
Lenzing-CEO Rohit Aggarwal
©trend/Lukas IlgnerRohit Aggarwal, seit September 2024 Chef des Faserkonzerns Lenzing AG, spricht im trend-Interview über unberechenbare Zölle, den grünen Backlash und indische Wurzeln.
trend: Man hört derzeit viel vom Green Backlash – also einer Gegenbewegung zur Nachhaltigkeit, besonders in der Politik, etwa in Bezug auf den Green Deal. Merken Sie das auch im Bereich der ökologischen Fasern?
Rohit Aggarwal: Meiner Meinung nach ist Nachhaltigkeit in diesem Bereich eine Einbahnstraße – die einzige Frage ist, wie schnell man auf dieser Straße vorankommt. Lenzing ist der Nachhaltigkeit sehr stark verpflichtet, nicht nur durch das, was wir tun, sondern auch dadurch, dass wir die Branche beeinflussen, um gemeinsam besser zu werden. Öffentliche Unternehmen – egal ob große Modemarken oder Vliesstoffkunden – haben sich heute klare Ziele gesetzt und diese öffentlich gemacht. Daher gibt es kein Zurück mehr – die Frage ist nur, wie schnell man die angekündigten Ziele umsetzen kann.
Der Pionier ist nicht immer der ökonomische Gewinner, es heißt ja auch, dass die zweite Maus den Käse bekommt.
Lenzing hat Fasern wie Ecovero oder Lyocell auf den Markt gebracht – andere folgten. Uns ist klar, dass Konkurrenz entstehen wird, und wir begrüßen das sogar, denn es hilft, den Markt für regenerative Zellulosefasern auszubauen. Noch ist dieser Anteil an der gesamten Faserproduktion sehr gering. Das Wachstumspotenzial ist also enorm. Innovation kommt bei uns jetzt nicht nur intern, sondern auch durch externe Partnerschaften. Für uns ist das keine Bedrohung, sondern eine Synergie.
McKinsey prognostiziert für 2025 ein sehr volatiles Jahr für die Textilindustrie. Wird der Bereich Vliesstoffe für Sie künftig strategisch wichtiger?
Ja, definitiv. Unser Portfolio war früher stark auf Textil ausgerichtet. Strategisch möchten wir Vliesstoffe und Textilien als zwei gleich starke Standbeine etablieren. Der Vliesstoffmarkt ist bereit für einen Wandel, insbesondere durch die Substitution von Kunststoff durch Zellulosefasern.
In Österreich produzieren Sie an zwei Standorten, Lenzing und Heiligenkreuz. Was setzt Ihnen am stärksten zu?
Was uns in den letzten Jahren am meisten belastet hat, ist der Energiepreis. Eine Kompensation bei Energiepreisen wäre entscheidend, um die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Ohne das wird es sehr schwierig. Mein Appell an die Regierung ist: Bitte unterstützt die Industrie in dieser schwierigen Phase.
Der Wirtschaftsminister teilt trend mit, dass es diese Kompensation nicht in der gewünschten Art geben wird. Keine guten Nachrichten für Sie. Wird Lenzing seine Investitionen verlagern?
Jeder Standort hat eine unterschiedliche Kostenstruktur. Ich möchte keinen direkt bewerten. Aber wenn ich es pauschal sagen müsste: Österreich ist aktuell im Vergleich eindeutig zu teuer und wenig wettbewerbsfähig.
Sie bleiben ein österreichisches Unternehmen?
Ja. Wir haben derzeit keine Pläne, das zu ändern.
Wie wirken sich Donald Trumps Zölle und Zollandrohungen auf Ihre Lieferketten und Ihre Lieferungen zum Beispiel zwischen den USA und China aus? Sie haben ja Produktionsstandorte sowohl in Alabama als auch in Nanjing.
Wir haben in Lenzing einen sogenannten „War Room“ eingerichtet. Im Grunde geht es darum, unsere Standorte und unsere Struktur so zu analysieren und zu steuern, dass wir das bestmögliche Ergebnis für unsere Kunden erzielen. Der direkte Einfluss ist bisher gering, das heißt: minimal. Aufgrund unserer Aufstellung sind wir in der Lage, unsere Lieferketten so zu managen, dass wir unsere Kunden weiterhin bedienen können. Die größere Frage ist jedoch der indirekte Einfluss, also was mit dem Warenfluss zwischen China und den USA passiert. Ich denke, Lenzing als einzige weltweit integrierte Fasergruppe ist da in einer besseren Position. Sollte sich die Lieferkette etwas von China weg verlagern – etwa in Richtung Türkei oder andere Länder in Südostasien –, dann sind wir dort bereits stark vertreten.
Also wenig Grund zur Sorge?
Die größte Sorge, wenn Sie mich fragen, ist der indirekte Effekt, dass Zölle letztlich als Preiserhöhungen an den Endverbraucher weitergegeben werden, also dass der US-Verbraucher dadurch bei seinen Ausgaben zurückhaltender wird. Was das genau bedeutet, wie viel davon durchgereicht wird, das muss sich erst noch zeigen.
Die iPhone-Hersteller weichen schon verstärkt von China nach Indien oder Vietnam aus. Auch die Textilindustrie?
Wenn man sich anschaut, wo die Industrie am besten integriert ist – also vom Rohstoff bis zum fertigen Kleidungsstück –, dann ist das nach wie vor China. Heute sind die Zölle in eine Richtung gegangen. Wer weiß, ob sie nicht auch wieder zurückgehen. Also investiert wird nicht als unmittelbare Reaktion auf Zölle, sondern eher langfristig.
