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"Wir haben nichts gegen einen 7. ÖVP-Kanzler" [Politik Backstage]

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Karl Nehammers Abgang. Sollte der Kanzler zurücktreten, würden die Grünen auch seine Nachfolgerin oder seinen Nachfolger akzeptieren.
Karl Nehammers Abgang. Sollte der Kanzler zurücktreten, würden die Grünen auch seine Nachfolgerin oder seinen Nachfolger akzeptieren.©APA/HELMUT FOHRINGER
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Die Regierung ist unten durch. In der ÖVP rumort es wie in alten Zeiten. Warum sich die Grünen stark wie nie fühlen - und es für Werner Kogler erst nach Neuwahlen eng werden könnte.

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Laura Sachslehner, durch landläufige Skrupel nicht gehemmt, legte auch im Sommer keine Pause ein und ritt beinahe täglich neue Frontalattacken. Erst gegen die größte Oppositionspartei im Parlament und aussichtsreiche Anwärterin als neue Nummer eins im Lande, die SPÖ. Je näher der Saisonstart der politischen Herbstarbeit rückt, desto öfter nimmt die 28-jährige ÖVP-Generalsekretärin den aktuellen Koalitionspartner ins Visier. Mal geißelt sie generell die Genderpolitik der Grünen ("Sie fordern, dass auf jedem Impfformular sechs Geschlechter zu stehen haben"). Mal wirft sie der grünen Justizministerin Alma Zadic höchstpersönlich vor, sie blockiere Maßnahmen gegen die Zwangsehe.

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Zuletzt rückten nun beide Lager in Sachen Klimapolitik aus. Anderes Thema, gleicher Plot, umgekehrte Rollenverteilung: Die Grünen werfen den Türkisen Blockade und Klientelpolitik beim seit einem Jahr überfälligen Klimaschutzgesetz vor. Die ÖVP kontert, überzogene Forderungen der Ökos würden die Wirtschaft überfordern. Nicht nur Wiedereinsteiger in die innenpolitische Arena nach einigen Wochen Medienabstinenz könnten vermuten: Da liegt Vorwahlkampf-Pulverdampf in den Luft. Denn bis vor Kurzem galt im Regierungsviertel die Devise: "Leben und lassen." Frei nach der türkisen Marketingsprech-Formel: das Beste aus beiden Welten.

So offen haben die beiden in Wahrheit höchst diversen Welten einander noch nie nachgesagt, dass einer dem anderen schon lange nicht mehr das Beste will. Die Signale stehen dennoch nicht auf ein jähes Ende der politischen Lebensabschnittspartnerschaft und baldige Neuwahlen. Dagegen sprechen nicht nur die multiplen Krisen, sondern vor allem miserable Umfragezahlen: Die ÖVP war noch vor drei Jahren im Herbst 2019 mit fulminanten 37,5 Prozent der Stimmen, die Grünen mit bislang unerreichten 13,9 Prozent ausgestattet worden. Vor allem für Kurz & Co ein eindrucksvoller Vertrauensgewinn nach der Implosion von Türkis-Blau im Gefolge des Ibiza-Skandals.

Die ÖVP ist nach den entlarvenden Enthüllungen ihrer internen Chats und der Ablöse von Sebastian Kurz durch Karl Nehammer auf rund 20 Prozent abgestürzt. Die Grünen haben - nach dem Motto mitgefangen, mitgehangen - ebenfalls Vertrauen eingebüßt und kommen nur noch bei rund zehn Prozent zu liegen. Das Kabinett Nehammer-Kogler ginge mit seinen derzeit gemeinsam mageren 30 Prozent Zustimmung nicht einmal mehr als Minderheitsregierung durch.

Mehr nackter Angstschweiß als Wahlkampf-Pulverdampf

Weder Türkis noch Grün denken daher auch nur eine Sekunde daran, die derzeit noch fiktiven Umfrageverluste tatsächlich voreilig an der Wahlurne zu lukrieren. Was seit Wochen wie türkiser Wahlkampf-Pulverdampf anmutet, hat eine andere Geruchsquelle: persönlicher und politischer Angstschweiß.

Die ÖVP will mit ihrer Politik der grünen Nadelstiche nicht vorgezogene Wahlen provozieren. Karl Nehammer kämpft mit allen Mitteln um bessere Umfragen, um überhaupt noch die Gelegenheit zu bekommen, die ÖVP in einen Wahlkampf führen zu dürfen. Teil dieses Versuchs, den türkisen Sinkflug zu stoppen, waren so auch schlagzeilenträchtige Aktionen rund um die Person des Kanzlers von der Absage der Teilnahme an den Festspielen in Bregenz und Salzburg bis zum Storno des Familienurlaubs in Griechenland.

