Politik Backstage von Josef Votzi: "Seid ihr wahnsinnig?"
Wie es zum Impf-Showdown hinter verschlossenen Türen im Kanzleramt kam. Wo die Verträge der Pharma-Riesen mehr Spielraum als befürchtet bieten. Und warum Sebastian Kurz plötzlich auf Robin-Hood macht.
Bundeskanzler Sebastian Kurz in Diskussion mit EU-Amtskollegen: Wie kann es sein, dass einige Länder beim Impfen weitaus schneller vorankommen als Österreich?
Es ließ sich an wie einer jener Routinetermine, die im Wiener Regierungsviertel zum Alltag gehören. Zumal in einer Koalition, deren Partner aus derart gegensätzlichen Welten kommen wie Türkis und Grün.
Im Kanzleramt kamen Dienstag vor einer Woche die Kabinette des Regierungschefs und des Gesundheitsministers zusammen, um einmal mehr das leidige Thema Impfen zu besprechen. Vom Ballhausplatz ausdrücklich als Teilnehmer gewünscht war auch der oberste Impfkoordinator, Clemens Martin Auer. Das verhieß dann doch mehr als Routine.
Hie die Kanzleramtsvertreter, angeführt von den Kabinettschefs Bernhard Bonelli und seinem Vize Markus Gstöttner, die in ihren früheren Jobs bei Boston Consulting und McKinsey anderen Stil und Tempo gewohnt waren als in der Welt der Verwaltung. Dort die Delegation des Gesundheitsministeriums, angeführt von Clemens Martin Auer, dem in Kanzleramt schon seit Monaten etwas despektierlich nachgesagt wird, "mehr ein Theoretiker" zu sein.
Das Meeting stand auch aus einem anderen Grund unter einem schlechten Stern. Sebastian Kurz war am Wochenende zuvor von seinem gemeinsamen Flug mit der dänischen Regierungschef-Kollegin zu Benjamin Netanjahu zurückgekehrt. Mit dem Medienecho des weitgehend substanzlosen PR-Auftritts beim israelischen Ministerpräsidenten zum beiderseitigem Nutzen könnte er eigentlich zufrieden sein. Dennoch war er reichlich unrund mit der Frage an seine Mitarbeiter zurückgekommen: Wie kann es sein, dass einige Länder in Europa beim Impfen weitaus schneller vorankommen als Österreich? Mette Frederiksen hatte ihm nämlich stolz berichtet, dass Dänemark schon im Mai alle Impfwilligen immunisiert haben werde. In Österreich war, Stand vorletzte Woche, bestenfalls im Sommer damit zu rechnen. Das könne doch nicht nur am Vorsprung der Dänen bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems liegen?
Kurz: Bonus-Malus bei Impfdosen
bricht mit EU-Regeln
Die ursprüngliche Impflogistik der EU-Kommission war an sich unfallfrei aufgestellt: Jedes Land wird von jedem Impfstoff der diversen Pharmafirmen, den die EU im Namen aller aufkauft, nach dem Bevölkerungsschlüssel beliefert.
Dass einzelne Staaten den Plan unterliefen und aus Kostenüberlegungen oder Gründen des einfacheren Handlings ihr jeweiliges Kontingent bei einem der Impfstoffe nicht voll ausschöpften, erschien dennoch bislang nur wenigen Staatschefs als Problem. Österreich etwa hatte bei der entscheidenden Bestellrunde im Vorjahr mehr auf das alltagstauglichere AstraZeneka als auf - wegen der Kühlkette schwieriger zu behandelnde - Vakzine wie Biontech/Pfizer gesetzt. Weil Österreich mit mehr als 30 Millionen Dosen wie viele andere Länder auch aber ein Vielfaches des Bedarfs geordert hatte, sah sich die Regierung weiter auf der sicheren Seite.

Bundeskanzler Sebastian Kurz und seine dänische Amtskollegin Mette Frederiksen bei der Visite in Israel mit Premier Benjamin Netanyahu.
