
HARTWIG LÖGER, CEO der Vienna Insurance Group, über die Bestrebungen der Versicherungsgruppe, Menschen mehr Risikokompetenz zu vermitteln.
Nur wer ein Bewusstsein für Risiken des täglichen Lebens entwickelt, ist in der Lage, diese einzuschätzen. Dies ist besonders wichtig, wenn es um die finanzielle Sicherheit geht. Die Vienna Insurance Group (VIG) ist daher der Frage nachgegangen, wie ausgeprägt die Risikowahrnehmung der Menschen ist. Dazu wurden 9.000 Personen aus neun Ländern, in denen die VIG tätig ist, befragt. Unter den Befragten befanden sich etwas mehr als 2.000 Personen im Alter von 18 bis 29 Jahren. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass gerade Jugendliche ein besonders geringes Risikobewusstsein haben.
TREND: Warum widmet sich die VIG dem Thema Risikokompetenz und hat dazu eine umfassende Studie beauftragt?
Hartwig Löger: Menschen schützen sich nur dann vor Risiken, wenn sie ein Bewusstsein für Themen wie Vorsorge und Risikoabsicherung haben. Die Studie soll uns helfen, gezielte Maßnahmen zu entwickeln, um die Risikokompetenz in der CEE-Region zu verbessern und damit sozial nachhaltig zu agieren. Unsere Studie hat sich auf die Risikowahrnehmung in den Bereichen Gesundheit, Arbeitskraftverlust, selbst verschuldete Unfälle, Wohnrisiken und Internetbetrug konzentriert.
In welchen dieser Bereiche war die Risikokompetenz stärker und in welchen schwächer ausgeprägt? Generell ist das Risikobewusstsein in allen abgefragten Bereichen gering. Am meisten denken Jugendliche über Schäden an Wohnobjekten nach. Die Risikokompetenz Jugendlicher ist bei der Gefahr selbst verschuldeter Unfälle und Cybercrime etwas höher ausgeprägt als bei Personen über 30 Jahren. Dies könnte damit zusammenhängen, dass sie als Digital Natives intensiver mit Bedrohungen im Internet in Berührung kommen. Gleichzeitig werden sie aufgrund ihrer höheren Risikobereitschaft vermehrt mit Unfallrisiken konfrontiert.
Die Erhebung wurde in neun Ländern durchgeführt. Gibt es regionale Unterschiede in der Risikokompetenz?
Gemessen an Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenseinschätzung ist die Risikobewertung in Rumänien und Österreich unter den Jugendlichen am höchsten. Rumänien weist in allen Bereichen ein deutlich höheres Risikobewusstsein auf, was aber nicht bedeutet, dass damit auch eine höhere Bereitschaft zur Prävention oder Absicherung einhergeht. In Rumänien, Bulgarien und in Ungarn werden die Risiken der abgefragten Bereiche zum Großteil höher eingeschätzt als in den anderen Ländern.
Warum haben Sie sich explizit die Zielgruppe junge Menschen angesehen und was ist die wesentlichste Erkenntnis aus der Studie?
Jugendliche von 18 bis 29 Jahren sind in Bezug auf die Risiken der modernen Welt eine besonders vulnerable Gruppe. Es ist auch klar, dass sich Jugendliche nicht permanent mit Risiken beschäftigen, sie wollen das Leben genießen, ausprobieren und Erfahrungen sammeln. Wenn zwei Drittel der
Befragten sich der abgefragten Risiken wenig bis gar nicht bewusst sind und 80 Prozent nicht an deren Eintritt glauben, zeigt das schon eine sehr geringe Affinität für Risikobewusstsein. Die Bereitschaft der jungen Menschen, Risiken einzugehen, liegt mit 70 Prozent sehr hoch. Im Vergleich dazu liegt dieser Wert bei den 50- bis 59-Jährigen bei 50 Prozent.
Wo sehen Sie besondere Herausforderungen für Jugendliche?
Junge Menschen befinden sich in einer Lebensphase, in der sie oft weniger Selbstvertrauen haben, da ihnen die Erfahrung fehlt. Sie reagieren sensibler auf Risiken und fühlen sich weniger in der Lage, mit ihnen umzugehen. Diese Unsicherheit kann zu impulsiven Entscheidungen führen, die langfristige finanzielle Auswirkungen haben können. Ich sehe gerade die junge Generation auch im Hinblick auf so große Themen und Bedrohungen wie die Klimakrise besonders gefordert, in der Lage sein zu müssen, fundierte Entscheidungen im Umgang mit den daraus entstehenden Risiken zu treffen.
Glauben die Jugendlichen, dass der Staat im Schadensfall einspringt?
