Türkis im schwarzen Loch [Politik Backstage von Josef Votzi]
Erst Chats & Justiz-Ermittlungen, dann Corona-Leugnung und neuer Lockdown.Der Umfrage-Absturz der ÖVP ins Bodenlose lässt nun auch Länderfürsten-Throne wanken. Die vierte Corona-Welle hat Sebastian Kurz endgültig aus der Politik katapultiert.
Sebastian Kurz bei seiner Rücktrittsrede am 2. Dezember 2021
Es ist eine bizarre Szene, die sich diesen Dienstag mittag im Kanzleramt zuträgt. Im Ministerrats-Saal sitzen türkise und grüne Minister und Klubführung, die Chefinnen der größten und kleinsten Oppositionspartei sowie jede Menge Experten. Das Treffen wird von den Medienleuten des Kanzleramts als "Impfgipfel" ausgeschildert. Regierung, SPÖ, Neos und Fachleute sollen jene Impfpflicht legistisch auf den Weg bringen, die Alexander Schallenberg von einer langen Verhandlungsnacht mit den Länderfürsten mitgebracht hatte - als politisches Zugeständnis für das türkise Ja zu einem nationalen Lockdown.
Schallenberg ist zwar im Haus, absolviert in seinem Arbeitszimmer einige Telefonate und eine Video-Konferenz im Kreisky-Zimmer.
Die Bühne überlässt der Regierungschef aber ÖVP-Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler und Grünen-Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein - und das beim medial zu Recht aufsehenerregenden Schulterschluss von Regierung und Opposition gegen "Oberwurmbandführer" Kickl (so der neue Spitzname des Fans des Pferdeentwurmungsmittels Ivermectin in der eigenen Partei).
Das ist auf den ersten Blick, je nach Lesart, fahrlässig riskant oder über die Maßen vertrauensselig. Just am neuen Höhepunkt der Corona-Krise ergeht sich der Regierungschef in Routine-Tagesgeschäften und gibt das wichtigste Regierungsprojekt aus der Hand: Die Aufholjagd bei der Impfquote zur Eindämmung der neuerlich entfesselten Pandemie.
Order-Ausgabe bei Kurz
fiel erstmals aus
Der ungewöhnlich lockere Führungsstil hat einen schlichten Grund. Alle Zeichen stehen da bereits darauf, dass der Karrierediplomat die Bürde des Regierungschefs zu seiner Erleichterung bald wieder los.
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Seit Mitte Oktober haben Schallenberg & Co immer Montag und Mittwoch vormittag zu Sebastian Kurz zur Strategiebesprechung und Order-Ausgabe zu pilgern. Diesen Montag fehlt freilich Kurz. Die herum gereichte Erklärung, die Absenz sei dem am Wochenende geborenen Baby geschuldet, reicht langjährigen Weggefährten nicht.
Kurz wird in der ÖVP inzwischen vieles nachgesagt, aber eines nicht: Dass er zu privaten Sentimentalitäten neigt und es ihm an Selbstdisziplin mangelt.
Alexander Schallenberg ahnt also ab Anfang der Woche bereits, dass seine Ära als Chef am Ballhausplatz bald wieder Geschichte ist.
Kurz & Co feilen tagelang
an der Rücktrittsrede
Sebastian Kurz hatte nur einen kleinen handverlesenen Kreis von Getreuen wie Stefan Steiner, Gerald Fleischmann & Bernhard Bonelli in seine Pläne eingeweiht, endgültig die Reißleine zu ziehen. Seit Tagen wurde bereits an einer fein ziselierten Rücktrittsrede gefeilt.
Im Abgang stellten Kurz und sein Team noch einmal unter Beweis, wie es Ihnen gelingen konnte, sich erst in der ÖVP und dann im ganzen Land an die Spitze zu katapultieren: Die Rücktrittsrede ist auf den ersten Blick ein hochprofessionelles Stück politische Kommunikation. Wären da nicht die vielen entlarvenden Chats und Insider-Infos, die der glatt gebürsteten Selbstdarstellung widersprechen. Und die so immer mehr Zuhörer bewusst oder unbewusst als Untertitel zum Gehörten und Gesehenen setzen.
Die Rücktrittsrede von Sebastian Kurz
Eingebettet aus der ORF tv.thek; für die Wiedergabe müssen die entsprechenden Cookies akzeptiert werden.
Kurz spart nicht mit verbrämten Selbstlob. Die Selbstkritik bleibt wohldosiert und unkonkret. Sie geht über Gemeinplätze ("Ich bin weder ein Heiliger noch ein Verbrecher") nicht hinaus.
Handwerklich sitzt jeder Halbsatz. Sie hinterlässt gerade deswegen den schalen Nachgeschmack eines perfekt präsentierten Menüs an mundgerecht portionierten Marketinghäppchen.
