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Große Erschöpfung: Strategien gegen innere oder tatsächliche Kündigungen

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16 min
Andreas Salcher

DYNAMISCH DURCH DIE KRISEN. Andreas Salcher bekämpft in seinem neuen Buch die bleiernen Zeiten mit Lösungsvorschlägen.

©Lukas Beck
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Die "GREAT RESIGNATION" ist in Industriestaaten ein nicht zu leugnendes Faktum. Die Zusammenballung der Krisen hat massive Auswirkungen auf die menschliche Psyche. Viele Unternehmen können damit nicht umgehen oder reagieren kontraproduktiv. Welche Strategien gegen innere oder tatsächliche Kündigungen helfen.

Fragt man Menschen zum Thema "Erschöpfung", beginnen die meisten sofort, über ihre eigene Erfahrung zu sprechen. Das Thema stößt ohne jede nähere Erklärung auf starke Resonanz, wenngleich die meisten völlig unterschiedliche Dinge damit verbinden. Die große Erschöpfung hat viele Gesichter.

Es ist die Zusammenballung der Krisen der äußeren Welt, die massive Auswirkungen auf die menschliche Psyche hat. Selbst Frauen und Männer, die sich bisher als weitgehend immun gegen Krisen empfunden haben und ihren Alltagsstress gut bewältigen konnten, werden für Erschöpfung anfällig. Baumstämme zerbrechen nicht so leicht unter Druck. Menschen schon. Die einen reagieren darauf mit dem Willen, etwas zu ändern, die anderen sagen: "Ich halte das alles nicht mehr aus."

Was unterscheidet aber Menschen, die sich völlig erschöpft fühlen, von jenen, die unglaubliche Belastungen noch immer meistern, jeden Morgen aufstehen und sich auf den neuen Tag freuen? Wieso schaffen es viele Selbstständige und Unternehmer, deren Umsätze völlig eingebrochen sind, zuversichtlich neue Strategien und Ideen zu entwickeln, während Menschen, die de facto unkündbare Jobs haben, gänzlich von Zukunftsängsten blockiert sind?

Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn nur noch jener Teil der Mittelschicht, der sich verbessern oder zumindest nicht abstürzen will, bereit ist, mit vollem Einsatz zu arbeiten? Wie viele Branchen werden durch die sprunghafte Zunahme der künstlichen Intelligenz in ihren Grundfesten erschüttert werden? Wie wettbewerbsfähig wird das satte Europa gegenüber dem hungrigen China und der noch immer führenden Technologienation USA sein?

Viele Mitarbeiter sind dann mal weg - und die Unternehmen wissen nicht, warum

In den USA haben im Jahr 2021 mehr als 30 Millionen Beschäftigte ihren Job von sich aus gekündigt. Eine Entwicklung, die sich 2022 fortsetzt. "The Great Resignation", meist als "die große Zermürbung" übersetzt, ist in einigen Industriestaaten ein nicht zu leugnendes Faktum. Viele Unternehmen verstehen nicht wirklich, warum ihre Mitarbeiter kündigen. Anstatt sich die Zeit zu nehmen, die wahren Ursachen dafür herauszufinden, flüchten sie sich in altbewährte Rezepte: höhere Gehälter und einmalige Bonuszahlungen, menschenwürdige Mitarbeiterunterkünfte oder großzügigere Freizeitregelungen. Das Resultat dieser materiellen Anreize ist überschaubar, weil für die Menschen durchschaubar.

In der Fachzeitschrift "McKinsey Quarterly" wurden im September 2021 die Ursachen dafür untersucht:

"Wenn uns die letzten 18 Monate etwas gelehrt haben, dann, dass sich die Mitarbeiter nach Investitionen in die menschlichen Aspekte der Arbeit sehnen. Die Mitarbeiter sind müde und viele traurig. Sie wollen einen erneuerten und geänderten Sinn in ihrer Arbeit. Sie wollen soziale und zwischenmenschliche Verbindungen zu ihren Kollegen und Vorgesetzten. Sie wollen ein Gefühl der gemeinsamen Identität spüren. Natürlich wollen sie gute Bezahlung, Sozialleistungen und Vergünstigungen, aber mehr als das wollen sie sich von ihren Organisationen geschätzt fühlen."

