Aufräum-Kommando [Politik Backstage von Josef Votzi]
Corona und Kurz hinterlassen nicht nur in der ÖVP einen Scherbenhaufen. Wie Karl Nehammer aus der Not der Entmachtung durch die Länderfürsten eine Tugend machen will.
Es ist Mittwoch, kurz vor zehn Uhr. In fünf Minuten soll der Ministerrat starten, seit Ausrufung des vierten Lockdowns einmal mehr virtuell. Leonore Gewessler greift zum Handy, um vor dem digitalen Zusammentreffen die Nummer von Gernot Blümel anzuwählen. Eine Stunde zuvor hatte die grüne Infrastruktur- und Umweltministerin ihr Njet zum Bau der Lobau-Autobahn verkündet.
Als Eigentümervertreterin der staatlichen Asfinag hat sie zwar das Recht, alte Ausbaupläne neu zu bewerten. Für die Umwidmung von Geldern für allfällige Alternativprojekte braucht sie allerdings die Zustimmung des Finanzministers.
Gewessler weiß zudem, dass sie mit diesem Nein ihr Blatt massiv ausgereizt hat. Sie ist damit auch zum Feindbild für Rot und Schwarz in Wien geworden, wo Rathaus und Wirtschaftskammer den Autobahnausbau zur Fahnenfrage gemacht haben. Eine dauerhafte Verstimmung mit Gernot Blümel, der sowohl im Finanzressort als auch in der Wiener ÖVP das Sagen hat, würde sie bald zu einer Ministerin ohne Mittel machen.
Gewessler konnte noch nicht wissen, dass die nachträgliche Unterwerfungsgeste vollkommen sinnlos ist. Gernot Blümel hatte da längst andere und persönlich entscheidendere Sorgen.
Es ist die erste Ministerratssitzung im Dezember. Einen Tag danach erklärt Sebastian Kurz seinen kompletten Rückzug aus der Politik. Am gleichen Abend verkündet auch sein "Best Buddy" seit Junge-ÖVP-Tagen, Gernot Blümel, den Abgang aus allen Ämtern.
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Die neue Schattenobfrau
Binnen nicht einmal 24 Stunden werden in der gesamten ÖVP die Karten komplett neu gemischt. Niederösterreich gibt nicht mehr nur hinter den Kulissen den Ton an. Die letzte schwarze Bastion mit absoluter Mehrheit besetzt ab sofort mit Kanzleramt, Innen- und Verteidigungsministerium drei zentrale Schlüsselpositionen im Land. Das schwarze Kernland gibt auch politisch die Richtung vor. Der Absturz von knapp 38 Prozent bei der letzten Wahl Richtung 20 Prozent in jüngsten Umfragen und der plötzliche Abgang des gefallenen Hoffnungsträgers lösen in der ganzen ÖVP Panikattacken aus. Das lässt Niederösterreichs Landeshauptfrau das Schlimmste für ihren ersten Wiederwahltermin im Jänner 2023 fürchten.
Johanna Mikl-Leitner übernimmt daher als schwarze Trümmerfrau das Kommando. Parole: Koste es, was es wolle. Jetzt gehe es darum, die ÖVP nach dem Höhenflug der Ära Kurz vor Chaos und Zerfall zu retten. Angesagt ist ab sofort das Aus für das türkise Experiment. Die von Kurz & Co. ausgerufene "Bewegung" war ohnehin immer mehr Chimäre und Claqueur-Kulisse bei Wahlkampfauftritten.
Sebastian Kurz setzte alles auf ein gutes Dutzend engster Getreuer im Kanzler-Kabinett und in der Parteiführung. Und auf jene handverlesene Hundertschaft türkiser Gefolgsleute, die der heimliche "Personalchef" der Türkisen, Axel Melchior, in den letzten Jahren lautlos, aber konsequent an den Schaltstellen der Republik platziert hatte.
Türkiser Ballast
Das Gros der türkisen Kurz-Prätorianer bleibt. Einige wechseln gar direkt ins Nehammer-Kabinett, ein paar werden auf Schattenplätzen geparkt - etwa Kurz' Medienbeauftragter Gerald Fleischmann als "Referent für alle möglichen Themen" im Parlament. Fix ist bisher nur der Abgang eines Kurz- Schlüsselspielers, seines Kabinettschefs Bernhard Bonelli. Der gelernte Philosoph und frühere Boston-Consultig-Manager war zuletzt dessen engster Vertrauter.
