech-Riesen. Wir werden in Zukunft klarer trennen: Wer es gut mit uns meint und fair bleibt, mit dem macht man mehr als mit jenen, die Finanztransaktionen, Energie, Lieferketten und Zölle als Waffe einsetzen. Wir müssen Ländern wie Kanada, Japan, Australien, Neuseeland oder teilweise den ASEAN-Staaten, die mit uns wertemäßig zusammenpassen, näherrücken. Aber auch in Lateinamerika und Afrika gibt es genügend Möglichkeiten.

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Schauen wir nach Österreich: Wie konnte das Land innerhalb weniger Jahren unter ÖVP-geführten Regierungen in so ein Desaster schlittern? Trotz sehr hoher Steuern fünf Prozent Budgetdefizit?

Wolfgang Schüssel

Man muss vorausschicken, dass die gesamte Eurozone ähnliche Probleme hat. Aber ja, wir haben mit der Coronakrise Schleusen geöffnet, die seither nicht geschlossen wurden. Massive Überförderungen gab es auch beim Klimaschutz und zum Teil auch Fehlsteuerungen, etwa beim Green Deal. Auf europäischer Ebene geht es jetzt um die Komplettierung des Binnenmarkts und um die Zurücknahme überbordender Vorschriften bzw. Berichtspflichten. Und geopolitisch um neue Partnerschaften. Es kann nicht sein, dass man bei jedem Freihandelsabkommen die Welt untergehen sieht. Andere Punkte sind innenpolitisch zu lösen. Wird der Inflationskreislauf durch geschmalzene Gebührenerhöhungen und eine Unzahl gesetzlich festgelegter Indexierungen noch zusätzlich beschleunigt, darf man sich nicht darüber wundern, wo wir stehen.

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Die Staatsquote ist in Österreich weit überdurchschnittlich gestiegen. Als Verfechter von „mehr privat, weniger Staat“ muss Sie das doch entsetzen.

Wolfgang Schüssel

Ja, das ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Ein Staatsanteil von 56 Prozent und die Abgabenquote von weit über 40 Prozent sind nicht akzeptabel. Denn das unterminiert den Privatsektor, hemmt das Unternehmerische. Ich halte das jedoch für lösbar. Ein Budgetdefizit von fünf Prozent stellt kein unlösbares Enigma dar. Als ich vor 25 Jahren Kanzler wurde, hatten wir auch ein drohendes Budgetdefizit in dieser Höhe und hätten damit nicht an der Eurozone teilnehmen können. Darum mussten wir das in den Griff bekommen. Und innerhalb von 18 Monaten haben wir es auf null gesenkt: ausgabenseitig, einnahmenseitig und mit Einmalmaßnahmen. Das ist heute genauso möglich. Es braucht aber Mut für einen großen Wurf.

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Der nicht auf dem Tisch liegt …

Wolfgang Schüssel

Die Regierung hat erst vor ein paar Monaten begonnen. Da würde ich jetzt noch nicht das Aschenkreuz drüber machen. Es ist genug Zeit, um Konzepte zu entwickeln. Die Maßnahmen liegen am Tisch. Mein Freund Christoph Badelt (der Präsident des Fiskalrates, Anm.) und viele andere Experten haben sie oft genug wiederholt. Die musst du nur übernehmen.

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Prinzipiell ja. Wird es tatsächlich gemacht?

Wolfgang Schüssel

Das wird schlicht nötig sein. Und für Politiker ist es immer am einfachsten, das Notwendige zu tun. Die Krise bietet insofern eine große Chance, wirklich was zu ändern. Die schweren Fehler passieren, wenn es gut läuft. Vor 25 Jahren waren alle gegen uns (Kanzler Schüssel bildete damals eine Koalition mit der Haider-FPÖ, Anm.). Wir hatten Krise, außen- und innenpolitischen Druck, Demonstrationen usw. In dieser Situation wurden ganz wesentliche Entscheidungen getroffen: Pensionsreform, Zusammenlegung von Polizei und Gendarmerie, Gründung der Bundesimmobiliengesellschaft und der Asfinag, Einführung der e-card, Koralm- und Semmeringtunnel. Wir haben die Forschungsquote massiv erhöht, die Steuern gesenkt. Die Krise jetzt muss wieder zum Handeln genutzt werden.

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Das Gegenteil findet statt. Der öffentliche Sektor wurde aufgebläht, auch personell. Und bei Weitem nicht alle in den Regierungsparteien sehen die Probleme als sehr gravierend. Wieso sollten die sich anstrengen, notwendige Einsparungen umsetzen?

