
Die Medizinerinnen Birgit Rami-Merhar und Elke Fröhlich-Reiterer über steigende Fallzahlen bei Typ-1-Diabetes, Autoantikörpertests und den Wert spezialisierter Diabeteszentren.
TREND: Wie hat sich die Häufigkeit von Typ-1-Diabetes in Österreich in den vergangenen Jahren entwickelt?
Birgit Rami-Merhar: Wir sehen seit Jahren einen Anstieg – mit gewissen Schwankungen, aber einem klaren Trend nach oben. In den letzten drei bis vier Jahren hat sich dieser Anstieg noch einmal verstärkt. Typ-1-Diabetes ist die häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindesalter, und die Zahl der Neudiagnosen nimmt weiter zu.
Elke Fröhlich-Reiterer: Wir hatten 2021 eines der Jahre mit den meisten Neudiagnosen, und das über alle Altersgruppen hinweg – Kleinkinder, Schulkinder, Jugendliche. Das zeigt, dass wir es nicht mit einem Peak in einer einzelnen Altersgruppe zu tun haben, sondern mit einer breiteren epidemiologischen Entwicklung.
Welche Ursachen werden für diesen Anstieg diskutiert?
Fröhlich-Reiterer: In der Pathogenese des Typ-1-Diabetes geht man davon aus, dass mehrere Faktoren zusammenwirken: genetische Voraussetzungen, Virusinfektionen, Umweltfaktoren. Ob Covid hier einen Einfluss hatte – etwa indem es eine bestehende Autoimmunreaktion verstärkt oder beschleunigt –, wird international intensiv untersucht. Für Viren allgemein wissen wir, dass sie ein möglicher Auslöser sein können.
Rami-Merhar: Wichtig ist auch: Die Erkrankung entwickelt sich über Jahre. Kinder werden nicht plötzlich krank. Wir diagnostizieren nur den Zeitpunkt, an dem die Betazellzerstörung klinisch relevant wird. Autoantikörper können oft schon lange vorher vorhanden sein.
Wie lässt sich ein Typ-1-Diabetes überhaupt so früh erkennen?
Rami-Merhar: Durch Tests auf Autoantikörper. Wenn wir zwei oder mehr dieser Antikörper finden, wissen wir, dass das Immunsystem die insulinproduzierenden Zellen angreift. Das ist die zentrale Information, die uns sagt: Das Risiko ist hoch, dass ein Kind im weiteren Verlauf erkrankt. Wir können den Krankheitsprozess dann viel genauer einschätzen.
Fröhlich-Reiterer: Und wir können die Familien begleiten, bevor Symptome auftreten. Das verändert die gesamte Situation: Die Diagnose kommt nicht in einer Phase, in der Kinder schon schwer krank sind, sondern in einem Stadium, in dem man gut aufklären und vorbereiten kann.
Deutschland hat mit „Fr1da“ ein Screeningprogramm etabliert. Ist so etwas für Österreich realistisch?
Fröhlich-Reiterer: Grundsätzlich ja, aber es wäre ein großer Schritt. Wir haben im Rahmen von Studien zum Familienscreening, die in Graz und Wien gelaufen sind, gesehen, dass ein Screening machbar ist. Man muss aber bedenken: Screening bedeutet auch Verantwortung, denn positive Fälle müssen gut nachbetreut werden. Es wäre sinnvoll, aber es braucht Ressourcen, klare Strukturen und politischen Willen.
Rami-Merhar: Die Erfahrungen aus Deutschland zeigen, dass sich Ketoazidosen (akute, lebensbedrohliche Stoffwechselentgleisungen, Anm.) bei Erstdiagnose reduzieren lassen. Und medizinisch wie ökonomisch macht es einen Unterschied, ob ein Kind in einer stabilen Situation diagnostiziert wird oder in einer schweren Stoffwechselentgleisung.
Was spricht aus Ihrer Sicht besonders für eine Früherkennung?
Rami-Merhar: Die Familien haben Zeit, sich mit der Erkrankung auseinanderzusetzen. Wenn die Diagnose nicht in einer Akutsituation kommt, ist der Einstieg viel weniger belastend. Die Kinder sind oft weniger krank, und wir können gemeinsam schrittweise den Umgang mit der Erkrankung erarbeiten.
Fröhlich-Reiterer: Und wir verhindern schwere Verläufe. Eine Ketoazidose ist nicht nur gefährlich, sie wirkt auch lange – körperlich und psychisch. Wenn wir diese Situationen vermeiden, erleichtert das den Alltag der Familien enorm.