Ihm sagen selbst die Grünen überwiegend Gutes nach. "Bonelli war auch bei schweren innerkoalitionären Konflikten mit Kurz immer der, der an Lösungen interessiert war und dazu auch sehr viel beigetragen hat", sagt ein teilnehmender Beobachter. "Ohne Bonelli, Koglers Kabinettschef Wallner und die Achse Wöginger-Maurer hätte die Regierung schon das erste Pandemiejahr nicht überlebt." Bonelli wurde von Mikl-Leitner & Co. freilich ähnlich wie Gernot Blümel als Ballast für den verzweifelt ausgerufenen Neustart gesehen.
Beide werden von der Justiz als Beschuldigte geführt. Beide glauben zwar mehr denn je, gute Chancen zu haben, dass ihre Verfahren eingestellt werden. Nehammer & Co. können und wollen aber kein zusätzliches Risiko eingehen. Spätestens ab März wird ein Untersuchungsausschuss im Parlament die Ära Kurz neuerlich scharf ins Visier nehmen. "Niemand kann sagen, was noch an Chats auftaucht", sagt ein Spitzen-ÖVPler. " Jeder neue Chat und jeder neue Akt, der im U-Ausschuss landet, würden beim Verbleib der engsten Kurz-Vertrauten so auch eine Belastung für Nehammer. Mit dem personellen Schlussstrich kann auch die politische Abgrenzung und ein Neustart leichter gelingen."
Als Vorbild wird ÖVP-intern mit einer Mischung aus Verwunderung und Bewunderung die FPÖ genannt.
Mit dem Abgang von Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus haben es die Blauen in der Tat binnen weniger Monate nicht nur geschafft, den Ibiza-Skandal abzuschütteln. Es ist der FPÖ das kecke Kunststück gelungen, sich im Ibiza-Untersuchungsausschuss, der ursprünglich dem blauen Sumpf gewidmet war, als Aufdecker und Saubermacher zu inszenieren.
Die neue ÖVP-Schattenobfrau Johanna Mikl-Leitner gab intern so schon nach der spektakulären Hausdurchsuchung am Ballhausplatz die Parole aus: Alle Beteiligten müssten "ein Zeichen der Einsicht und der Demut setzen". Mit dem Abgang von Sebastian Kurz und einiger engster Mitstreiter von der Vorderbühne scheint der Mikl-Doktrin vorläufig Genüge getan. "Der Karl hat gar keine andere Wahl, als mit den vielen Leuten weiterzuarbeiten, die Kurz in den Ministerien und in der Partei installieren ließ", merkt ein Regierungsinsider nüchtern an.
Der neue ÖVP-Hausherr am Ballhausplatz sucht sich so gleich am Beginn zumindest im Stil von seinem Vorgänger abzugrenzen. Sebastian Kurz hätte noch vor Amtsübernahme erst die Boulevardmedien mit Zitathäppchen versorgt und danach mit Serieninterviews für breitflächige Präsenz gesorgt.
Erwin-Pröll-Ziehsohn Karl Nehammer
Nehammer verbrachte den Großteil seiner politischen Karriere bislang hinter den Kulissen. Er ist ein politisches Ziehkind von Erwin Pröll. Nehammers Eltern sind mit den Prölls seit Jugendtagen befreundet. Der niederösterreichische Landesfürst ebnete Nehammer junior den Weg zu Jobs in der ÖVP, als Rhetorik-Trainer und kommunalpolitischer Referent der NÖ-ÖVP lernte er eine ganze Generation von Funktionären und Gemeindepolitikern kennen. Seine ersten Sporen bei Kurz verdiente sich Nehammer als Parteimanager im jüngsten Wahlkampf 2019 nach dem Platzen von Türkis-Blau.
Trotz Rhetorik-Ausbildung - oder auch wegen des sichtlichen Bemühens, dieser Genüge zu tun - wirkt Nehammer bei öffentlichen Auftritten nach wie vor hölzern. Im kleinen Kreis, wo kein Imponiergehabe gefragt ist, wirkt Nehammer verbindlicher und empathischer. Rudolf Anschober, der als Ex-Integrationslandesrat mit dem Ex-Bundesheeroffizier das hochsensible Kapitel Flucht und Migration zu verhandeln hatte, schwärmt intern noch heute vom "konstruktiven Verhandlungsstil" seines türkisen Gegenübers. "Was mit Nehammer gelungen ist, hätten wir mit Kurz als Gegenüber nie zusammengebracht", ließ Anschober wiederholt im kleinen Kreis wissen.
"Konsens-Karl" mit zwei Gesichtern
Das Narrativ von Konsens-Karl beherrscht auch die Erwartungen von Spitzen-Grünen an dessen Rollenverständnis als Kanzler. "Er agiert weniger von oben herab und weiß, dass zur Politik gehört, das Gespräch nach allen Seiten zu suchen."
