
Die Skyline von Warschau erinnert mittlerweile an New York. Das Erscheinungsbild der Hauptstadt signalisiert, dass Polen als Kraftplatz der europäischen Wirtschaft gesehen wird.
©istockphotoNicht nur die Erste Group zieht es nach Polen – das Land feiert ein Wachstumsjahr nach dem anderen, russische Bedrohung hin, politische Polarisierung her. Der Erfolgskurs dürfte sich 2026 fortsetzen.
„Papa, wo bist du? Bist du in New York?“, fragte die Tochter von Harald Riener einmal, als der Vorstand der Vienna Insurance Group (VIG) ihr per Videoanruf den Blick aus seinem Büro zeigte. Der Manager muss noch heute darüber schmunzeln. Denn er war zu jenem Zeitpunkt in seinem Warschauer Büro, wohin er einmal wöchentlich reist.
So beiläufig die Frage der Tochter wirkte, sie kommt nicht von ungefähr: Das einstige Bild der polnischen Hauptstadt existiert nicht mehr. Die modernen Glasfassaden und Kräne, die Riener von seinem Bürofenster sieht, zeichnen eine Skyline, die eher an Manhattan erinnert als an eine postkommunistische Hauptstadt. „Man sieht den Fortschritt im ganzen Land. Infrastruktur, Autobahnen, Zugverbindungen, alles wird laufend besser“, sagt Riener, der den polnischen Markt für das Versicherungsunternehmen übersieht. In wenigen Jahren soll das osteuropäische Land zu den größten Playern im Kernmarkt der Gruppe zählen, prophezeit Riener.
Polen ist nicht erst seit Kurzem das „Poster Child Zentraleuropas“, wie es der Erste-Group-CEO Peter Bosek am diesjährigen Forum Alpbach in den Tiroler Bergen nannte. Die Erste Group hatte da schon den aufsehenerregendsten Polen-Deal der österreichischen Wirtschaft verkündet. Für fast sieben Milliarden Euro wird sie 49 Prozent der Santander-Polska-Bank erwerben, am 17. Dezember bekam sie dafür grünes Licht von den Aufsichtsbehörden. Das Bankinstitut ist damit aber längst nicht der einzige heimische Player, den es immer stärker nach Polen zieht.
Musterschüler Europas
Polen mit seinen 36 Millionen Einwohnern gehört seit vielen Jahren zu den wachstumsstärksten Volkswirtschaften der EU. Dieses Jahr wird die polnische Wirtschaft um 3,2 Prozent zulegen. Laut EU-Kommission wird der Erfolgspfad auch 2026 und 2027 fortgesetzt (siehe Grafik). „Wir erleben in Polen einen sehr spannenden Moment. Das Land hat stark von der industriellen Basis profitiert. Das basierte aber vor allem auf Fertigung. Und das evolviert gerade zu einer eigenen Innovationskraft“, analysiert Ökonomin Monika Köppl-Turyna.
Neben der soliden industriellen Basis und dem guten Bildungssystem profitiert das Land erheblich von seiner EU-Mitgliedschaft. Seit dem Beitritt 2004 nutzte Polen EU-Fördermittel extrem effektiv, besonders für Infrastrukturprojekte. Aus dem Corona-Wiederaufbaufonds der EU wurden Polen fast 60 Milliarden Euro zugesprochen, die dritthöchste Summe der Union. Bisher wurde weniger als die Hälfte ausgeschöpft, bis Ende 2026 wird der Investitionsturbo demnach wohl noch stärker gezündet werden. In ihrem Effekt ebenfalls nicht zu unterschätzen sind die Verteidigungsausgaben seit Beginn des Ukraine-Kriegs.


Schutzgebiet
Polen zählt zu den wichtigsten Unterstützern der Ukraine. Über eine Million Ukrainer:innen finden im Nachbarland Schutz. Laut einer Studie von Deloitte im Auftrag der UN-Flüchtlingsagentur haben die ukrainischen Flüchtlinge das Bruttoinlandsprodukt des Landes um 2,7 Prozent gesteigert, das sind in absoluten Zahlen 27 Milliarden Dollar. Viele Ukrainer:innen sind mittlerweile in Polen sesshaft geworden und haben Unternehmen gegründet. Die sprachliche Nähe erleichtert die Integration.
Die Neuankommenden schließen auch die seit Jahren klaffende Lücke an Arbeitskräften: Nach der Ostöffnung der 1990er-Jahre sind viele Menschen aus Polen in jene Länder emigriert, die ihre Arbeitsmärkte zuerst geöffnet haben, darunter Großbritannien, aber auch Österreich. Die Nachbarn aus dem Osten kommen da gerade zupass.
Gleichzeitig rüstet Polen aufgrund der russischen Bedrohung in nie da gewesenem Ausmaß auf. Das Nato-Mitgliedsland will kommendes Jahr fast fünf Prozent seines BIP in die Sicherheit investieren, eines der höchsten Sicherheitsbudgets des Bündnisses. „Diese Ausgaben sind enorm wichtig und ein Wirtschaftstreiber. Sehr viele Unternehmen produzieren die benötigte Software oder Rüstung für die Ukraine“, analysiert Köppl-Turyna, die eine Professur an der Universität Warschau innehat.
Durch die wachsenden Rüstungsausgaben steigt die Verschuldung des Landes. „Polen hat immer noch sehr solide Staatsfinanzen. In der Verfassung ist eine 60-Prozent-Grenze eingeschrieben, und daran hält man sich grundsätzlich“, so die Ökonomin. Die EU-Kommission bestätigte trotz steigendem Budgetminus kürzlich den fiskalischen Weg.
