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Massives Plus bei ME/CFS-Fällen bei PVA, kaum Gewährungen

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Die Haupt- und Landesstelle Wien der Pensionsversicherung
 © APA/APA/THEMENBILD/HELMUT FOHRINGER
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Die Pensionsversicherung (PVA) verzeichnet seit 2019 einen massiven Anstieg bei Fällen der Multisystemerkrankung ME/CFS. Im Jahr 2019 wurde seitens der PVA die Hauptdiagnose ME/CFS bei nur 16 Anträgen auf Berufsunfähigkeits- und Invaliditätspension bzw. Rehageld gestellt, 2024 dann in 288 Fällen - ein Plus von 1.700 Prozent. Nicht enthalten sind jene Fälle, wo Antragstellerinnen zwar mit der Diagnose ME/CFS vorstellig wurden, diese von der PVA aber nicht übernommen wurde.

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Die Quote der Ablehnungen der Anträge stieg in den letzten Jahren deutlich an, wie aus einer aktuellen Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der Grünen durch Sozialministerin Korinna Schumann (SPÖ) hervorgeht. Im Jahr 2022 - im ersten der in der Beantwortung angeführten Jahre mit einer signifikanten Zahl an durch die PVA gestellten Diagnosen (107) - wurden 61 der gestellten Anträge bzw. 57 Prozent abgelehnt. 2024 lag die Ablehnungsquote bereits bei 66 Prozent. Zum Vergleich: In den Jahren davor mit sehr wenig durch die PVA diagnostizierten ME/CFS-Fällen lag die Ablehnungsquote noch zwischen 27 und 50 Prozent.

Unklar bleibt, wie viele Anträge von ME/CFS-Betroffenen in den letzten fünf Jahren bei der PVA überhaupt gestellt wurden. "Diesbezüglich liegen keine statistischen Daten vor (...)", verwies Schumann darauf, dass die PVA nicht erfasst, mit welchen Vorbefunden die Antragsteller bei ihr vorstellig werden. Dokumentiert werden nur die von den Gutachtern vergebenen Diagnosen. ME/CFS-Patienten, denen seitens der PVA keine Hauptdiagnose ME/CFS gestellt wird oder eine komplett andere Diagnose attestiert wird, sind in den oben genannten Zahlen daher nicht erfasst.

Zur Frage, welche Leitlinien oder wissenschaftlichen Grundlagen die PVA derzeit für die Begutachtung und Bewertung von ME/CFS verwende, hieß es seitens des Gesundheitsressorts, die im Auftrag der PVA tätigen Gutachterinnen und Gutachter würden "eigenständig" handeln - und zwar "im Rahmen der einschlägigen berufsrechtlichen Gesetze und Regulative". Die PVA mache keine fachspezifischen medizinischen Vorgaben zur Begutachtung.

Auch spezielle Schulungen für PVA-Gutachterinnen oder Gutachter im Umgang mit ME/CFS-Betroffenen gibt es laut Schumann keine. Die PVA sei dafür nicht zuständig. Die Fortbildungs-Verpflichtung liege bei den einzelnen Gutachtern. Verantwortlich für die Überwachung ebendieser seien die "berufsvertretenden Organe", so Schumann - etwa die Ärztekammer. Statistiken zur Absolvierung von Fortbildungsveranstaltungen liegen daher keine vor.

Auch sei es "nicht möglich", für jede erdenkliche medizinische Konstellation "speziell geschultes Personal zur Verfügung zu stellen". "Die Begutachtungen erfolgen nach hohen Standards und werden von hochqualifizierten Ärzt:innen durchgeführt", heißt es dazu in einer weiteren Anfragebeantwortung Schumanns.

Gefragt nach Maßnahmen, die das Gesundheits- und Sozialressort bezüglich der Begutachtungsstandards ergreife, verwies man seitens Schumann auf die Selbstverwaltung der Pensionsversicherungsträger. Die PVA sowie andere Träger würden "selbständig entscheiden und handeln".

