
Die 97-jährige Psychoanalytikerin und Zeitzeugin Erika Freeman über die starken Frauen ihrer Familie, gute Führungspersönlichkeiten und warum so mancher Politiker meschugge ist.
Erika Freeman hat einen Lieblingsplatz im Wiener Café Imperial. Die Kellner:innen des Hauses wissen das ganz genau. Sie führen die Gäste der Frau Doktor dorthin und servieren ihr Lieblingsgetränk, bevor sie ihren Stammplatz überhaupt erreicht hat. Als Freeman den Saal betritt, geht ein älterer Herr auf sie zu, küsst ihre Hand und bedankt sich für die anerkennenden Worte, die Freeman ihm vor einigen Wochen bei einem Gespräch im Café gesagt haben soll. Freeman lächelt freundlich, bedankt sich – und als der Mann sich wenige Schritte entfernt, sagt sie mit einem verschmitzten Lachen: „Ich habe keine Ahnung, wer das war. Aber good work!“ Freeman ist eine Berühmtheit – nicht nur im Imperial.
Die 97-jährige Psychoanalytikerin hat neben Hollywood-Stars auch hochrangige Politiker:innen begleitet. So war sie persönliche Beraterin der ehemaligen israelischen Premierministerin Golda Meir und ist mit der früheren US-Außenministerin Hillary Clinton befreundet. Auf Einladung des diesjährigen CEO & GM Circle am 22. Mai im Schloss Mauerbach wird Freeman über die Qualitäten guter Führungspersönlichkeiten und die Psychologie hinter erfolgreichem Leadership sprechen. Im trend-Gespräch teilt sie ihre Erfahrungen mit bedeutenden Führungskräften und ihre Perspektive auf das Weltgeschehen.
Wie geht es Ihnen heute?
Wie immer – herrlich, wenn nicht heute, dann morgen.
Sie sind eine scharfe Beobachterin des Weltgeschehens. Wenn man sich anschaut, wer gerade an der Macht ist, wer die Welt regiert, ist man durchaus beunruhigt. Sie auch?
Die Welt ist mies und die Welt ist schön. Es kommt darauf an, wie man sie anschaut. Wie ich jung war, war Hitler an der Macht. Es ist also gerade nicht so schlecht. Und wir können die Welt immer verbessern. Du hast den Eindruck, sie ist schlecht? Okay, fix it, mach es besser.
Sie sind zur Psychotherapie gekommen, weil Sie bei den Vereinten Nationen in New York beobachtet haben, wie Politiker und Botschafter agieren. Was war daran so fesselnd für Sie?
Ja, Mosche Scharet (der erste Außenminister Israels und zweite Premierminister; Anm.) hat mich mitgenommen. Ich habe damals International Relations studiert. Und dann war ich dabei, als ein Land geboren wurde. Ich saß hinten, wo die Botschafter waren, und die waren alle so blöd und verrückt. Ich dachte mir, die sind hier und können entscheiden, ob Israel geboren wird oder nicht – aber die sind alle meschugge. Wenn ich hier jemanden heilen kann, kann ich die Welt retten. Und dann habe ich von Politikwissenschaft zur Psychoanalyse gewechselt. Später habe ich dann eher mit Künstlern zusammengearbeitet als mit Politikern. Das war auch sehr schön.
Sind die Politiker:innen immer noch verrückt und meschugge?
Nicht alle, aber ja, manche. Erstens glauben sie, sie wissen alles. Zweitens wissen sie nicht, was sie nicht wissen, und glauben nicht, dass es noch was zu wissen gibt. Und wenn du das zu ihnen sagt, dann hassen sie dich, weil sie Angst haben vor Sachen, die sie nicht kennen. Dabei brauchst du keine Angst vor der Sonne haben.
Sie sind von der Politikwissenschaft zur Psychotherapie gewechselt und haben unter dem Freud-Schüler Theodor Reik studiert. Später haben Ihnen so manche Politiker:innen gerne zugehört und sich von Ihnen beraten lassen.
Ich war die persönliche Beraterin von Golda (Meir; Anm.). Das persönliche Beraten ist eine gute Idee, wenn du kein Geld verlangst (lacht). Vielleicht werden andere bezahlt, aber ich nicht. Dabei ruft man dich dauernd um Mitternacht an (lacht wieder). Aber das Gute dabei ist, dass man dir zuhört, und das ist fantastisch.