Sanfte Baby-Kulisse,
brutale Partei-Realität
Sebastian Kurz suchte auch bei der Verkündigung seines kompletten Rückzug aus der Politik Drehbuch, Licht und Regie bis zum Schlusssatz nicht aus der Hand zu geben ("So, jetzt fahre ich ins Spital, um meine Sohn und meine Freundin abzuholen"). Selbst im Abgang will er signalisieren: Ich bin jetzt mal wirklich weg, aber nach meinen Spielregeln.
"Never miss a good opportunity", resümiert ein Regierungsinsider: "In ein paar Wochen hätte er die Geschichte, dass die Geburt seines Sohnes etwas in ihm verändert hat, nicht mehr erzählen können."
Josef Votzi zur ÖVP-Rochade
Josef Votzi im Interview mit PULS 24 Anchor Daniel Retschitzegger über die große ÖVP-Rochade und die Rücktritte innerhalb der ÖVP. Eingebettet von puls24.at für die Wiedergabe müssen die entsprechenden Cookies akzeptiert werden.
Kurz wollte noch im Abgang mit einem besonders selbstbewussten und ungewöhnlich privat konnotierten Auftritt vergessen zu machen, dass ihm das Gesetz des Handelns längst entglitten war.
Der als Überraschungscoup inszenierte Rücktritt entsprang weder einer spontanen Gefühlsregung noch war er Ergebnis einer persönlichen Schuld-Einsicht. Sebastian Kurz hatte keine andere Wahl mehr.
Die Alternative hatte Kurz selbst mehrmals miterlebt und im Fall Mitterlehner federführend betrieben: Die schmähliche Demontage auf Raten durch seine eigenen Parteifreunde.
Inszenierte Freiwilligkeit,
keine andere Wahl
Die Weichen dafür waren seit Anfang Oktober unverrückbar gestellt. Der grüne Vizekanzler Werner Kogler mit steirischen Wurzeln und der schwarze steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer hatten als Anführer einer grün-schwarzen Bund-Länder-Allianz dem Hausherren am Ballhausplatz signalisiert, dass ihm eine neuerliche Abwahl im Parlament – diesmal durch Rot-Grün-Pink-Blau – drohe.
Drei Tage davor war rund um die spektakuläre Hausdurchsuchung am Ballhausplatz ruchbar geworden: Kurz & Co sind nun auch wegen des Verdachts Inseraten-Korruption ins Visier der Justiz geraten. Für die Grünen war Kurz damit nicht mehr "handlungsfähig", sie wollten mit ihm als Kanzler nicht mehr weiterregieren.
Die schwarzen Länderchefs waren freilich nicht gewillt, deswegen die Regierung platzen zu lassen und eine saftige Abreibung bei Neuwahlen zu riskieren. Sie wollten im Fall der Kurz-Abwahl nicht gemeinsam mit ihm untergehen, sondern den Kanzlersessel für die ÖVP mit einer Neubesetzung zu retten.
Kurz liebäugelt wochenlang
mit Märyterer-Wahlkampf
Der türkise Messsias a. D. suchte dem "Verrat" der Hossiana-Rufer von gestern zuvorzukommen und sich mit einem Sidestep neu aufzustellen – dem Rückzug auf den Posten des Klub- und Parteichefs.
Statt eines Crashs samt Neuwahlen drohte nun aber ein Showdown in Zeitlupe. Ein neuer U-Ausschuss zur "ÖVP-Korruption" ist startklar. Dieser wird zwar von der Opposition eingesetzt, kann aber jetzt erst recht mit uneingeschränkter Unterstützung der Grünen rechnen. In der ÖVP wurde eine Sorge zur Gewissheit: Kurz wird im Gegenzug seinem Ex-Vizekanzler das politische Leben zur Hölle machen.
In der Pandemie-Politik taten Kurz & Co so auch mehr denn je alles, den Gesundheitsminister zum Sündenbock zu machen. Den schwarzen Peter für die vierte Corona-Welle fassten wegen der alten und neuen Grabenkämpfe im Bund aber zunehmend die Landeshauptleute aus. Die Sündenböcke hießen nicht Sebastian Kurz oder Wolfgang Mückstein, sondern Thomas Stelzer und Wilfried Haslauer.
Erst die Chats, dann die Hausdurchsuchungen und Justiz-Ermittlungen, jetzt auch noch die täglich neuen Bad News in Sachen Pandemie, die von Kurz & Co seit dem Sommer fahrlässig klein geredet worden war.
Die vierte Corona-Welle hat Sebastian Kurz nun schneller als von ihm selber erwartet endgültig aus der Politik katapultiert.