Manche Eltern sorgen sich, dass ein positives Screening eher verunsichert. Wie erleben Sie das?
Fröhlich-Reiterer: Diese Sorge gibt es natürlich. Aber die Verunsicherung entsteht meist dann, wenn Familien nicht wissen, was Autoantikörper bedeuten. Sobald wir erklären, wie der Prozess bei vielen Kindern verläuft und wie engmaschig wir begleiten, nimmt die Angst deutlich ab.
Rami-Merhar: Und wir sehen, dass Wissen in der Regel entlastet. Familien, die informiert sind, reagieren im Alltag früher – zum Beispiel wenn Symptome auftreten. Sie wissen, worauf sie achten müssen, und sie wissen, dass sie nicht allein sind.
Wie wichtig ist Aufklärung im Umfeld – etwa in Schulen oder bei niedergelassenen Kinderärzt:innen?
Rami-Merhar: Sehr wichtig. Viele Symptome – vermehrtes Trinken, Müdigkeit, Gewichtsverlust – wirken anfangs unspezifisch. Wenn Kinderärzt:innen sensibilisiert sind, kann früher diagnostiziert werden. Und Schulen brauchen klare Informationen, damit Unsicherheiten abgebaut werden und Kinder dort gut betreut sind.
Warum sollen Kinder nach einer Diagnose unbedingt in ein spezialisiertes Zentrum?
Fröhlich-Reiterer: Weil die ersten Wochen entscheidend sind. Die Therapie ist komplex und verlangt ein multidisziplinäres Team – pädiatrische Diabetologen, Pflege, Diätologie, Psychologie. Das Zusammenspiel dieser Bereiche macht es möglich, Familien so zu begleiten, dass sie die Erkrankung gut verstehen und gut im Alltag managen können.
Rami-Merhar: Und Kinder haben andere Bedürfnisse als Erwachsene. Wachstum, Hormone, Alltag – all das beeinflusst die Therapie. Das erfordert Erfahrung und eine individuelle Planung, die generalistische Einrichtungen oft nicht leisten können.
Welche technischen Entwicklungen erleichtern die Versorgung derzeit am stärksten?
Rami-Merhar: Die kontinuierliche Glukosemessung hat die Therapie verändert. Wir sehen Verläufe in Echtzeit und können Fehlerquellen viel schneller identifizieren. Automatisierte Systeme, die die Insulinabgabe teilweise selbst steuern, sind ein weiterer großer Fortschritt.
Fröhlich-Reiterer: Diese Systeme geben Sicherheit, gerade bei Kindern. Sie reduzieren Blutzuckerschwankungen, verbessern die Stoffwechselkontrolle und erleichtern Familien den Alltag. Deshalb sollte moderne Diabetes-Technologie die Standardversorgung für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes sein.
Was braucht Österreich, um in Prävention und Versorgung eine führende Rolle einzunehmen?
Fröhlich-Reiterer: Mut, ein nationales Screening ernsthaft zu diskutieren. Die Expertise ist da, aber wir brauchen eine klare Struktur und ausreichend Personal.
Rami-Merhar: Und wir brauchen durchgängige Versorgung: frühe Diagnose, spezialisierte Zentren, moderne Technik und kontinuierliche Betreuung. Wenn alle Schritte ineinandergreifen, kann Österreich in der Versorgung sehr weit vorne stehen.
„Du musst Chef deines Diabetes sein“
Wie Familien den Alltag mit Typ-1-Diabetes bewältigen und welche Entlastung moderne Technik bringen kann, darüber sprechen die Mediziner:innen Sabine Hofer und Thomas Hörtenhuber.
TREND: Wie erleben Sie Familien, die erstmals mit der Diagnose Typ-1-Diabetes konfrontiert werden?
Sabine Hofer: Die meisten Diagnosen stellen wir in Österreich noch in einer akuten Phase. Kinder kommen mit für Diabetes typischen Beschwerden zu uns, manche sogar in einem Zustand, der eine intensivmedizinische Behandlung erfordert. Für Eltern ist das ein Schock, gepaart mit dem Gefühl der Erleichterung, endlich eine Erklärung zu haben. Aber die Tatsache, dass sich das Leben von einem Tag auf den anderen radikal verändert, überfordert viele Familien verständlicherweise.