Ich habe eine Geschichte dazu: Eines Nachts rief mich der Personal Assistant von Golda an. Sie müsse sofort mit mir reden, weil Nixon hätte sie nach New York eingeladen und sie mache sich Sorgen. Nixon war ja Antisemit, das Department hat Israel nie gemocht. Ich sagte zu ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, natürlich wird er mit ihr reden. Und dann war sie beruhigt. Sie hat mich gefragt, warum ich das glaube. Das hat sie eigentlich nie gemacht – zu fragen, warum ich etwas behaupte. Und ich meinte, Nixon ist ein Justice Collector, wenn du ihm etwas Schlechtes angetan hast, wird er es niemals, niemals vergessen. Aber, wenn du ihm etwas Gutes getan hast, wird er es auch nicht vergessen. Und Israel hat ihn damals empfangen, seine Familie blieb nach dem Besuch sogar länger in einem Kibbutz, und das hat er niemals vergessen. Zwei Wochen später rief mich Golda an und sagte, sie hätte alles bekommen, was sie wollte. Als Beraterin muss man auf Kleinigkeiten aufpassen, weil das sind ja alles Menschen, auch wenn sie Politiker sind. Aber drinnen ist man doch ein Mensch. Und wie du als Mensch behandelt wirst und wie man dich persönlich ehrt und ernst nimmt, macht einen großen Unterschied. Das vergisst man nie.
Golda Meir hat Ihnen gänzlich vertraut?
Ja, Gott sei Dank. Das ist das Größte. Du bist ganz vertraut, aber ohne Geld. Da kann man dir sogar mehr vertrauen (lacht). Sie war sehr gut befreundet mit meiner ganzen Familie, die schon längst in Palästina war.
Und wie war sie als Führungsperson?
The Rock of Gibraltar, die Omama der Welt, ein herrlicher „Kerl“. Sie war wirklich sehr gescheit, sehr intelligent. Ben Gurion hat gesagt, sie ist der beste Mann in seinem Kabinett. Ja, da hat er recht. Bleib mit den Großen, die wissen, was zu schaffen ist, die machen sich nicht wichtig. Und ich sage immer: Mach dich nicht wichtig, mach dich richtig. Das geht schon.
Wie gelingt das?
Wenn du an etwas glaubst, wenn du einen Traum hast, dann tu es ganz einfach und du wirst es schaffen. Um Erlaubnis darf man nicht fragen. Mit Frauen ist es noch ärger. Wenn eine Frau damals etwas geschafft hat, hat sie es geschafft, nachdem sie alles für ihren Mann geschafft hat und etwas übrig war für sich selbst. Stellen Sie sich vor, was wir erreicht hätten, wenn wir alles für uns gemacht hätten, ohne es dem Mann zu geben. Heute ist das zum Glück schon leichter. Das Wichtige ist, was du tun kannst und schaffen kannst. Ein Ding der Unmöglichkeit ist für mich eine Einladung. Wenn du sagst, es sei unmöglich, dann stehst du mir im Weg, um zu beweisen, dass es möglich ist. Es ist unmöglich, weil du es unmöglich machst. Wenn du mir helfen würdest, wäre es einfacher. Ich kann es alleine schaffen, aber zu zweit schaffen wir es besser und schneller.
Was macht denn einen guten Leader oder eine gute Leaderin aus?
Wenn jemanden etwas an den Menschen liegt. Wenn die Person will, dass alles gut wird und den Menschen helfen will, gut und frei und intelligent zu leben. Es interessiert sie der Erfolg, die Sache und die Idee und nicht, dass sie der Macher ist. Basta. Und wenn du Leadership Quality hast, dann weißt du es nicht und hast es sowieso. Das Wichtige ist, dass es geschafft wurde, nicht, dass du die Anerkennung bekommst. Die Genugtuung, dass du es geschafft hast, sollte genug sein. Aber meistens sind die so selfish und alle wollen Kaiser werden. Ja, und jetzt haben wir auch noch einen dort (in den USA; Anm.), und der versteht das nicht. Aber wenigstens ist er nicht schlecht zu Juden.