Im Kanzleramt beteuert man, dass man bis zum gemeinsamen Aus-Flug des Kanzlers mit der dänischen Kollegin nach Tel Aviv nichts von der Kehrseite der wählerischen Bestellpolitik gewusst habe: Wer weniger von dem, was ihm zusteht bestellt hat, fällt in der Auslieferungspraxis auch prozentuell um diesen Anteil an Impfdosen um. Wer an der Reste-Börse, EU-intern Basar gerufen, aber zusätzlich bestellt hat, erhält von jeder Auslieferungstranche entsprechend mehr. Das Modell der bevölkerungsgerechten Zuteilung droht so mit jeder neuen Lieferung quer durch Europa immer mehr durcheinander kommen – und damit auch das Tempo beim Impfen.
Wer aufs richtige Pferd gesetzt hat und überall zu hundert Prozent oder mehr zugegriffen hat, wird schneller fertig. Wer wählerischer war, kommt zwar am Ende auch auf seine bestellten Mengen, nur langsamer. Und droht damit später mit dem Impfen durch zu sein, einzelne Länder im schlimmsten Fall bis zu vier Monate.
Kanzler crasht Sitzung
mit Clemens Martin Auer
Reichlich Gesprächsstoff also für die Kabinetts-Runde Dienstag vor einer Woche im Kanzleramt. Schließlich ist Clemens Martin Auer nicht nur für den nationalen Impfplan zuständig. Er stellt als Co-Vorsitzender auch im sogenannten Steering Board, dem Lenkungsausschuss der EU-Kommission, in Sachen Verträge mit den einzelnen Pharmafirmen und Regelung der Verteilung an die Mitgliedsländer mit die Weichen.
Sebastian Kurz, von jeher vom Virus der Kontrollsucht und Ungeduld nachhaltig angekränkelt, entscheidet sich kurzfristig, nicht wie üblich abzuwarten, was ihm seine Mitarbeiter aus der Sitzung berichten. Der Kanzler crasht das Meeting und übernimmt selber die Leitung der gemeinsamen Aussprache. Diese wird rasch sehr emotionell. Auer habe auf Fragen, wie es denn EU-weit zu diesen negativen Effekten kommen könne, erst abgewiegelt. Und, so ein Teilnehmer, auch mangelndes Engagement beim möglichen Zukauf von Dosen zur Tempobeschleunigung beim Impfen in Österreich in Abrede gestellt.

Clemens Martin Auer wurde als österreichischer Vetreter aus dem EU-Impfgremium abgezogen.
Als dann auch noch seitens des – bislang von schwarzen und roten Gesundheitsministern geschätzten - Spitzenbürokraten der Satz gefallen sein soll, auf ein, zwei Wochen komme es am Ende auch nicht an, sei Sebastian Kurz sehr laut geworden, berichtet ein Teilnehmer. Schreien oder gar brüllen hätten sie den Kanzler noch nie gehört, auch in diesem Fall nicht, versichern seine Mitarbeiter.
Mehrfach verbürgt ist aber, dass aus dem Mund von Kurz deftige Sätze wie diese Richtung Clemens Martin Auer und seiner Steering-Board-Kollegen fielen: "Seid ihr wahnsinnig?"
Für die Kanzler-Truppe stand das Urteil rasch fest: Das Steering Board und Clemens Martin Auer hätten mehrfach eigenmächtig gehandelt. Zum einen, weil der Bevölkerungsschlüssel bei der Lieferung nicht mehr im exakt gleichen Ausmaß wie bei der Bestellung zählte. Zum anderen, weil Auer als Vertreter Österreichs - durch Verzicht anderer Länder - freigewordene Impfdosen weder aufgekauft noch über die Kaufoption informiert habe.
Grüne: "Kurz-Vorstoss
richtig, aber überzogen"
Auer stand schon einmal auf der türkisen Abschussliste, weil der heimische Impfstart in Alten- und Pflegeheimen nach dem EU-weiten Startschuss am 27. Dezember in seinem Impfplan zwei Wochen auf sich warten lassen sollte.
Rudolf Anschober kam da heftigen Zurufen der Türkisen nach sofortiger Entmachtung Auers noch nicht nach. Auf Rückdeckung aus dem grünen Gesundheitsministerium konnte der schwarze Beamte nach dem Impf-Showdown im Kanzleramt aber nicht mehr zählen. Zumal auch die grünen Regierungsspitzen versichern, dass ihnen dieser Brems-Effekt bei der Impfstoffauslieferung für wählerische Besteller bis vor kurzem unbekannt gewesen sei.