Für den Wiener Neurologen und ME/CFS-Spezialisten Michael Stingl spiegeln die Daten die in der Praxis erfahrenen Probleme wider - gemeinsam mit der in einer Recherche von APA, ORF und Dossier gezeigten oftmaligen Umwandlung der Diagnose ME/CFS in psychiatrische Diagnosen seitens der PVA: Nämlich, dass es mit ME/CFS "extrem schwer" sei, "Rehageld bewilligt zu bekommen".

Das passe nicht mit der "oft hochgradigen Beeinträchtigung zusammen und entspricht letztendlich auch nicht dem Stand der Wissenschaft, wo das große Ausmaß der Einschränkung bei Alltags- und Arbeitsfähigkeit regelmäßig gezeigt wurde". Die Problematik der Kardinalsymptomatik der PEM (schweren Belastungs-/Erholungsstörung, Anm.) werde in der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit oft nicht gewürdigt, aber oft auch nicht im Begutachtungsprozess an sich. "Durch Überanstrengung in diesen Verfahren kommt es regelmäßig zu Zustandsverschlechterungen", so Stingl. "Und das ist bezüglich Rekonvaleszenz von Menschen mit PEM genauso kontraproduktiv wie eine Überschätzung der Arbeitsfähigkeit."

Die Co-Leiterin des im Vorjahr eingerichteten Referenzzentrums für Postakute Infektionssyndrome an der MedUni Wien, Kathryn Hoffmann, erklärte am Donnerstag, Aussagen in der Anfragebeantwortung, laut derer es keine "objektiven, wissenschaftlich-epidemiologisch erhobenen Daten" dazu gäbe, wie viele ME/CFS-Betroffene es in Österreich gibt, seien nicht nachvollziehbar. Denn die Schätzungen des Referenzzentrums würden sich eben genau auf internationale wissenschaftlich-epidemiologische Daten stützen, so Hoffmann zur APA.

Die Anfragebeantwortung zeige darüber hinaus sehr gut, dass existierende Daten aus Österreich - etwa jene der PVA - für eine Annäherung der Betroffenenzahlen nicht verwendbar seien. Hoffmann äußerte Bedauern, dass bezüglich der Daten nicht auf die Expertise des Referenzzentrums zurückgegriffen werde. Das Zentrum schätzt anhand internationaler Daten die Zahlen in Österreich auf ca. 70.000 Betroffene, 14.000 davon schwer und sehr schwer.

Das Gesundheitsstaatssekretariat hatte vor knapp vier Wochen erklärt, dass einzelne Stakeholder in der Bundeszielsteuerungskommission (die für die verbindliche Umsetzung von Versorgungsstrukturen zuständig ist) "Zweifel" an diesen Zahlen vorgebracht hätten. "Nachdem wir von Zweifel an den Daten bisher nur aus dritter Hand durch das Ministerium über die Medien erfahren haben, aber noch nie direkt dazu angesprochen oder zu einem diesbezüglichen Gespräch eingeladen wurden, und wir daher nicht wissen wer aus welchem Grund welche Punkte in Frage stellt, ist dieser Prozess sehr bedauerlich", so Hoffmann.

Auch die vom Staatssekretariat vor vier Wochen berichtete Aussagen einzelner Player in der Kommission, es fehle eine "gemeinsame Definition" von ME/CFS, sind für Hoffmann unverständlich. Denn diese Definition sei nicht vom Referenzzentrum erstellt worden, sondern wurde - "wie weltweit üblich" - im langjährigen wissenschaftlichen Prozess international erstellt. Hoffmann verwies u.a. auf die Anerkennung der Krankheit durch die WHO im Jahr 1969 sowie auf aktuelle Diagnosekriterien, etwa die Kanadischen Konsenskriterien. "Mir ist keine weitere Krankheit bekannt, bei welcher Behörden eine Krankheitsdefinition angezweifelt hätten und selbst erstellen wollen" - dies lasse "Wissenslücken bei einigen derzeit am Prozess Beteiligten" vermuten.

Unter Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse kann Hoffmann auch die Aussagen aus der aktuellen Anfragebeantwortung nicht nachvollziehen, wonach bei ME/CFS darauf fokussiert würde, dass "ein breites Spektrum unspezifischer Beschwerden" vorliege. Dies sei nicht mehr mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft übereinstimmend. Ebenso nicht stimmig sei die Aussage, wonach durch Laborbefunde und bildgebende Verfahren die Erkrankung "in der Regel nicht nachweisbar" sei. "Das ist nur dann der Fall, wenn nicht die zur Krankheit passende Diagnostik umgesetzt wird", betonte Hoffmann.

