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"Europa droht ein Exodus der Industrie"

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Ralf Sauter, Partner Managementberatung Horváth

©Maks Richter
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Fehlende Fachkräfte, hohe Energiekosten, steigende regulatorische Anforderungen und sinkende Profitabilität: Für die produzierende Industrie wird es zunehmend eng in Europa. Trotz der politischen und logistischen Querelen mit China und Russland wird die erhoffte Rückkehr der Fertigung wohl nicht erfolgen. Im Gegenteil – der Abbau der Produktionskapazitäten geht weiter, vor allem West- und Südeuropa sind betroffen.

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Die produzierende Industrie plant, ihre Kapazitäten weiter zu verlagern. Innerhalb der nächsten fünf Jahre will jedes dritte Unternehmen Standorte in West- und Südeuropa reduzieren, wenn nicht gar schließen. Hingegen wollen drei von vier Unternehmen ihren Personaleinsatz in Nordamerika erhöhen, wenn der Markt dort für sie relevant ist. Osteuropa ist aufgrund der weiterhin günstigen Personalkosten bei gleichzeitiger Personalverfügbarkeit und unbürokratischen Arbeitsbedingungen ebenfalls gefragt: Hier planen 58 Prozent einen Ausbau der Kapazitäten.

Die Ergebnisse der jüngsten internationalen Horváth-Studie zur strategischen und regionalen Aufstellung produzierender Unternehmen sind ziemlich überraschend: Indien gewinnt als Produktions-, Entwicklungs- und Absatzmarkt noch stärker: Acht von zehn der befragten Industrieunternehmen, für die Indien ein attraktiver Standort ist, planen dort Kapazitäten auf- oder auszubauen. Selbst in China wird kräftig weiter expandiert, von weiteren asiatischen Ländern und Hoffnungsmärkten ganz zu schweigen. Ein Ende der vielkritisierten Globalisierung ist nicht in Sicht.

Der befürchtete Exodus der Industrie, kurzzeitig durch Corona und seine Folgen unterbrochen, geht also ungebremst weiter. In den kommenden Jahren steht eine Verlagerung von Produktionsstätten und Wertschöpfungsketten aus West- und Südeuropa nach Nordamerika und nach Asien bevor – wobei China als verlängerte Werkbank durch Länder wie Indien, Vietnam oder Indonesien ersetzt wird. Als Absatzmarkt mit regionaler Wertschöpfung wird China aber wichtiger. Viele Firmen wollen ihre Aktivitäten hier ausbauen, nur ein geringer Teil herunterfahren.

Verbesserte Rahmenbedingungen gefordert

Die Horváth-Studie zeigt auf, dass die Unternehmen insgesamt von einem weltweiten Wachstum und damit zusammenhängend von einem Ausbau der Personalkapazitäten ausgehen – allerdings nicht an den mitteleuropäischen Standorten. Befragt nach den Gründen verweisen die Industriemanager auf die Rahmenbedingungen. Wenn wichtige industrielle Wertschöpfungsteile in der Region bleiben sollen, muss die Verfügbarkeit Energie, Fachkräften und Rohstoffen zu vertretbaren Kosten deutlich verbessert werden.

Sind die Unternehmen erst einmal abgewandert, gibt es kein Zurück, sind sich alle Experten einig. Die Abwanderung der Industrie ist nicht umkehrbar. Vor allem die hohen Personalkosten hierzulande sind das Hauptmotiv für die Workforce-Verlagerung. Danach folgen regulatorische Einschränkungen sowie zu hohe Kosten für Betrieb und Produktion. Fehlende Fach- und Arbeitskräfte sind erst der dritte Grund, die Produktionsstätten zu verlagern, werden aber immer wichtiger.

Fazit: Die Industrie in Europa steht zunehmend vor einem Dilemma. Hohen politischen und regulatorischen Anforderungen an Qualität und Nachhaltigkeit stehen explodierende Kosten für Personal, Energie, Rohstoffe, Logistik und nicht zuletzt Nachhaltigkeitsberichterstattung gegenüber. Werden die Rahmenbedingungen nicht schleunigst verbessert, kann die Industrieproduktion aufgrund fehlender Profitabilität nur weiter abwandern. Welche Folgen dies für den Wirtschaftsstandort Europa insgesamt hat, ist noch gar nicht abzusehen.

Für die Horváth-Studie wurden 430 Vorstands- und Geschäftsführungsmitglieder aus global agierenden Unternehmen nach ihrer strategischen und regionalen Ausrichtung in den kommenden fünf Jahren befragt, davon über 230 Industrieunternehmen.

Die Serie "Management Commentary" ist eine Kooperation von trend.at und der Managementberatung Horváth. Die bisher erschienen Beiträge finden Sie zusammengefasst im Thema "Management Commentary".

Management Commentary

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