STILLSTAND. Hakt es in Deutschland, bekommt das auch Österreich zu spüren: Die Streiks der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) im März hatten Auswirkungen bis in die Nachbarländer.
©iStockphotoVerschleppte Energietransformation, Bürokratismus, Abwanderungsgelüste des Mittelstands: Das alte Geschäftsmodell von Österreichs größtem Handelspartner DEUTSCHLAND funktioniert nicht mehr.
Wenn es früher hieß, die Deutschen könnten nicht über sich selbst lachen, so hat sich das inzwischen geändert. „Deutschland ist nicht auf dem letzten Platz“, hob jüngst das Reiseportal reisetopia.de in einem Bericht über die Pünktlichkeit europäischer Eisenbahnen eine Sensation hervor. Tatsächlich belegten die deutschen Fernverkehrszüge im Ranking von zwölf europäischen Betreibern 2023 den elften und damit vorletzten Platz vor Slowenien (siehe Grafik unten).
Hinter der aus der Not geborenen Selbstironie steckt jedoch tiefe Verunsicherung. Die größte Volkswirtschaft Europas, in den Nachkriegsjahrzehnten eine verlässliche Lokomotive des alten Kontinents, lahmt. 2023 ist das Land wirtschaftlich geschrumpft, es ist Schlusslicht unter den G7-Staaten. In ihrer Frühjahrsprognose revidierten die führenden deutschen Wirtschaftsforscher ihre Prognose für das laufende Jahr soeben deutlich nach unten. Erwartet wird nun nur noch ein Plus von 0,1 Prozent.
Es rumort an allen Ecken und Enden. Die energieintensive Industrie, jahrzehntelang Pfeiler des Wohlstands, droht mit Abwanderung. Wird Donald Trump US-Präsident und setzt er seinen angekündigten zehnprozentigen generellen Einfuhrzoll um, trifft das die exportgestützte deutsche Wirtschaft härter als andere. „Das alte deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“, sagt kurz vor seinem Abschied Ende April der lang jährige CEO des Chemieriesen BASF Martin Brudermüller.
Lähmende Bürokratie bei gleichzeitig unterentwickelter Digitalisierung erschwert es zusätzlich, ein neues Geschäftsmodell zu entwickeln. Als „industriellen Underperformer auf breiter Front“, bezeichnete Wifo-Chef Gabriel Felbermayr Deutschland bei einem Vortrag im Februar in Berlin.
„Ist Deutschland schon wieder der kranke Mann Europas?“, fragte der „Economist“ schon im August letzten Jahres, fast ein Vierteljahrhundert, nachdem das britische Magazin diese Frage 1999 erstmals provokant gestellt hatte. Dazu passt, dass die Krankenstände der deutschen Arbeitnehmer 2023 mit durchschnittlich 20 Fehltagen pro Kopf auf einem Rekordhoch lagen.
Abwanderungsmeldungen machen die Runde. Zuletzt hat Nikolas Stihl, schwäbischer Hersteller von Motorsägen, als Produktionsstandort für einen Kettenteil die Schweiz statt Deutschland ins Auge gefasst – die Produktionskosten seien dort trotz hoher Löhne unterm Strich niedriger. Wandert er wirklich ab, wäre das auch imagemäßig ein Kettensägenmassaker.
Der grüne deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck fordert angesichts dieser Signale neuerdings „Standortpatriotismus“ – auch eine Reaktion auf den Umstand, dass der Deutsche Fußballbund ab 2027 den US-Sportriesen Nike und nicht mehr den deutschen Konkurrenten Adidas als Ausrüster gewählt hat.
Doch solche alten Loyalitäten sind brüchig geworden. Deutsche Unternehmen haben 2023 erneut deutlich mehr im Ausland investiert als umgekehrt ausländische Unternehmen in Deutschland. Der Nettokapitalabfluss beträgt nach Daten des arbeitgebernahen Kölner Instituts für die Wirtschaft (IW) 2023 94 Milliarden Euro, knapp unter den Werten von 2021 und 2022 (siehe Grafik unten).
Ein Mini-Seismograf ist auch die Schweizer Beratungsfirma Butterflymanager, Spezialist für Interim-Management. CEO Harald Schönfeld registriert eine Verdreifachung des Anteils von Unternehmen, die bei ihm wegen Fachkräften für die Verlagerung ihrer Betriebe anfragen – vor allem aus Deutschland. „Es betrifft in erster Linie die Autozuliefer- und die Maschinenbaubranche“, sagt Schönfeld, der überzeugt davon ist, dass die Dynamik erst begonnen hat. „Unternehmen werden immer schneller und flexibler“, beobachtet der Personalberater: „Den von Habeck geforderten Standortpatriotismus gibt es nicht mehr.“
Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung (IV), warnt zwar davor, Einzelfälle zu verallgemeinern, sieht aber notgedrungen das Gewicht Deutschlands am österreichischen Außenhandel sinken – schlicht, weil andere Länder sich besser entwickeln (siehe Interview).
Mit 29,2 Prozent Anteil an den österreichischen Exporten ist das große Nachbarland noch immer mit Abstand der wichtigste Handelspartner, daher hat jeder deutsche Schwächeanfall direkte Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der österreichischen Wirtschaft.