Scharfe Kritik übte der Grüne Gesundheitssprecher und Verfasser der Anfrage, Ralph Schallmeiner, der sich u.a. über die Aussagen in der Beantwortung Schumanns zur Gutachterausbildung verärgert zeigte. "Es gibt keine Kontrolle darüber, ob die Sachverständigen befähigt sind das zu tun, was sie machen", sagte er zur APA.

Problematisch sei auch, dass jene Diagnosen, mit denen die Antragsteller bei der PVA überhaupt erst vorstellig werden, nicht erfasst werden.

Auf Probleme mit der Gewährung von derartigen Leistungen bei ME/CFS- oder Post Covid-Patienten wies auch die erwähnte gemeinsame Recherche von APA, ORF und Dossier vom Mai hin. In den damals dem Recherchekollektiv zugespielten und ausgewerteten Fällen wurden 79 Prozent der Anträge abgelehnt (oder bereits gewährte Leistungen entzogen). Die Diagnosen ME/CFS oder Post Covid wurden bei mehr als der Hälfte der Gutachten komplett negiert und bei rund 40 Prozent in eine psychische oder psychosomatische Diagnose abgeändert.

Auf das Problem von Fehldiagnosen verwies gegenüber der APA auch der Obmann des Vereins Chronisch Krank, Jürgen Holzinger. Wird einem Antragsteller zwar Reha-Geld gewährt, dies aber mit einer falschen Diagnose, so wird das im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen "Mitwirkungspflicht" relevant, vor allem wenn es um die verpflichtende Einnahme von Medikamenten wie Psychopharmaka gehe (bei psychiatrischen Fehl-Diagnosen, Anm.).

Schumann verwies in ihrer Beantwortung auch darauf, dass gegen Bescheide der PVA Klage erhoben werden kann und dass diese Verfahren für die Versicherten kostenfrei sind. Freilich zeigen die Daten auch, dass diese Klagen so gut wie nie erfolgreich sind: Zwischen 2022 und 2025 wurde in 411 solcher Fälle gegen PVA-Bescheide geklagt, in nur 36 (neun Prozent) davon wurde den Antragstellern recht gegeben. Auch hier stieg die Zahl signifikant - von 18 im Jahr 2022 auf 176 im Jahr 2024.

Über die Ausgaben für die von der PVA eingeholten Gutachten gibt es keine Auskünfte. Die PVA habe dem Ministerium mitgeteilt, dass die entsprechenden Daten nicht vorhanden sind, hieß es. Seitens des Ministeriums sei auch nicht geplant, diese Daten zu erheben.

Reserviert gab sich Schumann zu den im September kolportierten Aussagen von PVA-Generaldirektor Winfried Pinggera, wonach er bei einem Gesprächstermin mit dem Gründer der We&Me-Stiftung, Gerhard Ströck, in Bezug auf ME/CFS-Patientinnen und Patienten und deren Ärzte von "Trittbrettfahrern" und "Scharlatanen" gesprochen haben soll. Das zitierte Interview sei ihr "bekannt", erklärte die Ministerin. Pinggera ließ die Behauptungen damals zurückweisen - es habe sich um "konstruktive Gespräche" gehandelt, hieß es. Ströck blieb auf Nachfrage dennoch bei seinen Aussagen.

"Es ist nicht meine Aufgabe als Bundesministerin, bestimmte Aussagen anderer zu bewerten", so Schumann dazu. "Aber ich möchte dazu ganz allgemein festhalten, dass in den Medien wiedergegebene abwertende Einschätzungen von mir keinesfalls geteilt werden." Die zitierte Wortwahl halte sie aber "selbstverständlich für unangemessen".

Für Schallmeiner eine zu schwache Reaktion: Denn aus der Anfrage gehe auch hervor, dass Schumann bzw. ihr Ressort mit Pinggera bisher kein direktes Gespräch gesucht hätten, kritisierte er.

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