
Der Harvard-Historiker Sven Beckert über den spektakulären wirtschaſtlichen Wiederaufstieg Asiens - und warum er die rechte Kapitalismuskritik derzeit für kraſtvoller hält als jene von links.
Sie haben ein 1.000 Seiten starkes Buch geschrieben, an dem Sie acht Jahre lang gearbeitet haben. Sie waren in Archiven von deutschen Stahlunternehmen, in Bibliotheken in Rio de Janeiro und auf Barbados, in früheren Handelshochburgen in Italien und in Usbekistan und Sie sprachen mit Textilarbeiter:innen in Kambodscha. Welche Begegnung hat Sie am meisten überrascht?
Im Buch erzähle ich die globale Geschichte des Kapitalismus, aber ich erzähle sie aus lokalen Perspektiven. Meine erste Reise ging nach Barbados, um mich mit der Geschichte des Landes vor 300 Jahren zu beschäftigen. Obwohl ich natürlich schon wusste, um was es da ging, war die Intensität und Dynamik der kapitalistischen Revolution dennoch sehr überraschend: wie innerhalb von wenigen Jahren eine ganze Insel quasi komplett gerodet und dem Zuckerrohranbau gewidmet wurde – und wie Zehntausende von versklavten Arbeitern dorthin gebracht wurden.
Ideologisch trennten Adam Smith und Karl Marx Welten, trotzdem gingen beide davon aus, dass der Kapitalismus in Europa seinen Ursprung hatte. Sie dementieren das. Warum?
Als Adam Smith oder Karl Marx geschrieben haben, war die Welt stark auf Europa konzentriert. Und sie haben die Welt aus der Perspektive betrachtet, die sich ihnen erschlossen hat. Heute leben wir jedoch in einer anderen Welt, in der zum Beispiel Asien eine herausragende Rolle im globalen Kapitalismus spielt. Wir können deshalb diese Perspektiven nicht mehr teilen und müssen die Welt des Kapitalismus neu betrachten. Dann sehen wir zum Beispiel, wie die neuartige Logik, die wir Kapitalismus nennen, sich in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends in verschiedenen Gegenden der Welt entfaltete – in China, Indien und auch in Florenz. Wir können auch beobachten, wie selbst in der Blütezeit Europas seine wirtschaftliche Entwicklung immer sehr stark mit anderen Weltregionen verwoben war. Die alten Geschichten über den Kapitalismus, die in Florenz, Genua oder Venedig beginnen und in denen der Rest der Welt so gut wie keine Rolle spielt, können letztendlich den Kapitalismus nicht verstehen.
Theoretiker wie Marx haben dem Kapitalismus ja ein baldiges Ende prophezeit. Sie schreiben hingegen, dass er sich ständig anpasst. Bleibt uns der Kapitalismus Ihrer Meinung nach also noch lange erhalten?
Das Ende des Kapitalismus wird seit dem 19. Jahrhundert immer wieder vorhergesagt. Doch erst seitdem hat er seine größte Ausdehnung und Dynamik gefunden. Was ich beim Schreiben dieses Buchs auch gelernt habe: Der Kapitalismus ist im Gegensatz zu vielen, die über ihn schreiben, fundamental undogmatisch. Er passt sich sehr stark den unterschiedlichsten politischen Systemen und den unterschiedlichsten Formen der Arbeitskräftemobilisierung an. Was wir jetzt aber mehr denn je sehen, ist, dass die natürliche Umwelt ihre Grenzen hat. Das ist ein Grund, warum die Entwicklung des Kapitalismus beschränkt sein könnte. Innerhalb des Kapitalismus gibt es aber diese unglaubliche Kreativität, durch die er schon viele Krisen überwunden hat.
In Europa, vor allem in Deutschland und in Österreich, stagniert die Wirtschaft. Kann es einen Kapitalismus ohne Wachstum geben?
Historisch hat der Kapitalismus, vor allem seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, ein mehr oder weniger kontinuierliches Wirtschaftswachstum produziert. Damit unterscheidet er sich fundamental von allen anderen Wirtschaftsformen. Sowohl historisch als auch konzeptionell ist ein Kapitalismus, der quasi stillsteht, schwer vorzustellen. Und natürlich steht der Kapitalismus heute auch nicht still. Das Wirtschaftswachstum hat sich in Europa stark verlangsamt. Auf globaler Ebene ist der Kapitalismus aber kontinuierlich expansiv. Zu denken, dass der Kapitalismus quasi stagniert, ist eine sehr europäisch zentrierte Perspektive.
Der asiatische Anteil an der globalen Produktion lag 1990 bei 25 Prozent, 2022 bereits bei 51 Prozent. China meldet 70 Prozent der neuen KI-Patente weltweit an. Warum hat sich das Zentrum des Kapitalismus so stark nach Osten verschoben?
Die Wurzeln der kapitalistischen Dynamik reichen in Asien mehrere Jahrhunderte zurück. Um 1750 lag der Schwerpunkt der Weltwirtschaft eindeutig in Asien, nicht in Europa. Daraus können wir schließen, dass die europäische Dominanz in der Geschichte des Kapitalismus ein relativ kurzer Moment war. Daher überrascht es mich nicht, dass sich die Dynamik des Kapitalismus in andere Weltregionen verlagert.
In den USA und in Europa versucht man, gegen diese neue Ordnung anzukämpfen. Sind die von Donald Trump verabschiedeten Zölle ein Versuch der USA, das kapitalistische Zentrum der Welt zu bleiben?