Wolfgang Schüssel

Die Einsicht ist schon da. Die Frage ist, ob man den politischen Willen aufbringt. Aber wenn man sich noch eine Legislaturperiode drüber wurschtelt, wird es noch schwieriger. Klüger wäre, jetzt zu beginnen, weil die Schritte dann kleiner, verständlicher und auch akzeptabler ausfallen. Ich traue Bundeskanzler Stocker und seinem Koalitionsteam zu, dass sie die Situation richtig einschätzen und zumindest probieren, was möglich ist. In der Verwaltung zum Beispiel könnte man mit Digitalisierung, mit dem Einsatz von KI wahnsinnig viel an Effizienzsteigerung erreichen. Vielleicht gelingt nicht alles im ersten Anlauf, aber man sollte nicht gleich den Willen oder die Fähigkeit absprechen. Wo sind denn die Alternativen? Die Grünen hatten ihre Chance. Die Freiheitlichen haben mit Verlaub überhaupt keine wirtschaftspolitische Kompetenz mehr. In jeder einzelnen Frage rufen sie nach noch mehr Staat, noch mehr Intervention, wollen noch mehr Geld ausgeben.

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Wo würden Sie vor allem ansetzen?

Wolfgang Schüssel

Jedenfalls müsste man das Antrittsalter im Pensionssystem schrittweise erhöhen, gekoppelt an die steigende Lebenserwartung. Zusätzlich könnten stärkere Zu- bzw. Abschläge längeres Arbeiten attraktiver machen. Außerdem würde ich die heutige Mitarbeitervorsorge – das sind eineinhalb Prozent der Lohnsumme, also ziemlich viel Geld – in eine zweite Pensionssäule umwandeln, die stärker mit Aktiensparen unterlegt ist. Mit Pensionsantritt würden dann locker einige Hundert Euro monatlich dazukommen.

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Halten Sie die Einführung so einer teilweise kapitalgedeckten Rente in Österreich für realistisch, zumal mit der SPÖ?

Wolfgang Schüssel

Anderes wird nicht übrig bleiben. Länder wie Dänemark oder Holland haben sehr gute Erfahrungen damit. Ich wollte schon vor 25 Jahren eine kapitalgedeckte zweite Säule machen. Damals haben es die Sozialpartner abgeschwächt. Ich meine aber, dass kluge Gewerkschafter die Sache mittlerweile anders einschätzen. Außerdem sollte man eine steuerlich begünstigte Möglichkeit für das individuelle Ansparen einer dritten Säule entwickeln. Für enorm wichtig halte ich auch die in Österreich so stiefmütterlich behandelte Mitarbeiterbeteiligung. Zur sozialen Marktwirtschaft gehört eine breite Beteiligung der Bevölkerung am Kapital der Betriebe. Es ist doch absurd, dass Hunderte Milliarden Euro auf Sparbüchern liegen. Viel gescheiter wäre doch, die Hälfte davon, sagen wir 150 Milliarden, am Kapitalmarkt in österreichische oder europäische Unternehmen zu investieren. Das würde uns mit Sicherheit in eine ganz andere Umlaufbahn katapultieren. Wer sich mit dem zukünftigen Miteinander von Beschäftigten und Unternehmern, von Jungen und Alten auseinandersetzt, müsste das eigentlich verstehen.

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Bundesstaats-, Föderalismus- und Aufgabenreform stehen auch auf der To-do-Liste. 2003 gab es den große Österreich-Konvent mit vielen klugen Vorschlägen, denen wenig Umsetzung folgte. Stehen die Erfolgsaussichten nun besser?

Wolfgang Schüssel

Damals ist das im Vorwahlkampf leider abgeschossen worden. Die SPÖ wollte nicht wirklich mitmachen. Im Prinzip liegen auch hier die Dinge auf der Hand. Bei der Bildung ist es am einfachsten. Der Bund muss Standards vorgeben, alles andere kannst du den Ländern übergeben. Ein ähnliches Modell wäre in der Gesundheit zu überlegen. Man könnte sagen: Den niedergelassenen Bereich übernimmt die Gesundheitskasse. Die Spitalsfinanzierung liegt bei den Ländern. Die beiden anderen Optionen sind: Der Bund macht alles, oder die Länder machen alles. Ich finde gut, dass die Regierung diese Themen einmal andenkt. Man sollte ihr die Chance geben, zu analysieren – danach muss sie aber auch entscheiden.

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Die zentrale Frage jeder Reformagenda lautet: Können Politiker heute noch wiedergewählt werden, die um des großen Ganzen willen Veränderungen beschließen, die nicht nur angenehm sind? Ist die Wahrheit zumutbar?