Umfrage-Absturz in Tirol und NÖ
bis 10 Prozentpunkten
"Die Verantwortung für die Botschaft, die Pandemie ist gemeistert, das hängen die Länder stark dem Kurz um", analysiert ein türkiser Minister. "Die Enttäuschung über die falschen Corona-Versprechen, die Wut und der Ärger über den neuerlichen Lockdown haben auf die jüngsten negativen Umfragewerte für die ÖVP massiv durchgeschlagen." Am stärksten ist aktuell der Kurz-Malus in Tirol messbar: Günther Platter, der 2023 Landtagswahlen zu schlagen hat, hat in einem traditionellen ÖVP-Kernland wie Tirol derzeit mit Stimmverlusten von zehn Prozentpunkten zu rechnen. Die Landeshauptmann-Partei ist in aktuellen Umfragen auf 35 Prozent abgestürzt.
An absolute Mehrheiten ist selbst im schwarzen Westen längst nicht mehr zu denken. Entsprechend alarmiert ist die Chefin der letzten ÖVP-Bastion, die noch absolut regiert wird. Niederösterreichs Johanna Mikl-Leitner ist es auch zur Überraschung mancher eigener Parteifreunde 2018 gelungen, die absolute Mehrheit ihres Vorgängers Erwin Pröll erfolgreich zu verteidigen. Im Augenblick müsste auch die machtbewusste niederösterreichische ÖVP, die in knapp einem Jahr wieder vor den Wähler zu treten hat, mit Stimmeinbrüchen von rund fünf Prozentpunkten rechnen.
Mikl-Leitner signalisiert Kurz:
Game over
Die niederösterreichische Landeshauptfrau hatte Sebastian Kurz schon rund um seinen Teil-Rücktritt Anfang Oktober wissen lassen, dass an die von ihm damals noch erhoffte baldige Rückkehr nicht zu denken sei.
Das Kurz-Team hatte aber unverdrossen das Drehbuch aus der Zeit nach dem Platzen von Türkis-Blau und der Abwahl im Parlament aus der Schublade geholt. Denn im innersten Kreis um Sebastian Kurz glaubten und hofften damals noch viele auf irgendein Signal der Reinwaschung durch die Justiz. Kurz plante im Oktober eine Comebacktour durch die Bundesländer: Als Probelauf für einen Märtyrer-Wahlkampf.
Die Pandemie machte den Türkisen auch hier einen Strich durch die Rechnung.
Zudem hatten immer mehr Landespolitiker keine Lust am massiv befleckten Heiland von gestern auch nur anzustreifen. Immer mehr ÖVP-Mächtige wollten auch nicht mit der Aussicht auf weitere Monate und wohl Jahre Powerplay zwischen Kurz und Justiz leben.
Kurz überreizt
seine letzten Spielkarten
Dazu kommt: Die Blitzrochade - Schallenberg Kanzler, Kurz Klubchef - war mit den Ländern nicht abgesprochen. Sie wurden damit kurz vor Bekanntgabe durch Kurz überrumpelt.
In der ÖVP ging bald die Sorge um: Statt des von Kurz erhofften Befreiungsschlags drohe nicht nur ein Dauermachtkampf Türkis-Grün, sondern auch einer in Türkis-Schwarz. "Kurz wird hin- und hergerissen bleiben zwischen Rachegelüsten und die Dinge am Laufen halten zu müssen. Irgendwann platzt diese Koalition. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dann Spitzenkandidat der ÖVP sein wird", analysierte ein weitblickender Türkis-Schwarzer schon unmittelbar nach der Hausdurchsuchung Anfang Oktober.
Nüchternes Kalkül von engen Parteifreunden: Selbst für den aktuell ausgeschlossenen Fall, Kurz würde es zum dritten Mal gelingen für die ÖVP den ersten Platz zu holen, würde er die ÖVP schnurstracks auf die verhasste Oppositionsbank führen.
Denn alle anderen Parteien haben sich festgelegt: Solange die beiden Justizverfahren nicht abgeschlossen sind, will keiner eine Koalition mit einem ÖVP-Kanzler Kurz eingehen.
Ein Verbleib von Kurz an der ÖVP-Spitze war daher für das Gros der ÖVP-Länderchefs ein Highway in die Sackgasse.
"Kurz hat sich mit seinem Wechsel auf den Sessel des Klubchefs nur Luft verschafft”, sagt ein langgedienter Spitzenschwarzer. Kurz musste schlussendlich auch selber einsehen: "Seine politische Karriere ist vorläufig zu Ende."
Der Autor
Josef Votzi
Josef Votzi ist einer der renommiertesten Politikjournalisten des Landes. Der Enthüller der Affäre Groër arbeitete für profil und News und war zuletzt Politik- und Sonntagschef des "Kurier". Für den trend verfasst er jede Woche "Politik Backstage".
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