Thomas Hörtenhuber: Diese Akutsituation wirkt lange nach. Wir wissen aus vielen Studien, wie traumatisch ein solcher Einstieg sein kann – für Kinder wie für Eltern. Früherkennungsprogramme könnten diesen Druck erheblich reduzieren. Wenn Eltern wissen, dass ein Risiko besteht oder Autoantikörper nachgewiesen wurden, ist die Gesprächsbasis eine völlig andere. Dann trifft die Diagnose die Familie nicht mehr unvorbereitet.
Wie stark belastet diese Diagnose den Alltag – gerade mit sehr jungen Kindern?
Hörtenhuber: Sehr stark. Kleinkinder essen unregelmäßig, ändern plötzlich Mengen oder hören einfach mitten in der Mahlzeit auf. Das macht jede Insulindosierung herausfordernd. Und lange Zeit mussten Eltern nachts mehrmals aufstehen, um den Blutzucker zu messen. Sensoren haben das erleichtert, aber die emotionale Belastung bleibt. Man lebt rund um die Uhr mit einer Erkrankung, die keine Pausen macht.
Hofer: Hinzu kommt die Fremdbetreuung: Viele Eltern tun sich schwer, ihr Kind in den Kindergarten zu geben, wenn dort niemand geschult ist. Und die technische Entwicklung bringt zwar enorme Erleichterungen, führt gleichzeitig aber auch zu Überforderung. Man sieht plötzlich rund um die Uhr Werte, Tendenzpfeile, Kurven. Familien müssen lernen, zu unterscheiden, welche Information wichtig ist und welche man einfach vorbeiziehen lassen kann. Das ist ein Lernprozess.
Welche Rolle spielen Schulungen und psychologische Begleitung?
Hofer: Eine fundamentale. Ohne Schulung funktioniert Typ-1-Diabetes nicht. Eltern müssen verstehen, wie Kohlenhydrate berechnet werden, wie Insulin wirkt, wie Sport oder Krankheit die Zuckerwerte verändern. In unseren Zentren arbeiten Ärzt:innen, Diabetesberater:innen, Diätolog:innen, Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen im Team. Die psychologische Unterstützung ist von Anfang an verfügbar. Manche Familien brauchen sie sehr intensiv, andere nur zeitweise, aber sie muss von Beginn an mitgedacht werden.
Hörtenhuber: Diabetes ist nur dann gut behandelbar, wenn Betroffene selbst gut geschult sind. Das unterscheidet diese Erkrankung von vielen anderen chronischen Krankheiten. Ein Tag ohne Aufmerksamkeit kann hier gefährlich werden. Deswegen braucht es praktisches Wissen, aber auch emotionale Unterstützung – besonders am Anfang.
Welche Bedeutung hat der Austausch mit anderen Betroffenen?
Hörtenhuber: Eine enorm große. Besonders für Jugendliche bringt die Peergroup sehr viel. Wenn sie sich treffen, merken sie sofort, dass sie mit ihren Sorgen nicht allein sind. Das Problem ist nur: Sie sind schwer zu mobilisieren. Aber wenn sie kommen, funktioniert der Austausch hervorragend – oft besser als jedes Gespräch mit Ärzt:innen.
Hofer: Bei jüngeren Kindern sind Camps und Familienauszeiten, die von Selbsthilfegruppen organisiert werden, eine große Unterstützung. Wenn Eltern mit anderen Eltern sprechen, wirkt das oft auf einer anderen Ebene als eine medizinische Schulung. Es soll freiwillig sein, aber Angebote sind wichtig.
Viele Betroffene fragen sich, ob sie ihren Lebensstil stark einschränken müssen. Wie viel Genuss ist mit Typ-1-Diabetes möglich?
Hofer: Sehr viel. Es gibt keine Diabetes-Diät. Kinder dürfen ganz normal essen – entscheidend ist, die Kohlenhydrate zu berechnen und entsprechend Insulin zu geben. Verbote gibt es kaum. Die einzige echte Ausnahme sind Softdrinks, aber die sind auch für gesunde Kinder nicht geeignet. Die größte Herausforderung liegt weniger im „Was“, sondern im „Wie viel“ und „Wie berechne ich das?“.
Hörtenhuber: Diese Angst, nie wieder Süßigkeiten essen zu dürfen, taucht fast bei jeder Erstdiagnose auf. Sie ist unbegründet. Essen ist möglich, nur eben planvoll. Darüber muss man früh sprechen, damit Familien diesen Druck nicht unnötig spüren.