Ich habe in dem Buch von Dirk Stermann über Sie gelesen, dass Ihre Mama Ihnen nie beigebracht hat, Angst zu haben. Sie war wohl eine starke Frau ...
Meine Mutti war das Vorbild. Es war niemals eine Frage von Angst. Sondern das muss geschafft werden, das soll geschafft werden, das wird geschafft werden. Angst macht nicht nur blöd, mit Angst kannst du nur Angst haben. Meine Mutti war eine sehr weiche und eine sehr starke Frau. Man muss ja nicht hart sein, um stark zu sein. Und sie hat an Sachen geglaubt. Sie war Zionistin. Als mein Vater dann später im Konzentrationslager war, ist sie dann immer zu den Treffen der Zionisten gegangen und hat mich mitgenommen. Ich habe gelesen oder bin währenddessen eingeschlafen und da sagt jemand zu ihr, ob das nicht ein Problem sei mit dem Kind. Und sie sagte einfach, nein, das sei kein Problem, Erika liest ihr Buch, sie schläft ein, sie ist kein Problem. Und das macht mir so eine große Freude, dass ich ihr keine Sorgen gemacht habe.
Auch Sie sind ein Vorbild für viele Menschen.
Wirklich?
Ja, wirklich.
Ich denke, wir haben alle eine Pflicht auf der Erde. Auf Hebräisch heißt das Tikkun Olam, Heilung der Welt. Ich habe ein großes Massel - ich könnte doch als Floh geboren sein. Ein netter Kerl, der liebe Herrgott – aber Geduld muss man mit ihm haben.
Sie waren Mitgründerin des Women’s Forum. Wie kam es dazu?
Es gab viele Frauen, die etwas geschafft haben. Aber nur eine in jedem Feld, und wir kannten einander nicht. Wir haben gewusst, was die anderen tun, aber niemand hat jemanden gekannt und wir wollten einander kennenlernen. „So we made the women's forum of all the wichtigen Weiber“.
Ist es für Frauen besonders wichtig, sich zu vernetzen?
Ja, weil, wenn du die Einzige bist, sind alle anderen Männer. Also ist sehr wichtig andere Frauen zu kennen, die auch etwas geschafft haben. Wir haben ja vieles gemeinsam, we have the same battles. Was man gegen uns hat, ist, dass wir Frauen sind. Warum sollten wir uns nicht zusammentun? Ein Mann zu sein - darauf braucht man nicht neidisch sein. Die haben so eine Frechheit, die leben ja nicht lang genug. Mein Mann ist mit 50 Jahren gestorben – viel zu früh, eine Frechheit. Ich könnte ihn sehr gerne ermorden, dass er so zeitig gestorben ist. Ich bin jetzt schon fast 100, zwei Jahre noch.
Sie werden im Sommer 98 Jahre alt. Freuen Sie sich auf Ihren Geburtstag?
Ich freue mich auf den 127. Geburtstag. Wissen Sie warum? Die Juden beziehen sich immer auf Moses, weil Moses wurde 120. Aber die Frau von Abraham, Sara, hat bis 127 gelebt. So wie Sara werde ich es machen.
Sie scheint ein viel besseres Vorbild zu sein.
Ja, man hat sie nur vergessen. Ich habe also noch Zeit. Ich warte jetzt auf mein neues Projekt, und ich werde schon früh genug wissen, was es sein wird. Ich freue mich schon darauf! Das wird aufregend.
Zur Person
Erika Freeman wurde 1927 in eine jüdische Familie in Wien geboren. Mit zwölf Jahren floh Freeman unbegleitet vor der Verfolgung der Nationalsozialisten nach New York. Sie studierte ebenda Psychoanalyse beim Freud-Schüler Theodor Reik und wurde eine berühmte Psychoanalytikerin und Kommentatorin in den USA. Seit einigen Jahren lebt die Psychoanalytikerin wieder in ihrer Geburtsstadt Wien – im Hotel Imperial. Zu ihrem 95. Geburtstag nahm sie die österreichische Staatsbürgerschaft an. Die viel beachtete Zeitzeugin ist mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet.


Die 97-jährige Erika Freeman setzt sich seit Jahren als Zeitzeugin gegen das Vergessen ein.
© FOTO: WOLFGANG WOLAK