Wolfgang Schüssel

Ich glaube schon, wiewohl es schwieriger geworden ist. Ich habe 2000 mit Susanne Riess die Regierung gebildet, und wir haben einige nicht gerade populäre Maßnahmen gesetzt. Das Ergebnis war, dass ich bei der nächsten Wahl 15 Prozentpunkte dazugewonnen habe.

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Da profitierten Sie aber von der Selbstdemontage der FPÖ. Die Wahl danach haben Sie verloren …

Wolfgang Schüssel

Das hatte mehrere Gründe. Nach sieben Jahren macht sich eine gewisse Abnützung bemerkbar. Ich war damals auch nicht ganz im Vollbesitz meiner Kräfte, weil ich nach sechs anstrengenden Monaten EU-Ratspräsidentschaft direkt in den Wahlkampf gegangen bin. Und dann gab es diese Schmutzkübelkampagne über eine angeblich falsche Pflegerin meiner Schwiegermutter, eine boshafte Lüge von A bis Z. Wahlergebnisse hängen oft von anderen Dingen als den umgesetzten Inhalten ab. Gerhard Schröder (deutscher Ex-Kanzler, Anm.) ist ja auch nicht abgestraft worden für seine einschneidenden Maßnahmen, sondern wurde wieder gewählt.

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Ihre Vertraute Heidi Glück wünscht sich vom Bundeskanzler zum Jahreswechsel eine Art Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede. Braucht es einen unmissverständlichen Appell an die Bevölkerung?

Wolfgang Schüssel

Es muss nicht um Blut, Schweiß und Tränen gehen. Wichtiger ist, den Menschen immer wieder zu erklären, warum etwas gemacht werden muss, was das Ziel ist. Die meisten werden verstehen, dass man im Gesundheitssystem vielleicht nicht mehr alles zu hundert Prozent fördern kann und Selbstbehalte braucht. Wir dürfen nicht immer alles aufbauschen. Das richtet sich auch an die Medien, die jedes Problemchen zu einer Gesamtbedrohung aufblasen. Ich würde zu Silvester zuversichtlich aufs neue Jahr anstoßen.

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Bei Sozialleistungen wird aber sehr wohl gekürzt oder gestrichen werden müssen, oder?

Wolfgang Schüssel

Ohne Frage gab es im Asylbereich oder in der Grundversorgung eine Fehlentwicklung, die wir uns nicht mehr leisten können. Der Sozialstaat absorbiert fast ein Drittel der Wirtschaftsleistung. Nun werden aber zusätzliche Mittel für Rüstung, innere Sicherheit, Forschung und Innovation gebraucht. Da müssen wir neu gewichten. Muss man jede Leistung immer mit der Inflation erhöhen? Das haben wir früher auch nicht gemacht. Der Automatismus, quasi alles zu valorisieren, ganz gleich, wie sich die Lage darstellt, wird auf Dauer nicht funktionieren.

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Hat sich Österreich in den letzten 20 Jahren trotz ÖVP-Regierungen schrittweise von einer Leistungs- zu einer Vollkaskogesellschaft gewandelt?

Wolfgang Schüssel

Die Menschen können jedenfalls nicht erwarten, dass der Staat alle Risiken absichert. Sie haben Eigenverantwortung und müssen primär in der Lage sein, sich und ihre Familie selber zu erhalten. Der Einzelne darf – abgesehen von Ausnahmesituationen – nicht darauf zählen, dass er, ohne ein entsprechendes Arbeitsvolumen zu leisten, automatisch ein Basiseinkommen hat. Für die Allgemeinheit ist das nicht leistbar.

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Sie haben zu Beginn einnahmenseitige Einmaleffekte zur Reduzierung des Budgetdefizits erwähnt. Meinen Sie damit Privatisierungen?

Wolfgang Schüssel

Durchaus. Dazu wären einmal die Strukturen im Energiebereich zu hinterfragen. Es ist nicht nötig, derartig viele Energieversorger und Netzbetreiber zu haben. Warum muss eine Landesgesellschaft im Eigentum des Landes stehen? Warum muss die Netzgesellschaft APG zu 100 Prozent eine Verbund-Tochter sein? Mit weniger Staat würden einerseits Marktmechanismen besser zum Tragen kommen und andererseits Erlöse erzielt werden können. Auch Asfinag oder BIG müssen nicht dem Bund allein gehören. Man sollte das in Ruhe diskutieren, ohne ideologische Scheuklappen. Oder hat es irgendwem geschadet, dass die Voest zur Gänze privatisiert worden ist?