Und wie wichtig ist Bewegung?
Hörtenhuber: Sport ist absolut erwünscht. Er verbessert die Insulinwirkung, den Stoffwechsel und das Wohlbefinden. Vom Hobbysport bis zum Leistungssport ist alles möglich. Aber intensivere Aktivitäten müssen geplant werden – lange Radtouren zum Beispiel brauchen klare Strategien, wann Kohlenhydrate zugeführt werden. Typ-1-Diabetes schließt sportliche Ambitionen nicht aus, das zeigen viele erfolgreiche Spitzenathlet:innen.
Hofer: Die moderne Therapie erlaubt heute eine viel stärkere Individualisierung. Früher musste man das Leben an die Therapie anpassen. Heute passen wir die Therapie an das Leben des Kindes an – an seine Gewohnheiten, seine Sportarten, seinen Alltag. Das ist ein echter Paradigmenwechsel.
Wie gehen Sie mit Jugendlichen um, die keine Lust auf Sensoren, Pumpen oder ständige Werte haben?
Hofer: Die Pubertät ist eine eigene Welt. Impulsivität ist stärker ausgeprägt als die Fähigkeit zur langfristigen Planung. Man darf Jugendliche nicht allein lassen, aber man muss ihnen Verantwortungsgefühl vermitteln. Wir versuchen, ihnen klarzumachen: „Du musst Chef deines Diabetes sein, sonst kontrolliert die Krankheit dich.“ Systeme wie Hybrid-Closed-Loop helfen enorm, weil sie Schwankungen automatisch korrigieren und die Zuckerwerte besser im Zielbereich halten.
Hörtenhuber: Viele sind anfangs skeptisch gegenüber Technik. Aber sobald sie ein intelligentes System nutzen, wollen die meisten nicht mehr zurück. Die Entlastung ist enorm – weniger Stress, bessere Werte. Nur der Schritt zum Ausprobieren ist manchmal die größte Hürde.
Was müsste sich in Österreich verändern, damit betroffene Kinder und Familien besser unterstützt werden?
Hörtenhuber: Eine medizinische Fachkraft an jeder Schule wäre ein riesiger Fortschritt. Es wäre Standard wie in anderen Ländern und würde gerade jüngeren Kindern Sicherheit geben.
Hofer: Mein Wunsch ist ein grundlegendes Verständnis dafür, was Kinder mit Typ-1-Diabetes brauchen. Wir haben Onlinefortbildungen für Lehrkräfte entwickelt, und das ist ein guter Anfang. Aber es braucht mehr Bereitschaft, zuzuhören – in Schulen, Behörden und im Alltag. Wenn das gelingt, verbessert sich das Leben dieser Kinder enorm.
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Zu den Personen
Birgit Rami-Merhar ist Professorin für Pädiatrie an der MedUni Wien und leitet die Ambulanz für pädiatrischen Diabetes am AKH Wien. Sie ist Expertin für Endokrinologie und Diabetologie im Kindesalter und forscht unter anderem zu Typ-1-Diabetes und modernen Closed-Loop-Systemen.
Elke Fröhlich-Reiterer ist Professorin für Pädiatrie mit Spezialisierung in pädiatrischer Diabetologie und Endokrinologie an der Med Uni Graz und leitet dort die Ambulanz für pädiatrische Endokrinologie und Diabetes. Sie ist national und international vernetzte Expertin für Diabetes im Kindesalter und in mehreren Forschungsnetzwerken und Fachgremien aktiv.
Sabine Hofer ist Professorin für Pädiatrie an der Medizinischen Universität Innsbruck und leitet dort die Diabetesambulanz für Kinder und Jugendliche. Sie ist ausgewiesene Expertin für pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie und engagiert sich in nationalen und internationalen Fachgesellschaften, indem sie an der Erstellung nationaler und internationaler Behandlungsempfehlungen für Kinder und Jugendliche mit Diabetes maßgeblich beteiligt ist.
Thomas Hörtenhuber ist Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde, pädiatrischer Endokrinologe und Diabetologe. Nach Stationen an der MedUni Wien, dem Birmingham Children’s Hospital und der Klinik Favoriten leitet er seit 2021 den Bereich Pädiatrische Diabetologie und Adipositas am Kepler Universitätsklinikum Linz. Er ist in mehreren Fachgremien der Österreichischen Diabetes Gesellschaft aktiv.