Insbesondere die österreichischen Autozulieferer sind von BMW, Volkswagen, Mercedes & Co. abhängig. Wegen eines Nachholeffekts nach den lieferkettenbedingt schwachen Covid-Jahren blieben die Exporte 2023 überraschend stabil (Grafik unten) – 2024 ist mit einem solchen Effekt nicht mehr zu rechnen. „Bundesländer mit vielen Autozulieferern wie Oberösterreich und die Steiermark stehen vor großen Herausforderungen“, zieht IV-Experte Helmenstein für Österreich Schlüsse.
Schnäppchenjagd
In dieser Situation fällt auf, dass österreichische Unternehmen sogar besonders viel in Deutschland investieren – der Direktinvestitionsstand lag laut neuen Daten der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) mit Ende 2023 auf einem Rekordhoch von 39 Milliarden Euro, drei Milliarden höher als noch ein Jahr zuvor. Das als Zeichen herausragender Standortattraktivität zu werten, ist jedoch verfehlt: „Österreicher haben immer die Gelegenheit genützt, günstig zu kaufen“, interpretiert die Daten Michael Scherz, Wirtschaftsdelegierter in Berlin: die Krise als Hochzeit der Schnäppchenjäger.
Bei vergleichbaren Problemlagen wird der Standort Österreich derzeit noch relativ attraktiv gesehen, sagt Scherz’ natürlicher Vis-à-vis, der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Handelskammer (DHK) in Wien, Thomas Gindele: Er verweist auf Investitionen von BASF im Tiroler Kundl, des Rüstungskonzerns Rheinmetall in Wien-Liesing und von BMW im Motorenwerk Steyr.
Die Politik, so Gindele, habe jedoch vergessen, diese starke Achse abzusichern – auch die österreichische Politik. Es gebe kein institutionalisiertes Gesprächsforum, um etwa gemeinsame Standortthemen wie Wasserstoff und Ausbau der Bahninfrastruktur zu erörtern. Gindele: „Deutschland pflegt regelmäßige Regierungskonsultationen mit den Niederlanden, wenn es etwa heikle bilaterale Themen zu besprechen gibt, unabhängig von der Chemie zwischen Personen und Regierungskonstellationen. Mit Österreich gibt es das nicht. Österreich sollte da initiativer werden.“
Dass Deutschland wirtschaftlich angeschlagen ist, daran gibt es selbst für den Wirtschaftspromotor nichts zu rütteln: „Diese Dichte an Themen gab es noch nie.“ Infrastrukturdefizite, die Notwendigkeit der Energietransformation, Fachkräftemangel – die Baustellen sind groß und zahlreich, die Baupläne jedoch kaum ersichtlich. Das diesjährige DHK-Pressegespräch mit Volkswagen-Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch, Präsident der DHK in Österreich, sowie Wifo-Chef Felbermayr am 24. April wird sich deshalb Standortfragen widmen.
Die Ursachen reichen weiter zurück, als die unbeliebte Ampelkoalitions-Regierung aus SPD, Grünen und der liberalen FDP verantworten kann. „Es gibt viele strukturelle Probleme, die in mehr als 15 Jahren der Kanzlerschaft von Angela Merkel nicht angegangen worden sind“, so WKO-Mann Scherz. Er nennt die überbordende Bürokratie an erster Stelle. So habe sich ein Mittelständler mit 7.000 Mitarbeitern kürzlich bei ihm beschwert, weil er mehr als 60 Mitarbeiter für die Nachhaltigkeitsberichterstattung beschäftigen müsse. Ein Logistikunternehmen berichtet, dass in deutschen Häfen ankommende Matrosen auf Formularen händisch in deutscher Sprache eingeben müssten, mit welchem persönlichem Inventar sie eingereist sind.
Viele rufen in dieser Situation nach einem neuen Gerhard Schröder. Der Merkel-Vorgänger ist zwar wegen seiner Russland-Kontakte diskreditiert, hat aber zwischen 2003 und 2005 mit dem grünen Koalitionspartner die berühmte Agenda 2010 zur Reform des Sozialstaats und des Arbeitsmarktes durchgesetzt. „Es braucht jemanden, der das Land auf den Kopf stellt“, empfiehlt Scherz eine Radikalkur, Eine solche Agenda 2030 wird jedoch nicht nur von Pessimisten erst nach der nächsten Bundestagswahl 2025 erwartet, das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Ampel ist mit Blick auf deren zahlreiche Bruchstellen gering.
Was bleibt
Trotz der Lähmung sind Experten wie Investoren jedoch überzeugt, dass das Land im Herzen Europas ein Comeback schaffen wird. „Die Frage ist nur, wann“, sagt Scherz, dessen größte Sorge eine schleichende Deindustrialisierung ist, die sich bereits in den Zahlen ablesen lasse.
Zuletzt gab es positive Stimmungssignale: Der wichtige Geschäftsklimaindex des Münchner ifo-Instituts hat sich im März erstmals seit Langem verbessert (siehe Seite 28). Und welche Studie man auch immer zur Hand nimmt: 2050 wird Deutschland selbst nach aktuellen Projektionen noch immer zu den Top-Ten-Volkswirtschaften der Welt gehören.
Ob die – auch digitale – Bahninfrastruktur bis dahin so ausgebaut ist, dass sie keinen Stoff mehr für Kabarettisten hergibt, steht in den Sternen. Einmal letzter Platz im Pünktlichkeitsranking sollte schon noch einmal drin sein: Das Jahr 2024 hat mit umfassenden Zugstreiks der mächtigen Gewerkschaft der Lokführer (GDL) und damit einher gehenden Verzögerungen nicht besser begonnen, als das alte geendet hat.
Der Artikel ist trend. PREMIUM vom 12. April 2024 entnommen.
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