Ganz klar: ja. Es ist der Versuch, die Machtverhältnisse, wie sie noch bis vor Kurzem bestanden, in die Zukunft zu retten. Auch Großbritannien hat im 20. Jahrhundert versucht, durch Zölle und Protektionismus seine eigene Position in der Welt zu bewahren. Ein Projekt, das letztendlich spektakulär gescheitert ist. Ich gehe davon aus, dass in diesem Sinne auch die heutige US-Politik wenig erfolgreich sein wird.
Sind staatskapitalistische Systeme wie in China wirtschaftlich erfolgreicher als solche mit demokratischen politischen Systemen?
China ist nicht dem neoliberalen Modell gefolgt, sondern einem ganz anderen: dem staatszentrierten Modell der Wirtschaftsentwicklung. Wie bereits erwähnt, ist der Kapitalismus, was seine politische Einbettung betrifft, äußerst undogmatisch. Lange Zeit gab es die Erzählung, dass der Kapitalismus und die liberale Demokratie miteinander einhergehen. In der Vergangenheit hat sich der Kapitalismus aber in den unterschiedlichsten politischen Systemen entwickelt: in den europäischen Monarchien des 18. und 19. Jahrhunderts, in den lateinamerikanischen Militärdiktaturen in den 1950er- und 1960er-Jahren. Und auch heute sehen wir autoritäre Staaten, die zugleich sehr kapitalistisch sind – etwa Singapur oder China.
Heute gibt es viele Wachstums- und Kapitalismuskritiker:innen. Sie kommen sowohl von rechts als auch von links. Was eint und was trennt diese Lager?
Historisch gesehen waren viele feudale Eliten oder Aristokraten in Europa bis ins 19. Jahrhundert sehr skeptisch gegenüber der kapitalistischen Revolution. Hier haben wir quasi eine Kritik von rechts. Und natürlich war die aufstrebende Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert auch sehr kritisch gegenüber dem Kapitalismus. Das wäre eine Gegenbewegung von links. Heute gibt es von rechts eine populistische Bewegung in vielen Teilen Europas und in den USA. Und ich glaube, sie ist aktuell die stärkere und kraftvollere Kritik an der neoliberalen Ordnung. Aber natürlich ist die Kritik von rechts im Großen und Ganzen nicht eine fundamentale Kritik am Kapitalismus, sondern eine Kritik seiner derzeitigen Organisation.
Diese begünstigt, wie Sie schreiben, die Monopolbildung und nicht den Wettbewerb. Dabei ist der freie Wettbewerb doch ein Kernelement des Kapitalismus?
Unternehmer haben auf jeden Fall die Tendenz, Wettbewerb nicht zu mögen. Und das macht auch völlig Sinn, weil eine Monopolstellung oder ein gesicherter Markt immer profitabler ist als ein Markt, in dem man sich mit vielen Wettbewerbern messen muss. Wenn wir uns die Stahlindustrie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ansehen, gibt es eine ganz starke Tendenz, sich dem Markt so weit wie möglich zu entziehen, indem man Rohstoffe nicht auf dem Markt einkauft, sondern Kohle und Eisenerz möglichst direkt kontrolliert. Und es gibt natürlich auch in der Gegenwart große Versuche, den Markt so gut wie möglich zu monopolisieren, denken Sie nur an die Tech-Konzerne.
Sie lehnen es ab, eine normative Stellungnahme zum Kapitalismus abzugeben, ihn entweder als „gut“ oder als „böse“ zu bezeichnen. Warum?
Das Buch betont die Vielfältigkeit des Kapitalismus. Auf der einen Seite der Zuwachs an Wohlstand. Auf der anderen Seite die Sklaverei, die Ausbeutung und die Umweltzerstörung. Ich überlasse es dem Leser oder der Leserin, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Aber egal, was für Konsequenzen sie daraus ziehen, wir müssen den Kapitalismus verstehen, um die Welt, in der wir heute leben, navigieren zu können.
Krieg, Sklaverei, Zerstörung der Natur: Sie beleuchten einige der brutalsten Kapitel der Menschheitsgeschichte. Kann das Buch trotzdem Hoffnung geben?
Das Buch endet – vielleicht überraschend für einige Leser – relativ optimistisch. Und der Optimismus kommt daher, dass der Kapitalismus eben nicht natürlich ist. Er ist eine Organisation der Wirtschaft und des Lebens, die von Menschen geschaffen worden ist, die einen Anfang hat, die sich zuerst langsam und dann immer schneller rund um die Welt verbreitet hat. Daher denke ich, dass wir auch die Zukunft gestalten und nicht nur machtlos dem Weltgeschehen, dem Weltgeist zuschauen können.
Zur Person
Sven Beckert ist Professor an der Harvard University. Er lehrt und forscht zur Geschichte des Kapitalismus einschließlich seiner wirtschaftlichen, sozialen und politischen Dimensionen und ist Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. 2014 veröffentlichte Beckert ein Buch über die wichtigste Handelsware des 19. Jahrhunderts, den zentralen Katalysator des globalen Kapitalismus: Baumwolle. Im November erschien sein Buch „Kapitalismus. Geschichte einer Weltrevolution“ im Rowohlt Verlag (43,20 Euro).
Das Interview ist im trend.PREMIUM vom 05. 12. 2025 erschienen.