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Die McKinsey-Analyse kommt zu folgendem Schluss: Die "große Zermürbung" findet statt, sie ist weitverbreitet und wird wahrscheinlich bestehen bleiben, sich vielleicht sogar noch verstärken. Vor allem dann, wenn Unternehmen von falschen Annahmen ausgehen und daher kontraproduktiv reagieren.So haben die Begründer der "Selbstbestimmungstheorie" (Self-Determination Theory, kurz SDT), Richard M. Ryan und Edward L. Deci von der Universität Rochester, herausgefunden, dass - entgegen der ursprünglichen Annahme - die Motivation für an sich interessante Tätigkeiten durch zusätzliche Anreize oder Belohnungen nicht nur nicht gesteigert wird, sondern im Gegenteil sogar zurückgeht. Es zeigte sich ein kontraproduktiver Korrumpierungseffekt.

Motivation hängt offenbar von der Befriedigung von drei psychologischen Grundbedürfnissen ab:

  • Empfundene Handlungskompetenz

  • Autonomie und soziale Eingebundenheit

  • Identifikation mit dem Unternehmenszweck

Erst wenn Unternehmen diese tieferen Ursachen für die innere und die tatsächliche Kündigung erkennen und sich mehr auf die menschlichen Dimensionen von Arbeit konzentrieren, könnten sie sogar wieder attraktiver für Mitarbeiter werden und florieren.

Die Personalberatung Kienbaum untersuchte im Frühjahr 2022 die Faktoren, die Unternehmen besonders attraktiv für ihre Mitarbeiter machen. In fast allen befragten Gruppen - Männer und Frauen, Generation X, Y und Z, Pflichtschule oder Matura - stand die Work-Life-Balance an erster Stelle. Nur bei den Arbeitssuchenden war die Bezahlung das wichtigste Kriterium, während bei Akademikern der Gestaltungsfreiraum in ihrer Arbeit die höchste Priorität hatte.

Ist die viel beschworene Work-Life-Balance wirklich die Lösung?

Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten.

Die obige Lebensweisheit klingt wunderschön. Sie stammt nur mit Sicherheit nicht von Konfuzius, dem sie fälschlicherweise, vor allem im Internet, zugeschrieben wird. Die Idee, sich einen Job zur Selbstverwirklichung zu suchen, hätte zu Lebzeiten von Konfuzius, der immer wieder die Pflichterfüllung einforderte, als völlig weltfremd gegolten.

Auch heute ist die Frage "Arbeiten wir, um zu leben, oder leben wir, um zu arbeiten?" gefährlich falsch. Wir haben nur ein Leben, das wir nicht zwanghaft mit der Stoppuhr in Arbeit und Freizeit trennen können. Mit allen Tricks erkämpfen sich manche Menschen immer mehr Freizeit, um immer weniger freie Zeit zu haben. Die Freizeit wird zum Götzen, ist aber oft von fremden Interessen oder törichten eigenen Entscheidungen bestimmt, wie einige Beispiele zeigen.

  • Rituale: Der zwanghafte Besuch bei ungeliebten Verwandten führt zu lähmender Langeweile und endet dann oft noch im Streit beim Heimfahren.

  • Kurzsichtigkeit: Jedes Jahr holen Hunderttausende am letzten Schultag vor den Sommerferien ihre Kinder von der Schule ab und machen sich auf der gleichen Strecke, auf der sie schon in den Jahren davor stundenlang im Stau gesteckt sind, auf den Weg in den geliebten Süden. Alle Alternativen, wie zum Beispiel zwei Tage später loszufahren oder eine alternative Route zu wählen, werden hartnäckig ignoriert.

  • Torheit: Einkaufen in einem Shoppingcenter am letzten Samstag vor Weihnachten gleicht einer Expedition in bürgerkriegsähnliche Zustände auf den Parkplätzen.

Kurz gesagt: Freizeit kann uns erschöpfen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die oft synonym mit dem Begriff "Work-Life-Balance" völlig zu Recht geforderte Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist unbedingt notwendig in einer Gesellschaft, in der meist beide Elternteile arbeiten. Plötzlich erkrankte Kinder oder verunglückte Großeltern halten sich an keine strikten Arbeitszeiten und erfordern klare Prioritäten. In skandinavischen Ländern herrscht hier eine deutlich familienfreundlichere Kultur als bei uns. Dazu gehören umfassende Angebote von hochwertiger Kinderbetreuung bis ins kleinste Dorf und generell ganztägige Schulformen. Von flächendeckenden ganztägigen Schulformen ist Österreich Lichtjahre entfernt.