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Beim privaten russischen Ölkonzern Lukoil saßen Sie im Aufsichtsrat. Wie beurteilen Sie diese Tätigkeit in der Nachbetrachtung?

Wolfgang Schüssel

Lukoil war der einzige russische Energiebetrieb, der mehrheitlich angelsächsische und europäische Investoren hatte. Eigentümer und Management waren immer auf der liberalen, westlich orientierten Seite. Ich habe noch als Wirtschaftsminister die Lukoil International nach Wien gebracht, was eine sehr erfolgreiche Geschichte war. Anlässlich des Angriffs auf die Ukraine habe ich eine Stellungnahme des Boards gegen diesen Krieg zusammengebracht, bevor ich ausgetreten bin.

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Noch ein Blick vom Osten in den Westen: Wie nachhaltig hat ein Jahr Donald Trump die Welt verändert?

Wolfgang Schüssel

Trump führt einen Kreuzzug gegen Europa. Neu sind die Tonlage und der absurde Widerspruch, dass die neue US-Sicherheitsstrategie einerseits eine Non-Intervention-Policy festlegt, Trump andererseits aber direkt in die europäischen Politik eingreifen will: durch Spaltung der EU und Stärkung von Kräften wie AfD, Le Pen oder FPÖ. Das ist eine Unsicherheitsstrategie, die noch dramatische Ausmaße annehmen kann. Die amerikanisch-russische Koalition gegen die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Anm.), die einst wesentlich von den USA mitgestaltet wurde, ist unglaublich. Wenn die Amerikaner weiter den Trump-Weg gehen, wird das eine sehr konfrontative Situation, weil sich Europa das alles nicht gefallen lassen darf.

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Ist die EU überhaupt in der Lage, entschlossener zu reagieren? Einige europäischen Regierungschefs wie Orbán, Babis oder Fico haben sich bereits zu Trump-Fans erklärt.

Wolfgang Schüssel

Ich würde das nicht überbewerten. Man muss unterscheiden zwischen Rhetorik und konkreter Handlung. Aber die Europäische Union und die anderen Mitglieder werden daraus Konsequenzen für die künftige Erweiterung ziehen müssen, indem es Klauseln braucht, die Blockade-Möglichkeiten verhindern. Ein interessantes Modell für die Einbindung weiterer Länder könnte sein, dass man den EWR (Europäischer Wirtschaftsraum, Anm.) vorschaltet, was zunächst nur die volle Teilnahme am Binnenmarkt ermöglichen würde. Solche Themen sollten angedacht werden.

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Ihr jüngstes Buch heißt „Mit Zuversicht“. Sind Sie angesichts der geopolitischen Bedrohung Europas zwischen den USA, Russland und China noch immer zuversichtlich?

Wolfgang Schüssel

Ich bin mit 80 Jahren so alt wie die Republik. Meine Zuversicht gründet sich auf die Erfahrung, dass die Entwicklung in dieser Zeit trotz riesiger Krisen langfristig sehr positiv verlaufen ist. Zweiter Punkt: Ich glaube, dass Europa nach wie vor unglaubliche Möglichkeiten und Kräfte hat. Vor allem, was unseren Way of Life betrifft. Europa ist nach wie vor ein Leuchtturm für ein gutes Leben in Frieden und Freiheit. Nach China oder Russland gibt es bekanntlich keine Flüchtlingsströme. Dritter Punkt: Ich vertraue auf die Jungen. Die heutigen Führer sind alte Männer: Trump wird 80. Putin, Xi Jinping, Modi in Indien oder Erdogan in der Türkei sind alle zwischen 71 und 75. Da kann sich mit der nächsten Generation einiges ändern. Vierter Punkt: Diese Länder verzichten auf 50 Prozent ihrer Talente. Im Kreml gibt es weit und breit keine Frau, auch rund um Trump in Wahrheit nicht eine Frau, die etwas zu sagen hat. Und in China sitzt keine einzige Frau im 25-köpfigen Politbüro. Da ist Europa zum Glück schon viel weiter.

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Abschließende Frage an der Fußball-Fan Wolfgang Schüssel: Wie wird Österreich bei der WM in den USA abschneiden, und wer wird Weltmeister?

Wolfgang Schüssel

Wir haben aus meiner Warte gute Chancen, zumindest einmal die Gruppenphase zu überstehen. Auf den Favoriten kann ich mich noch nicht festlegen. Österreich ist es wohl eher nicht.

Das Interview ist in der trend.Edition vom 19. 12. 2025 erschienen.

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