First Mover
Seit 1998 ist die VIG in Polen aktiv. Damals gehörte sie zu den First Movers. „Die Erschließung der CEE-Region wurde sehr konsequent durchgeführt. Nicht nur in Polen haben wir auf das richtige Pferd gesetzt“, blickt VIG-Vorstand Riener zurück. Vor 20 Jahren war die VIG Nummer 16 bei den Lebensversicherungen, mittlerweile liegen die Österreicher auf dem vierten Platz. Ob in Zukunft weitere Übernahmen in Polen geplant sind, lässt der Manager offen. Nur so viel: „Es ist ein Wachstumsmarkt, den wir dynamisch mitgestalten.“
Neben den Big Playern wie Erste Group und VIG setzen viele kleinere heimische Unternehmen auf Polen, etwa aus der Holzindustrie und der Autozuliefererbranche. Laut dem Warschauer Büro der Wirtschaftskammer gibt es aktuell knapp unter 700 Niederlassungen österreichischer Firmen in Polen.
Für eine Ansiedlung spricht, dass bei Firmengründungen vieles einfacher, sprich digitaler, läuft als in Österreich. Das macht Polen nicht zuletzt für Startups besonders attraktiv. Dank florierendem Ökosystem und Vorzeigeunternehmen wie dem KI-Unicorn ElevenLabs ist es zum europäischen Innovationshub geworden. Besonders beliebt ist das Land für Fintech-Start-ups. 400 aktive Fintech-Unternehmen und 22.000 Fachkräfte soll es geben.
Aber auch etablierte Player des Finanzmarkts fokussieren sich auf den europäischen Hoffnungsträger: Die Investmentbank Goldman Sachs hat eines ihrer größten Europa-Büros mit über 1.100 Mitarbeitenden in Warschau, das Büro wird laufend erweitert.
Kontrast
Trotz der innovativen Wirtschaft: In hohen Beamtenkreisen in Brüssel beobachtet man mit Sorge, dass sich die wirtschaftlichen Erfolge nicht in eine stabile liberale Politik übersetzen. Zwar steht der Mitte-links-Regierung seit 2023 der ehemalige Präsident des Europäischen Rats Donald Tusk als Ministerpräsident vor. Staatspräsident ist seit wenigen Monaten jedoch der von der rechtspopulistischen PiS-Partei unterstützte Karol Nawrocki, ein Bewunderer Donald Trumps und EU-Skeptiker. Auch die Ressentiments gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen wachsen – trotz der eindeutigen wirtschaftlichen Vorteile.
Wohlstand
Noch liegt die Kaufkraft der Pol:innen unter dem EU-Schnitt. Sie steigt jedoch kontinuierlich, wovon die VIG profitiert. Bisher liegt die Versicherungsdichte in Polen um 1.500 Euro unter dem österreichischen Schnitt. Doch das nähert sich laufend an, meint Vorstand Riener.
Polen profitiert außerdem von der eigenen Währung. Der polnische Złoty war zuletzt stark wie nie. Das liegt besonders an der inflationsbereinigten Kaufkraft gegenüber den Währungen zentraler Handelspartner wie dem Euroraum. Treibstoff und Reisen ins Ausland sind für Pol:innen deutlich günstiger geworden. Österreich wird nicht nur deshalb als Urlaubsziel zunehmend beliebter. Laut Robert Gröblacher, dem TourismusAttaché der Österreich Werbung in Polen, könnten heuer drei Millionen Pol:innen nach Österreich reisen – das wären mehr Gäste als aus Italien. Auch die heimische Flugbranche schaut beeindruckt nach Warschau: Der Chopin-Flughafen zählt zu den am schnellsten wachsenden Flughäfen Europas.
Umgekehrt ist Polen nicht mehr nur für private Reisen beliebt. Die jährliche Studienreise der Austrian Cooperative Research (ACR) führt das Netzwerk gemeinnütziger privater Forschungsinstitute im April 2026 ins osteuropäische Land. Polen hat die Stichwahl gegen das Digitalisierungsvorbild Estland gewonnen, erzählt die stellvertretende Geschäftsführerin Rita Kremsner. Neben der Dynamik beeindruckt Kremsner der Tatendrang der Pol:innen: „Da gibt es viele junge Leute, die es wissen wollen.“
Der wirtschaftliche Erfolg geht mit neuem Selbstbewusstsein einher, bemerken sowohl VIG-Vorstand Riener als auch Ökonomin Köppl-Turyna. „Die Polen verhandeln mittlerweile viel härter. Es reicht nicht mehr, zu sagen: ‚Ich komme aus dem reichen Österreich und ihr solltet glücklich sein, dass ich hier investiere‘“, so die gebürtige Polin.
Polen ist vom Absatzmarkt und Land mit niedrigen Arbeitskosten zum europäischen Taktgeber geworden. Die Warschauer Skyline zeigt, wie hoch die Messlatte inzwischen liegt.
Zur Person
Die Ökonomin Monika Köppl-Turyna, eine gebürtige Polin, bemerkt eine markante Änderung darin, wie Polens Wirtschaft in Österreich wahrgenommen wird: „Mittlerweile merkt man einen gewissen Respekt darin, wie Menschen aus der Wirtschaft über Polen sprechen.“ Österreich könne so manches von ihrem Geburtsland lernen, meint die Leiterin des Wirtschaftsforschungsinstituts EcoAustria.
Der Artikel ist im trend.PREMIUM vom 05. 12. 2025 erschienen.