Indien gilt als Hoffnungsträger der Weltwirtschaft. Wie wichtig ist dieser Markt heute für Sie? Und wie wichtig wird er noch werden – auch in Bezug auf Produktionsstandorte und Entscheidungen über Investitionen?
Indien ist heute schon ein sehr wichtiger Markt für Lenzing, einer der Top-drei-Märkte, die wir bedienen. Und wenn ich auf die nächsten fünf bis zehn Jahre blicke, wird Indien weiterhin ein sehr strategischer Markt bleiben. Indien ist nicht nur ein bedeutender Textilexporteur, sondern auch ein wachsender Binnenmarkt. Wir genießen derzeit starkes Wachstum dort und gehen davon aus, dass das auch in Zukunft so bleibt. Lenzing hat dort ein starkes Fundament durch mein Team, und wir prüfen fortlaufend mögliche Investitionen in Indien.
Auch in Fabriken?
Momentan gibt es einige Hindernisse – nichttarifäre Handelshemmnisse durch unterschiedliche Qualitätsstandards, die einen ungleichen Wettbewerb für inländische Produzenten schaffen. Wenn Indien diese aktuelle Situation wirklich nutzen will, müssen diese Standards vereinheitlicht werden – ein freier und fairer Wettbewerb würde der indischen Textilindustrie helfen, global wettbewerbsfähiger zu werden. Das ist jetzt eine Chance, Dinge zu verändern. Die Industrie braucht die besten und wettbewerbsfähigsten Fasern weltweit – und wir appellieren an die indische Regierung, diese Barrieren abzubauen. Lenzing ist jedenfalls bereit, weiterhin in Indien zu investieren.
Sie sind in Nordindien aufgewachsen. Wie erklären Sie sich, dass von Microsoft bis Chanel so viele erfolgreiche CEOs globaler Unternehmen aus Indien kommen?
Das indische Bildungssystem ist erstens extrem wettbewerbsorientiert. Dadurch entsteht eine natürliche Auslese an Talenten. Viele dieser Talente kommen mit einem technischen oder betriebswirtschaftlichen Hintergrund. Das ist eine starke Grundlage. Zweitens: Wir wachsen nicht in einem homogenen Land auf, sondern mit enormer kultureller Vielfalt – 26 Sprachen, alle 500 Kilometer ändern sich Sprache, Essen, Kultur. Das macht uns sehr anpassungsfähig im Umgang mit kultureller Vielfalt –, ein großer Vorteil in der globalisierten Welt. Drittens: Wir sind geübt darin, Konsens zu schaffen, unterschiedliche Meinungen unter einen Hut zu bringen. Das hilft dabei, Menschen mitzunehmen, was wiederum Führung erleichtert.
Und wie sehen Sie Europa? Ein alter Kontinent, strukturell träge, wie man das von den meisten Führungskräften hört?
Ich habe die Hälfte meiner Karriere in Europa verbracht. Die Leute fragen mich oft, wie ich das ausgehalten habe. Ich sage dann: „Offensichtlich gut, sonst wäre ich nicht so lange geblieben.“ Ich sehe einen Generationenwandel. Die junge Generation ist ganz anders gestrickt – viel stärker vernetzt, über Landesgrenzen hinweg denkend, mobiler und ambitionierter. Das ist gut für Europa. Als ich vor über 25 Jahren nach Europa kam, war man sehr stolz auf das industrielle Erbe, auf die Innovationskraft. Das ändert sich jetzt: Die neue Generation ist experimentierfreudiger und geht über traditionelle Branchen hinaus. Aber Europa braucht die alte Generation noch, um diesen Wandel zu stützen. Wenn man über KI oder Industrie 4.0 spricht – das sind Chancen für Europa. Die Frage ist nur: Wird Europa sich durch Bürokratie und nationale Politik fesseln lassen? Oder wird es den Binnenmarkt nutzen, um mehr Freiräume zu schaffen? Ich bin vorsichtig optimistisch.
Eine Frage zum Sommer: Sind Sie schon in den Attersee, wenige Kilometer von Lenzing entfernt, gehüpft?
Das werde ich diesen Sommer definitiv tun. Ich habe im September begonnen, und die ersten Monate habe ich mich nur aufLenzing konzentriert. Als ich dann aufgeschaut habe, war es schon tiefster Herbst. Ich liebe diese Gegend. Der Blick auf Berge gibt mir ein gutes Gefühl. Mein Herz gehört dieser Landschaft.
Das Interview erschien erstmals in der trend.PREMIUM-Ausgabe vom 23. Mai 2025.
Zur Person
Rohit Aggarwal, 57, ist seit September 2024 CEO der Lenzing AG. Er stammt aus Nordindien und arbeitet seit über 25 Jahren in Europa. Der Faserkonzern mit Sitz im oberösterreichischen Lenzing gilt als Nachhaltigkeitsvorreiter der Branche, ist in den letzten Jahren allerdings in schwere Turbulenzen gekommen. 2023 und 2024 wurden nach Steuern Verluste von 593 bzw. 138 Millionen Euro geschrieben. Die Ergebnisse im ersten Quartal 2025 zeigten eine deutlich positive Tendenz. 2024 übernahm der brasilianische Zellstoffriese Suzano 15 Prozent an dem börsennotierten Unternehmen. 37,25 Prozent hält die B&C-Gruppe.