Strategien gegen Erschöpfung: der Sinnsucher, der Glücksforscher und der Mönch

Der Psychiater Viktor Frankl, der Forscher Mihály Csíkszentmihályi und der Benediktinermönch David Steindl-Rast kommen aus verschiedenen Disziplinen und haben in ihrem Leben sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Trotzdem teilen sie eine zentrale Erkenntnis, die auch auf den Umgang mit Erschöpfung zutrifft:

Wir sind für unser Denken und Handeln, unsere Sicht auf die Welt und deren Konsequenzen selbst verantwortlich.

Vielleicht regt sich bei manchem Leser spontaner Widerstand gegen diese Aussage. Diese Skepsis trifft durchaus auf Verständnis bei Mihály Csíkszentmihályi, der für seine Bücher die Biografien erfolgreicher Menschen studierte:

"Ich weiß, dass Selbstverantwortung eines der am häufigsten gebrauchten und missbrauchten Worte in der gesamten Ratgeberliteratur ist. Bei vielen Leidenden löst der Hinweis ,Übernimm Verantwortung für dein Leben' Wutanfälle über so viel Ahnungslosigkeit aus. Ich möchte nur ganz sachlich das darstellen, was die Wissenschaft in vielen Langzeitstudien über den Unterschied von Menschen, die aus dem Teufelskreis ihrer Probleme nicht entkommen können und von denen viele daran zerbrechen, und jenen, die diese überwinden und sogar ihre Stärken daraus entwickeln können, unterscheidet. Der Schlüssel ist die Entscheidung zwischen Schuldzuweisung oder Selbstverantwortung. Die Macht der Fakten, die diese These belegen, ist evident."

Es ist nicht immer die Vielzahl von Aufgaben, die Menschen so erschöpft. Sondern es ist der Verlust an Orientierung, sobald das Wertegerüst, das sie sich im Laufe der Jahre zurechtgezimmert haben, ins Wanken gerät. Verdichtet man die Lehren von Viktor Frankl, Mihály Csíkszentmihályi und David Steindl-Rast auf ihre Essenz, dann ergeben sich drei Werte, die als Quellen dienen können, um aus ihnen neue Kraft zu schöpfen:

  • Wahlfreiheit. Viktor Frankl hat uns gelehrt: Wir können unsere Einstellung gegenüber allem, was uns widerfährt, frei wählen. Wir können unsere Aufmerksamkeit so lenken, dass wir auch sehr schwierige Situationen bewältigen. Dadurch ist es uns möglich, selbst dem Leiden Sinn zuzuschreiben.

  • Erfüllung im Tun. Mihály Csíkszentmihályi hat bei seinen Studien zum Flow-Effekt entdeckt, dass Anstrengung uns nicht erschöpfen muss, sondern diese sogar notwendig ist, um Erfüllung in unserem Tun empfinden zu können. Dieses völlige Aufgehen im Tun nennt er den Flow. Sind wir einmal im Flow, dann gibt es keine Erschöpfung.

  • Dankbarkeit. David Steindl-Rast ist überzeugt: Glück kommt von der Dankbarkeit für alle Gelegenheiten, die man dafür erkennt. Um diesen Weg des dankbaren Lebens auch in schwierigen Situationen gehen zu können, empfiehlt er die Veränderungsstrategie "Stop. Look. Go." In einer Krise zuerst einen Moment innehalten, schauen, welche Möglichkeiten sich dadurch auftun, dann auswählen und es auch wirklich tun.

Die wichtigste Botschaft ist ganz einfach

Erschöpfung ist die Folge von Entscheidungen, die Menschen treffen. Wir haben die Wahlfreiheit. Vielleicht manchmal nicht im Handeln, aber zumindest immer in unserem Denken. Die Menschheit hat in der Vergangenheit oft bewiesen, dass sie über unglaubliche kollektive Fähigkeiten verfügt, ihre Probleme zu lösen. Trotz all der bekannten Bedrohungen wird die Menschheit nicht so schnell untergehen. Alle apokalyptischen Szenarien sind bislang nicht eingetreten, weil sie den menschlichen Fortschrittsgeist nicht berücksichtigt haben. Wobei wir zwischen technischem und geistigem Fortschritt unterscheiden müssen.

