
Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz am „Tag danach": Eine neue Rolle als „besorgter Bürger".
©APA/HANS KLAUS TECHTDer Freispruch für Sebastian Kurz im Prozess wegen falscher Zeugenaussage befeuert türkise Hoffnungen und Phantasien. Optimisten glauben gar, dass es in der Inseratenaffäre nicht mehr zu einem Prozess kommt. Der Ex-Kanzler prophezeit für den Fall des Falles vollmundig, neuerlich unbeschadet davonzukommen.
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- Kurz-Truppe rechnete mit Strafurteil-Bestätigung
- ÖVP-Spitzen und Kurz-Weggefährten feierten Freispruch bis zwei Uhr früh
- Statt Racheengel in der Pose des besorgten Staatsbürgers
- Fahndung nach Sachbeweisen in Sachen Inseratenkorruption
- Sorge vor Bonelli-Schicksal geht um
- „Comeback-Phantasien bei Laune halten“
Gernot Blümel nutzte am späten Montagvormittag die Pause bei einem Businesstermin in Deutschland, um am Handy nachzusehen, was es in der Welt und an diesem Tag vor allem im Justizpalast in Wien Neues gibt. Der Ex-Finanzminister, der Zeit seines Politikerlebens eher nicht für Drama-Queen-Auftritte stand, brach in Jubelschreie aus, als er die Nachricht las: Freispruch für Sebastian Kurz im Falschaussage-Prozess.
Blümel, dessen Justizverfahren in eigener Sache allesamt eingestellt sind, ließ fern der Heimat seinen Emotionen derart freien Lauf, dass er sich seiner Umgebung umfassend erklären musste.
Im Großen Saal, Zimmer 2056, im zweiten Stock des Justizpalastes in Sichtweite des Parlaments, war zeitgleich bei Sebastian Kurz und seinen Anwälten zwar Erleichterung auszumachen, von Freudengesten oder gar mehr aber keine Spur. Der eben – von einer in erster Instanz ausgesprochenen bedingten Strafe von acht Monaten – freigesprochene Ex-Kanzler wandte sich an seinen Ex-Kabinettschef und nunmehrigen Büropartner Bernhard Bonelli, um diesen kurz an sich zu drücken. Dessen Urteil – sechs Monaten bedingt wegen falscher Zeugenaussage vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss – war vom Drei-Richter-Senat unter Vorsitz von Werner Röggla bestätigt worden.
Kurz-Truppe rechnete mit Strafurteil-Bestätigung
Die unterkühlte Reaktion hatte nicht allein mit dem Bonelli-Wermutstropfen zu tun, sondern vor allem einen Grund: Mit einem glatten Freispruch hatten Kurz & Co. schlicht nicht gerechnet. Alle im Vorfeld durchgespielten Szenarien, wie auf den Spruch des Oberlandesgerichts am besten reagiert werden sollte, waren auf eine Bestätigung oder eine Modifikation des Urteils abgestellt.
Noch im Gerichtssaal zogen sich Kurz, Bonelli, die Anwälte und Kommunikationsexperten in eine Ecke zurück, um gut zehn Minuten über eine angemessene Reaktion auf den überraschenden Urteilsspruch zu beraten.
Das Ergebnis war ein sehr knappes Statement: „Sie haben die letzten Jahre in voller Breite mitbekommen. Ich war jahrelang mit Vorwürfen konfrontiert. Das alles ist jetzt in sich zusammengebrochen.“ Die Bestätigung des Urteils für „seinen Freund“ Bernhard Bonelli bedaure er „zutiefst“, so Kurz, und eilte zu seiner Limousine, einem schwarzen Audi A8 L,
mit der Ankündigung, nun zu seiner Familie aufzubrechen, zumal er erst wenige Tage zuvor zum zweiten Mal Vater geworden ist.
ÖVP-Spitzen und Kurz-Weggefährten feierten Freispruch bis zwei Uhr früh
In seinem Wiener Büro knallten an diesem Tag im Lauf des Abends nicht etwa die Sekt- oder Champagnerkorken. Im vierten Stock der ehemaligen ÖAMTC-Zentrale am Wiener Schubertring wurden „schwerere Geschütze“ wie Negronis und Gin-Tonic, so ein Teilnehmer, aufgefahren. Angeführt von ÖVP-Spitzenleuten wie Klubchef August Wöginger, Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig und Bauernbunddirektor Paul Nemecek hatten sich im Verlauf des Abends an die hundert ehemalige und aktuelle Weggefährten, Klubmitarbeiter und Abgeordnete zum Feiern des Freispruchs eingefunden – Sperrstunde war erst gegen zwei Uhr früh.
Statt Racheengel in der Pose des besorgten Staatsbürgers
Wenige Stunden danach wurde eines der Büros leergeräumt und für eine Pressekonferenz adjustiert. TV-Kamera-gerecht wurde hinter dem obligaten Stehpult für Kurz auf einem Büroschrank ein von gedeckten weißen Farben dominiertes modernes Gemälde drapiert.
Vor diesem Symbol der Unschuld präsentierte sich der türkise Parteichef außer Dienst nicht als Racheengel, sondern als besorgter Staatsbürger: ob des politischen Umgangs miteinander, wo, so seine Worte, „Anzeigen mehr zählen als Argumente“. Und ob des „unglaublichen Aufwands“ und der außerordentlichen Länge von Justizverfahren.
Auch in dem noch offenen Verfahren rund um den Verdacht der Inseratenkorruption gegen Kurz und einige seiner engsten Mitstreiter „kommen immer neue Vorwürfe“, beklagt
Kurz.