Die finanziellen Folgen bei Eintritt eines Risikos werden durchwegs als hoch eingeschätzt. Viele gehen tatsächlich davon aus, dass der Staat bei finanziellen Schäden hilft. Besonders in Österreich verlassen sich 65 Prozent der Jugendlichen auf staatliche Unterstützung. Je höher der erwartete Schaden, desto höher die Erwartungshaltung, dass der Staat einspringt. Diese Annahme ist jedoch oft nicht realistisch, da der Staat in vielen Fällen, wie bei Freizeitunfällen mit Dauerfolgen, keine finanzielle Hilfe leistet. Wer in jungen Jahren berufsunfähig wird, erhält wegen fehlender Beitragszeiten eine nur sehr geringe staatliche Leistung, um hier zwei Beispiele zu nennen.
Es gibt den Begriff der Vollkaskomentalität. Gemeint ist damit, dass sich Menschen in einem ausprägten Netz sozialer Absicherung weniger Gedanken um Risiken und Vorsorge machen. Trifft das auf Österreich zu?
Der Anteil von jungen Erwachsenen, die sich auf die staatliche Unterstützung bei Schadensfällen verlassen, ist in Österreich im Ländervergleich am höchsten. Das hängt sicher mit unseren Errungenschaften des Sozialstaates beziehungsweise unserem stabilen Sozialsystem zusammen.
Wie steht es um die Bereitschaft zur Vorsorge? Die Bereitschaft zur Vorsorge ist generell gering. Viele Menschen setzen auf Prävention und hoffen auf Glück nach dem Motto: „Ich passe auf, mir wird schon nichts passieren.“ Jugendliche, die gar nichts zur Risikovorsorge unternehmen – sei es eine Versicherung, Rücklagen oder sonstige Vorsichtsmaßnahmen –, geben häufiger als Personen über 30 Jahren an, dass sie sich der finanziellen Folgen nicht bewusst sind oder zu wenig wissen, wie sie dagegen vorgehen sollten. Es liegt somit eher am fehlenden Wissen, wie man vorsorgt.
Kann man hier eine Parallele zum allgemein geringen Finanzwissen in der Bevölkerung ziehen, das häufig angesprochen wird?
Ja, fehlende Risikokompetenz geht oft mit mangelndem Finanzwissen einher. Wir haben auch das Finanzwissen in der Gallup-Studie abgefragt. 80 Prozent der Jungen verfügen laut Angaben über ein niedriges bis mittelmäßiges Finanzwissen. Aber mangelndes Finanzwissen ist keine Altersfrage, denn auch 70 Prozent der 30- bis 65-Jährigen weisen hier Defizite auf.
Überraschen Sie diese Ergebnisse?
Nachdem weder Finanzwissen noch Risikokompetenz an den Schulen gelehrt werden, sind die Ergebnisse leider nicht überraschend.
Wo sehen Sie Ansätze, diesen Mangel zu verringern oder zu beheben?
Beide Bereiche sollten forciert und in die Lehrpläne der Bildungseinrichtungen integriert werden. Wissensvermittlung an Bildungsinstitutionen würde auch jene Gruppen abholen, die von zu Hause kein bis wenig Finanzwissen vermittelt bekommen.
Sie haben zu Beginn davon gesprochen, als VIG gezielt Maßnahmen zu ergreifen. Wie engagieren Sie sich beim Thema Erhöhung der Risikokompetenz?
Wir haben begonnen, uns des Auftrags der Wissensvermittlung und Aufklärungsarbeit an Schulen und Universitäten anzunehmen, und forcieren innerhalb der Gruppe Aktivitäten zur Steigerung der Risikokompetenz. Zahlreiche Versicherungsexperten der VIG-Gesellschaften fungieren als Vortragende, Mentoren und Vermittler an Schulen, Gymnasien und Universitäten. In Rumänien unterstützen wir zum Beispiel eine Organisation, die sich an Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe wendet, die die Rolle des Geldes im täglichen Leben kennenlernen. Sie müssen rationale Entscheidungen über ihre eigenen Finanzen treffen, die von potenziellen Risiken abhängen. Wir sehen es in unserer Verantwortung, dem Wunsch nach mehr Information und Wissensvermittlung unabhängig vom Verkaufsinteresse nachzukommen.
Zur Person:
Hartwig Löger ist seit Juli 2023 Vorstandsvorsitzender der Vienna Insurance Group. Anfang 2021 wurde er Mitglied im Vorstand der VIG. Von 2017 bis 2019 war Löger Finanzminister der Republik Österreich, davor Vorstandsvorsitzender der Uniqa Österreich AG.