
Der Wandel von der unipolaren zur multipolaren Welt ist im vollen Gange. Im Zeitalter der Dauerkrisen sollten Unternehmen das Thema Geopolitik zur Chefsache machen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit in jeder Weltlage nachhaltig abzusichern, raten Gunther Reimoser, Country Managing Partner EY Österreich, und Famke Krumbmüller, Leiterin der EY Geostrategic Business Group.
TREND: Die Welt wird immer unberechenbarer. Auf welche Szenarien können sich Unternehmen vorbereiten – und wie wahrscheinlich sind diese?
GUNTHER REIMOSER: In den meisten Unternehmen ist derzeit ein klarer Wandel spürbar: Während vor drei bis vier Jahren noch Nachhaltigkeit und Lieferketten die Agenden in den Vorstandsetagen bestimmten, stehen heute Geostrategie und geopolitische Entwicklungen im Mittelpunkt. Viele CEOs fragen sich, wie sie angesichts der aktuellen Krisendichte überhaupt noch fundierte Entscheidungen treffen können. Schon bei der Lieferkettenproblematik haben wir Unternehmen geraten, in Szenarien zu denken – und genau das gilt nun auch für die Geostrategie: Es gibt zahlreiche Unbekannte, die sich massiv auf das Geschäft auswirken können. Umso wichtiger ist es, die gesamte Bandbreite möglicher Entwicklungen mitzudenken. Wie positionieren sich Staaten im globalen Gefüge? Wie wird sich die Fragmentierung der Weltordnung fortsetzen? Werden neue Machtblöcke eigenständig agieren? Ist mit einer Rückkehr zu einem Gleichgewicht zu rechnen – allerdings in veränderter Form mit mehreren Machtzentren? Und wie sollen Unternehmen mit dem Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Liberalisierung auf der einen und wachsendem Protektionismus sowie Interventionismus auf der anderen Seite umgehen? All das muss in strategische Entscheidungen einfließen – von Investitionen über Diversifikationsstrategien bis hin zu operativen oder strategischen Fragen entlang der Lieferkette. Eine universelle Lösung gibt es nicht, denn die Zukunftsszenarien sind vielfältig – und keines davon darf ausgeblendet werden.
FAMKE KRUMBMÜLLER: Auch wenn Topmanager erst seit ein bis zwei Jahren verstärkt über geopolitische Risiken sprechen, nehmen diese seit vielen Jahren kontinuierlich zu. Nun ist ein Punkt erreicht, an dem immer mehr Unternehmen erkennen, dass sie nicht ausreichend aufgestellt sind, um diesen Risiken zu begegnen. Wir raten Unternehmen, eine Geostrategie zu implementieren, wobei es darum geht, sich so aufzustellen, dass die Risiken abgedeckt sind, aber auch die Chancen, welche von geopolitischen und politischen Entwicklungen ausgehen, ergriffen werden können. Auffällig dabei ist die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen und dem wahrgenommenen politischen Risiko: Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, war das reale Risiko zweifellos hoch – die Ängste vieler Unternehmen jedoch noch größer. Heute hingegen hat sich vielerorts eine gewisse Gewöhnung eingestellt, mit der Folge, dass das Risikobewusstsein wieder abnimmt. Um dem entgegenzuwirken, haben wir auch plausible Szenarien entwickelt, die Unternehmen konkrete Orientierung bieten. Denn auch wenn die Zukunft offen ist: Es gibt Maßnahmen, die in allen denkbaren Entwicklungen sinnvoll und wirksam sind.
Welche Maßnahmen helfen immer?
REIMOSER: Unternehmen müssen sich intensiv und systematisch mit geopolitischen Fragen auseinandersetzen – und das nicht nur bei der geografischen Diversifikation oder Marktexpansion, sondern bereichsübergreifend. Auch wenn niemand die Zukunft vorhersagen kann, gibt es weit weniger echte „schwarze Schwäne“ als gemeinhin angenommen – viele Entwicklungen sind durchaus absehbar. Ein Beispiel: Die US-Zölle unter Trump wurden bereits im Wahlkampf angekündigt. Auf das Prinzip Hoffnung zu setzen, in der Annahme, es werde schon nicht so schlimm kommen, ist daher keine tragfähige Managementstrategie.
KRUMBMÜLLER: Statt Wunschdenken braucht es eine professionelle, objektive und regelmäßige Analyse. Unternehmen müssen besser verstehen, was geopolitisch in der Welt und in ihren Märkten geschieht und was das konkret für sie bedeutet. Doch das passiert bislang noch zu selten: Laut unserer aktuellen Umfrage wurden 77 Prozent der Unternehmen von mehr als der Hälfte aller politischen Entwicklungen überrascht. Die Realität ist: Die meisten Unternehmen sind intern noch nicht so aufgestellt, dass sie politische Risiken systematisch identifizieren und deren Auswirkungen frühzeitig erkennen können. Oft wird im akuten Fall zwar ein reaktives Krisenmanagement eingeleitet, doch ist die Krise überstanden, kehrt man schnell wieder zum alten Modus zurück. Es braucht eine regelmäßigen und proaktive Herangehensweise, idealerweise in Form einer Geostrategie.


