
Gastkommentar: Das geopolitische Machtspiel zwischen Washington, Moskau und Neu-Delhi trifft Europa über Energie, Handel und Sicherheit. Warum strategische Eigenständigkeit jetzt wirtschaftlich entscheidend ist, analysiert Experte Bernhard Müller.
Das am 8. August auslaufende Ultimatum der USA an Russland beeindruckt den Kreml kaum. In Europa wächst vielmehr die Sorge, dass Washington – insbesondere Präsident Trump – das Interesse an einer konsequenten Russland-Strategie verliert, wenn kein schneller „Deal“ gelingt. Genau darauf setzt Putin: Ein Rückzug der US-Unterstützung würde Europas sicherheitspolitische Schwäche offenlegen und Russland neue Spielräume verschaffen. Trumps jüngste Zölle gegen Indien zeigen zudem, wie abrupt US-Handelspolitik globale Märkte und Lieferketten beeinflussen kann.
Energie: Teure Alternativen, hohe Abhängigkeit. Im August 2024 stammten rund 82 % der österreichischen Gasimporte aus Russland – eine Abhängigkeit, die auch Anfang 2025 kaum sinkt. Zwar gibt es Alternativen wie norwegisches Pipelinegas, Lieferungen aus Aserbaidschan oder mehr Flüssigerdgas (LNG) aus den USA, Katar oder Algerien, doch diese sind teurer, logistisch herausfordernd und oft unsicherer. Die jüngsten US-Zölle auf Importe aus Indien, einem der wichtigsten Abnehmer russischen Gases, könnten den globalen Gasmarkt zusätzlich destabilisieren. Wenn Indien russisches Gas aufgrund von Zöllen weniger nachfragt, könnten größere Mengen auf den europäischen Markt drängen – was kurzfristig die Preise senkt, mittelfristig aber zu neuen Unsicherheiten und Preisschwankungen führen dürfte. Für energieintensive Branchen wie Stahl, Chemie oder Glas bedeutet das steigende Kosten, Volatilität und Versorgungsrisiken. Unternehmen müssen noch flexibler auf Preissprünge und Lieferengpässe reagieren, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.
Verteidigung: Interesse wächst, Zugang bleibt schwierig. Die österreichische Industrie ist spezialisiert und exportorientiert, liefert Schlüsseltechnologien für internationale Rüstungsvorhaben. Auch immer mehr heimische Unternehmen aus zivilen Branchen interessieren sich für den Einstieg ins Defense-Geschäft. Der Zugang zu den globalen Lieferketten großer Rüstungshersteller (OEMs) bleibt jedoch schwierig: Bei Engpässen beliefern NATO-Staaten meist zuerst ihre Bündnispartner, und Österreich hat seit den 1990ern wenig ins Bundesheer investiert. Das führt zu längeren Lieferzeiten, geringerer Priorität und erschwerten Marktzugängen. Industriekooperationen sind daher entscheidend – werden große militärische Systeme im Ausland beschafft, sollte das genutzt werden, um heimische Betriebe in internationale Netzwerke einzubinden. Ohne solche Vereinbarungen droht Österreich am Rand der Lieferketten zu bleiben. Auch die Neutralität setzt Grenzen, etwa bei Exporten und Re-Exporten von Rüstungsgütern.
Eine Stärke Österreichs liegt im Bereich Dual-Use-Technologien – etwa Drohnen, Robotik oder innovative Materialien. Gerade wenn die US-Unterstützung für Europa nachlässt und Exportrestriktionen zunehmen könnten, gewinnen solche flexiblen Technologien an Bedeutung: Sie sind weniger anfällig für Beschränkungen und können international breiter vermarktet werden. Das verschafft der heimischen Industrie zusätzlichen Spielraum und stärkt ihre Resilienz. Werden Sanktionen verschärft oder die Energieversorgung unsicherer, steigen die Risiken für Produktionsstopps und höhere Logistikkosten, besonders für energieintensive Unternehmen.
Sicherheitsarchitektur: Europas strategischer Spagat. Europa bleibt stark von den USA abhängig – sicherheits- wie energiepolitisch. Sanktionen, Waffenlieferungen und diplomatische Initiativen werden in Washington entschieden. Sollte Trump Europa erneut als „nasty“ einschätzen, könnten Rückhalt und Geschlossenheit bröckeln. Putin spekuliert darauf, gezielt einzelne EU-Staaten durch Energiepolitik oder hybride Einflussnahme zu destabilisieren – das heißt Russland nutzt Cyberangriffe, Fake News und wirtschaftlichen Druck, um Europa gezielt zu verunsichern und zu schwächen – auch ohne „klassischen“ Krieg. Europa und neutrale Staaten wie Österreich müssen jetzt eigene Fähigkeiten ausbauen: eine wettbewerbsfähige Verteidigungsindustrie, technologische Autonomie und eine resilientere Energieversorgung sind zentral.
Fazit: Vom Ultimatum zur Eigenständigkeit. Das Ultimatum ist mehr Symbol als Wendepunkt – Moskau bleibt unbeeindruckt. Die eigentliche Herausforderung für Europa bleibt: Abhängigkeiten abbauen, Innovations- und Verteidigungskapazitäten stärken, Handelsstrukturen widerstandsfähig machen. Sollte Trump das Interesse an Europa verlieren, weil kein schneller „Deal“ gelingt – worauf Putin spekuliert – entstehen jedenfalls neue Unsicherheiten für die Wirtschaft. Trumps Zölle gegen Indien sind ein Warnsignal: US-Handelspolitik kann binnen Tagen globale Märkte verschieben. Europa muss rasch diversifizieren, seine Industriepolitik abstimmen und gezielt in kritische Infrastruktur investieren, um geopolitisch handlungsfähig zu bleiben.
Zur Person
Bernhard Müller war Vorsitzender der Beschaffungs-Prüfungskommission des Verteidigungsministeriums. Der Milizoffizier ist Dozent für Öffentliches Recht und seit Februar 2025 Partner bei PwC Legal Austria für „Defence & Security“.