"Der Vorstoß von Kurz war richtig, aber er war in der Dimension völlig überzogen" sagt ein Spitzen-Grüner."Auer hat auf die Gesamtmenge geschaut und nicht auf Liefergeschwindigkeit." Der innerösterreichische Hauptvorwurf gegen ihn, 100.000 kaufbare Dosen nicht beschafft zu haben, so ein Grüner, mache zudem "bei der derzeitigen Impfgeschwindigkeit maximal zwei Tage Unterschied aus".
Rasanter Posenwechsel: Aufdecker,
Robin Hood, Deus ex machina
Inzwischen wurden im Gesundheitsministerium auch die zugänglichen Teile der Pharma-Verträge durchgeackert.
Ob auf Wunsch der Produzenten vertragsgemäß nach dem Bestellmodus ausgeliefert werden muss oder nicht, ist nach Meinung der Ressortjuristen nicht eindeutig geregelt. "Es besteht also politischer Spielraum, mögliche Verzerrungen auszugleichen", so ein Insider.
Die Kanzler-Truppe hält sich einmal mehr nicht mit solchen Feinheiten auf, sondern spult inzwischen längst ein Drehbuch ab, das für immer mehr Zuseher an der Schmerzgrenze schrammt. Die Kritik von Kurz hat zwar einen richtigen Kern. Die Begleitmusik wird aber immer schriller: Aus einem simplen EU-Gremium wird ein finsterer Basar. Die im Wirtschaftsleben übliche Vertraulichkeit von Vertragsdetails wird zu sinistren Geheimabsprachen.
Der Kanzler wechselte binnen einer Woche in einem Tempo die Posen wie Jörg Haider einst an einem einzigen Tag je nach Publikum vom Kärntner Anzug in Designer-Klamotten: Erst der Aufdecker finsterer Machenschaften von EU-Gesundheitsbeamten. Dann der Robin Hood der entrechteten ehemaligen Kronländer. Schließlich der Deus ex machina aus dem heimischen Impfchaos.

Warten auf den Stich: Die Impfstraßen sind angelegt, fehlt nur noch die ausreichende Menge an Impfstoff.
Einen auch hierzulande greifbaren Erfolg können aber auch die heftigsten Kritiker Kurz nicht nehmen: Die EU-Kommission verspricht, so der Kanzler, demnächst ein paar hunderttausend Extra-Dosen des im Moment am besten beleumundeten Impfstoff von Biontech/Pfizer freizuschaufeln. Der Plan, bis Anfang des Sommer mit dem Impfen durch zu sein, könnte so trotz befürchteter Rückschläge halten.
Der größte Kollateralnutzen geht an Bulgarien: Das Land kann zeitnah mit bis zu zwei Millionen Dosen mehr rechnen. In der Wirtschaftskammer träumen einige schon davon, den Dank für den Impf-Turbo, den Kurz angeworfen hat, im Windschatten des Kanzlers bei einem demnächst fälligen Staatsbesuch in Sofia abholen zu können.
"Hut ab, wie er das hingekriegt hat", zollt ihm auch ein Spitzengrüner hinter den Kulissen Lob, "Wenn er was will, dann haut er sich rein. Der Hebel, binnen weniger Tage ein paar europäische Regierungschefs dafür auf seine Seite zu ziehen, hat auch für Österreich etwas gebracht."
Fakt ist für den grünen Regierungspartner aber auch: Die Hyperaktivität von Kurz & Co hat einen sehr persönlichen Grund. Die wochenlange Kritik am Impftempo und die breite Corona-Müdigkeit schlägt in den Umfragen immer deutlicher auf die einst strahlenden Image-Werte des Kanzlers durch.
"Kurz kommt mir immer öfter wie ein Chefredakteur einer Boulevard-Zeitung vor, der immer schrillere Schlagzeilen braucht, damit die Auflage nicht weiter sinkt", analysiert ein Regierungsinsider: "Das passt für ein bestimmtes Publikum, stößt ein anderes aber noch mehr ab. Alles in allem befeuert es die Polarisierung und Spaltung des Landes. Schuld sind immer die anderen, nur er allein will wieder als strahlender Held aussteigen."
Der Autor
Josef Votzi
Josef Votzi ist einer der renommiertesten Politikjournalisten des Landes. Der Enthüller der Affäre Groër arbeitete für profil und News und war zuletzt Politik- und Sonntagschef des "Kurier". Für den trend verfasst er jede Woche "Politik Backstage".
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