Der technische Fortschritt in den letzten hundert Jahren war gigantisch und dieser wird sich mit heute kaum vorstellbarer Geschwindigkeit weiterentwickeln. Technisch gesehen könnten wir den Totalausstieg aus den fossilen Energiequellen und die nachhaltige Transformation unserer Produktionsmethoden durchaus schaffen. Wir wären auch in der Lage, acht Milliarden Menschen ausreichend zu ernähren - nur anders als bisher. Es gibt Tausende faszinierende Beispiele und Modelle dafür, wir müssten sie nur endlich umsetzen. Und genau darin liegt die große Herausforderung. Die moralische Weiterentwicklung des Menschen hat bisher leider mit dem technischen Fortschritt in keiner Weise Schritt halten können.

An dieser Stelle aber der Hinweis auf ein wichtiges Prinzip von Viktor Frankl: "Jammern nützt nichts." Die Welt hat genug Probleme. "The Great Resignation" ist genau das, was wir nicht brauchen. Was die Welt von uns verlangt, ist unsere ganze Kraft und positive Energie. Wie sagte schon der legendäre britische Premierminister Benjamin Disraeli: "Es sind nicht die Umstände, die den Menschen schaffen. Der Mensch ist es, der die Umstände schafft."

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Andreas Salcher: "Erschöpfung ist die Folge von Entscheidungen der Menschen. Wir können Freude bei jeder Tätigkeit, auch bei anstrengender Arbeit, empfinden."

© Lukas Beck

Strategie für Unternehmen: Selbstbestimmung statt Work-Life-Balance

Arbeit erschöpft Mitarbeiter, wenn ihnen Ziele von anderen vorgegeben werden, die sie unter- oder überfordern. Ist die Kluft zwischen ihren Fähigkeiten und dem Anspruchsniveau der Ziele zu groß oder fehlen die notwendigen Ressourcen, um die Ziele auch zu erreichen, zerstört Zynismus die Unternehmenskultur. Geld, Status und Privilegien reichen dann nicht aus, um Mitarbeiter vor Sinnverlust und Erschöpfung zu bewahren. Die zahlreichen von Mihály Csíkszentmihályi zum Thema "Erfüllung in der Arbeit" durchgeführten Studien kommen zu einem klaren Ergebnis: Wir können Freude bei jeder Tätigkeit, eben auch bei anstrengender Arbeit, empfinden, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind:

  • Berufliche Arbeit sollte idealerweise so konzipiert werden, dass sowohl die Handlungsanforderungen als auch das Handlungspotenzial hoch sind und beide in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen.

  • Die Ziele müssen klar sein, um sich voll und ganz auf das jeweilige Vorhaben einlassen zu können.

  • Die Rückmeldung zur Qualität der gerade ausgeführten Aktivität muss unmittelbar erfolgen.

BUCHTIPP

Die große Erschöpfung ist ein Phänomen unserer Zeit. Das spüren inzwischen auch viele, die sich bisher als immun dagegen empfunden haben und ihren Alltagsstress gut bewältigen konnten. Andreas Salcher entlarvt falsche Mythen, benennt Ursachen und zeigt anhand der faszinierenden Erkenntnisse des Sinnsuchers Viktor Frankl, des Glücksforschers Mihaly Csikszentmihalyi und des Benediktinermönchs David Steindl-Rast konkrete Zugänge zu den eigenen Quellen der Kraft.

  • Herausgeber: edition a; 1. Auflage (12. November 2022)

  • Umfang: Gebundene Ausgabe‎ 240 Seiten

  • ISBN-10: 3990016288

  • Das Buch hier beziehen

Die große Erschöpfung - Und die Quellen der Kraft

Die große Erschöpfung - Und die Quellen der Kraft

Der Essay von Andreas Salcher ist der trend. PREMIUM Ausgabe vom 11. November 2022 entnommen.

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