„Geostrategy By Design“ von Courtney Rickert McCaffrey, Witold J. Henisz und Oliver Jones, EY Parthenon/Disruption Books
© EYGeostrategy By Design
EY Parthenon hat ein englischsprachiges Fachbuch zum Thema Geostrategie veröffentlicht, in dem sich führende Experten zum Thema äußern und CEOs nützliche Tipps auf den Weg geben, wie sie nachhaltige Werte im neuen Zeitalter des globalen Wettbewerbs schaffen können. „Geostrategy By Design“ von Courtney Rickert McCaffrey, Witold J. Henisz und Oliver Jones, EY Parthenon/Disruption Books, ISBN: 978-63331-073-5, auch als E-Book erhältlich.
Warum scheint sich die Politik von der Wirtschaft entkoppelt zu haben?
REIMOSER: Wir beobachten, dass in der Politik ein Umdenken eingesetzt hat – die Anliegen der Wirtschaft finden wieder stärkere Beachtung. Gleichzeitig steigen jedoch der budgetäre Druck und die gesellschaftlichen Spannungen. Eine sozial ausgewogene, marktwirtschaftliche Ordnung ist jedoch ein zentraler Pfeiler unseres demokratischen Verständnisses. Gerät dieses Gleichgewicht ins Wanken oder wird es in Frage gestellt, droht die Polarisierung weiter zuzunehmen. Deshalb müssen Staaten zuerst eine durchdachte, sozial verträgliche Konsolidierung umsetzen – und im Anschluss jene Reformen auf den Weg bringen, die Wirtschaft und Gesellschaft benötigen, um wieder Stabilität zu gewinnen. Denn eines ist klar: Mit Interventionismus und Protektionismus ist kein nachhaltiges Wachstum möglich.
KRUMBMÜLLER: Wir blicken auf Jahrzehnte zurück, in denen internationale Kooperation dominierte und wirtschaftliches Denken im Vordergrund stand. Heute sehen sich politische Entscheidungsträger zunehmend gezwungen, sich im globalen Machtgefüge zu behaupten. Sie sind daher stärker geopolitisch als wirtschaftlich geprägt. Ihre Maßnahmen mögen aus geopolitischer Sicht rational sein – aus unternehmerischer Perspektive erscheinen sie jedoch oft schwer nachvollziehbar. Für die Wirtschaft bedeutet das: Die Zahl der Verlierer steigt. Es ist absolut essenziell geworden, Politik und Geopolitik zu verstehen, um antizipieren zu können, was politische Entwicklungen für das Unternehmen bedeuten könnten, und sich dementsprechend richtig aufzustellen.
Aktuelle Zukunftsszenarien sind wenig optimistisch. Was bedeutet das?
KRUMBMÜLLER: Wer sich gut vorbereitet, wird auch künftig attraktive Gewinnchancen in bestimmten Märkten und Branchen vorfinden. Geopolitisch fundierte Investitionen lohnen sich – mehr denn je kommt es auf unternehmerische Weitsicht und Anpassungsfähigkeit an. Zwar lassen sich geopolitische Entwicklungen nicht exakt vorhersagen, doch einige strukturelle Trends sind absehbar: Die unipolare Weltordnung weicht einer multipolaren Realität geprägt von geostrategischen Rivalitäten, und der Fokus verschiebt sich damit zunehmend auf politische und wirtschaftliche Sicherheit.
EY rät, sich auf das Unerwartete vorzubereiten. Warum ist das wichtig?
REIMOSER: Unternehmenslenker müssen laufend Entscheidungen treffen. „Plan for the Unexpected“ ist daher das Gebot der Stunde. Geostrategie gehört ganz oben auf die CEO-Agenda. Es gilt, sich aktiv zu fragen: Mit welchen Szenarien müssen wir rechnen – und was, wenn unsere Erwartungen nicht eintreffen? Resilienz aufzubauen kostet zwar, aber Investitionen in Geostrategie sind wie eine Versicherung: Im Ernstfall kann der Schaden enorm sein.
Zu den Personen:
FAMKE KRUMBMÜLLER, EMEIA Leader, EY Geostrategic Business Group, hat einen akademischen Hintergrund und ist Strategin sowie politische Analystin. Als Mitglied der Forbes Europe „Policy & Law“-Liste und regelmäßige Referentin in Medien gilt sie als angesehene Kommentatorin politischer Entwicklungen.
GUNTHER REIMOSER ist Country Managing Partner von EY Österreich und hat die geschäftliche Gesamtverantwortung über. Der studierte Wirtschaftsinformatiker blickt auf drei Jahrzehnte Karriere bei EY Österreich zurück und ist Wirtschaftsprüfer, Steuerberater und Unternehmensberater.