Der weitaus komplexeren Causa, in der sein Ex-Weggefährte Thomas Schmid als Kronzeuge der Anklage fungiert, prophezeit Kurz, selbstbewusster denn je, das gleiche Schicksal wie der Falschaussage-Causa. Der Ex-Kanzler im O-Ton: „Das Ergebnis wird sein wie in diesem Fall. Es wird in sich zusammenbrechen.“
Die Meinungen von Kennern des bereits rund 5.000 Seiten umfassenden Ermittlungsakts gehen hier allerdings noch diametral auseinander. In Wiener Anwaltskreisen mehrten sich zuletzt die Mutmaßungen, dass eine Anklageschrift schon demnächst den Instanzenzug der Freigabekette Richtung Oberstaatsanwaltschaft, Justizministerium, Weisungsrat und retour nehmen werde.
Noch werden freilich nach wie vor mögliche Beweismittel gesucht. Die Hausdurchsuchungen in den Verlagsräumlichkeiten der Boulevardmedien „Österreich“ und „Heute“ liegen zum Teil bereits einige Jahre zurück. Die sichergestellten Daten werden nach wie vor in einem sogenannten Sichtungsverfahren Stück für Stück dahingehend geprüft, ob der jeweilige Inhalt dem Redaktionsgeheimnis unterliegt. Diese diffizile Aufgabe obliegt einem Haft- und Rechtsschutzrichter. Erst nach Freigabe durch diesen können allfällig verfahrensrelevante Daten zum Ermittlungsakt genommen werden.
Fahndung nach Sachbeweisen in Sachen Inseratenkorruption
Die Herausforderung für die Anklagebehörde: Finden sich zusätzlich zu den belastenden Aussagen der Kronzeugen Sabine Beinschab und Thomas Schmid auch Sachbeweise, die den Vorwurf der Inseratenkorruption bei Kurz & Co. gerichtsfest mit Ross und Reiter belegen?
Kurz-Kenner, die um seine Vorsicht auch im Umgang mit SMS und Mails wissen, wären von einschlägigen Fundstücken extrem überrascht. Optimisten im türkisen Milieu glauben gar, dass sich die Ermittlungen zwar noch lange ziehen werden, aber mangels Sachbeweismasse mit einer Einstellung enden könnten: „Eine neuerliche Blamage im Fall Kurz werden die Staatsanwälte nicht riskieren.“
Im Kurz-Lager orten einige zudem abnehmenden Eifer bei den Ermittlungen. Seien Einvernahmen bis vor kurzem ausschließlich von den Oberstaatsanwälten der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft durchgeführt worden, würden diese zuletzt zunehmend an Beamte des BAK, des Bundesamts zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung, delegiert. „Die erledigen das pflichtgemäß, aber verstehen gelegentlich nicht alle Fragen, die ihnen aufgetragen wurden“, so ein türkiser Insider.
Sorge vor Bonelli-Schicksal geht um
Stoff zum Grübeln gibt den Nachdenklicheren in Türkisistan freilich die Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils bei Bernhard Bonelli.
Der studierte Philosoph und ehemalige Boston-Consulting-Berater zählt nach wie vor zu den engsten Vertrauten und Mitarbeitern von Kurz. Seine in, so ein Bonelli-Kenner, „falsch verstandener Loyalität und Nibelungentreue zu Kurz“ begründete Verwicklung in das Falschaussage-Verfahren hatte den ehemaligen Kurz-Kabinettschef und vierfachen Vater noch vor seiner nun rechtskräftigen Verurteilung mehr als nur persönliches Prestige gekostet.
Nach seinem Abgang gemeinsam mit Kurz vor dreieinhalb Jahren aus dem Kanzleramt waren hochfliegende Pläne zur Gründung eines millionenschweren Start-up-Fonds geplatzt. Die Luxemburger Geldgeber wollten von Bonellis Anwälten eine Bescheinigung, dass der bereits absehbare Prozess wegen falscher Zeugenaussage mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent mit Freispruch endet. Andernfalls müssten sie ihre Finanzierungszusagen zurückziehen. Eine solche Bescheinigung konnte Bonelli nicht beibringen und musste sich so auch wirtschaftlich weiter an Kurz binden.
Bonelli fungiert auch im neuen Unternehmerleben des Ex-Kanzlers primär als Troubleshooter – und neuerdings auch als Geschäftsführer des Wien-Büros des israelischen Cybersecurity-Unternehmens Dream, an dem Kurz mit 15 Prozent beteiligt ist und dessen Umsatz zuletzt mit 100 Millionen Euro angegeben wurde.
„Comeback-Phantasien bei Laune halten“
„Solange das Verfahren wegen Inseratenkorruption wie auch immer abgeschlossen ist, wird Kurz die Comeback-Phantasien mit regelmäßigen Auftritten bei Laune halten, aber sich hüten, vorzeitig sein Pulver zu verschießen“, sagt ein langjähriger Kenner des türkisen Innenlebens. Für den Fall des Falles steht der Kern der Kurz-Prätorianer aber mehr denn je Gewehr bei Fuß.
Als sich dieser Tage innenpolitische Berichterstatter in Kurz’ Büro zu dessen Prozess-Bilanz am Wiener Schubertring einfinden, kommt einmal mehr bald das Feeling einer türkisen Büro-Wohngemeinschaft auf. Nach und nach zeigen sich viele in ihrem neuen Habitat, die in der Ära Kurz eine tragende Rolle spielten: von Ex-Finanzminister Gernot Blümel über Ex-Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger bis Ex-Kanzler-Sprecher Hannes Frischmann.