Am ersten Arbeitstag stand in der Tat nicht Schlagzeilenproduktion, sondern Kontaktpflege hinter den Kulissen an.
Einer dieser Termine machte die zwei Gesichter des neuen ÖVP-Chefs plakativ offenbar. Im Wien-Wahlkampf hatte der damalige Innenminister - im Auftrag von Kurz - das Ressort mitten im Wahlkampf als Bühne für gezielte Attacken gegen die Coronapolitik von Michael Ludwig & Co. benutzt.
Gut ein Jahr danach lud Nehammer den Wiener Bürgermeister noch am Antrittstag spätabends zum Gespräch ins Kanzleramt ein. Der türkise Regierungschef kontaktierte gleich nach Amtsantritt auch alle Oppositionschefs. Die mahnenden Worte des Bundespräsidenten ("die Regierung muss der Bevölkerung reinen Wein einschenken und für eine gemeinsame Kommunikation sorgen") hatten Nehammer noch einmal deutlich gemacht: Der weitere Umgang mit der Pandemie wird zur entscheidenden Bewährungsprobe für das Kabinett Nehammer.
Die Weichen für die Aufhebung des Lockdowns durch den Bund ab dem dritten Adventssonntag waren durch die Landeshauptleute bereits gestellt. Auch das genaue Wann und Wie überlässt Nehammer von Anbeginn an den Ländern. Die Crux liegt aber mehr denn je in nachvollziehbaren Regeln und nachhaltigen Kontrollen (diese wesentlichen Detailfragen wurden erst nach Redaktionsschluss entschieden).
Klar ist: Der von den Länder-Kurfürsten eingesetzte türkis-schwarze Vormann am Ballhausplatz versucht erst gar nicht, sich von der wiedererstarkten Länderphalanx zu emanzipieren. Nehammer macht aus der Not des neu eingegrenzten Machtradius eine Tugend, die auch besser zu ihm selber passt. Er inszeniert sich von Anfang an nicht als Macher, sondern als Moderator - sowohl in der ÖVP als auch im Kanzleramt. In der Partei sucht Nehammer die Türkisen mit der Kür des aktuellen JVP-Führungsduos Claudia Plakolm und Laura Sachslehner, beide in den Mittzwanzigern, bei der Stange zu halten. Am Ballhausplatz will er sogar dem selbst ernannten Fake-News-Propagandaminister Herbert Kickl die Hand zum Dialog reichen. Ein herausfordernder Spagat mit offenem Ausgang.
Fix ist so bislang nur: Karl Nehammer ist gekommen, um länger zu bleiben als Alexander Schallenberg. Der Ex-Innenminister war im Kreise der ÖVP-Länderchefs schon als Kurz-Nachfolger im Gespräch, als dieser auf Druck der Grünen den Kanzlersessel räumen musste.
Schallenberg-Kür beschleunigt Aus für Kurz
Kurz entschied sich aber für den leichtgewichtigeren Ersatzmann Schallenberg, der mangels innenpolitischer Erfahrung einfacher zu steuern schien. Genau das machte dieser - von Kurz überfallsartig eingefädelten - ÖVP-Doppelspitze binnen weniger Wochen den Garaus.
Als Mitte November wegen der explodierender Infektionszahlen ein neues Corona-Drama drohte, reiste Alexander Schallenberg zur Landeshauptleutekonferenz an den Tiroler Achensee an. Im Gepäck hatte er die Order von Kurz, lediglich regionalen Lockdowns, aber keinesfalls einem nationalen zuzustimmen. Am Ende musste Schallenberg unter Druck einer rot-schwarzen Länderallianz mit zwei zentralen türkisen Versprechen brechen: kein Lockdown, keine Impfpflicht.
Die schwarzen Länderchefs reisten vom Achensee zudem mit dem festen Vorsatz ab: Ein derartig mühseliges nächtliches Bund-Länder-Tauziehen mit einem steinernen Gast Sebastian Kurz am Verhandlungstisch wollen sie sich nie mehr antun. So entschieden sie, ohne es wie Kickl zu sagen: Kurz muss ganz weg. Der Messias a. D. trat die Flucht nach vorne an und nutzte die Geburt seines Sohnes zu einem wohl inszenierten Abgang als frisch entflammter Vater.
Der Autor
Josef Votzi
Josef Votzi ist einer der renommiertesten Politikjournalisten des Landes. Der Enthüller der Affäre Groër arbeitete für profil und News und war zuletzt Politik- und Sonntagschef des "Kurier". Für den trend verfasst er jede Woche "Politik Backstage".
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