Um die wieder erstarkenden Blauen einzubremsen, musste Karl Nehammers Nachfolger im Innenministerium, Gerhard Karner, die einst bewährte Flüchtlingskarte spielen. Der Niederösterreicher machte in einer Interview-Serie gegen neue Asylwerber-Wellen aus "Urlaubsländern wie Indien, Marokko und Tunesien" mobil. Am innerparteilichen Rumoren gegen Nehammer & Co vermochte das bislang wenig zu ändern, zumal sich in den Umfragen bislang nichts zum Positiven bewegte.

Grünen-Chef und Vizekanzler Werner Kogler weiß, dass Türkis-Grün auf Sicht Geschichte ist. Die Ökos rechnen intern aber weiterhin frühestens im Laufe des nächsten Jahres mit Neuwahlen. Nicht wenige glauben, die ÖVP werde die Legislaturperiode bis Herbst 2024 in der Hoffnung auf Besserung aussitzen. Selbst wenn sich die ÖVP bis dahin noch einmal mit einem Kanzler-Wechsel (es wäre dann der vierte) zu retten versucht, würden - entgegen zahlreicher Ondits - die Grünen nicht die Neuwahl-Karte spielen. "Solange wir unsere Ziele weiter halbwegs ungehindert durchsetzen können, haben wir auch nichts gegen einen siebenten ÖVP-Kanzler", feixt ein grüner Stratege.

Ruhe und Konfliktfreiheit im Grünen Binnenleben

Die jüngsten Scharmützel mit den Türkisen sind daher mehr der Pflege des grünen Selbstbewusstseins als einem nahenden Wahlkampf geschuldet. Die Konter, so die in grünen Signal-Chatgruppen ausgegebene Sprachregelung, sollen in der Sache durchaus pointiert, aber nicht persönlich provozierend ausfallen. Dabei könnten sowohl die Grünen als auch Werner Kogler, dessen persönliche Umfragewerte mager sind, einen Profilierungsschub gut gebrauchen. Internes Murren ob der eingebrochenen Umfragewerte ist dennoch nicht auszumachen. Im Gegenteil: So ruhig und konfliktfrei war das grüne Binnenleben seit Gründung der Ökos noch nie. Selbst die Wiener Grünen, die sich im Laufe der Jahre eine Art Abonnement auf innerparteiliche Opposition erstritten hatten, tragen den Regierungskurs loyal mit.

Dem grünen Bundessprecher Werner Kogler geht es besser als den meisten anderen Parteichefs - wie zuletzt Karl Nehammer oder Herbert Kickl und noch immer gelegentlich Pamela Rendi-Wagner. Es gibt bei den Grünen weder eine Führungsdiskussion noch nach außen wahrnehmbare Parteiintrigen. Im Vergleich zum größeren Koalitionspartner, der binnen zwei Regierungsjahren bereits den dritten Bundeskanzler nominieren musste, rühmen sich die Grünen, ein Hort der Stabilität zu sein.

Die Grünen sind schneller in der Regierung angekommen, als manchen Sympathisanten lieb ist. Die Kogler-Truppe musste wiederholt schmerzhafte Kompromisse eingehen oder auch demütigenden Aktionen hinnehmen - im "Fall Tina" etwa auch nächtliche Abschiebungen von Minderjährigen durch den damaligen türkisen Innenminister Nehammer. Es gab aber in der Folge bislang weder Massenaustritte noch Spaltungsindizien.

Dass die Grünen trotz der widrigen Umstände alles in allem weiterhin entspannter als ihr türkises Gegenüber agieren, hat vor allem einen Grund: Kogler & Co wissen zwar, dass es mit der ÖVP - schon aus rechnerischen Gründen - keine Neuauflage geben kann. Sie registrieren aber aufmerksam die immer deutlicheren Lockrufe aus dem roten Lager: In der SPÖ wächst die Gruppe jener, die eine - seit Jahrzehnten erstmals wahrscheinliche - Mehrheit links der Mitte auch politisch nützen will. Werner Kogler kann, so die interne Analyse, das politische Glück der Grünen gleich auf zwei Karten setzen: weiteren Terraingewinn mit einer geschwächten ÖVP und hoffnungsvolle Aussicht auf eine Dreier-Koalition Rot-Grün-Pink.

Ludwig macht den Lobau-Tunnel zur Koalitionshürde

Es gibt freilich immer mehr Anzeichen, dass es für Kogler & Co anfangs aber weitaus ungemütlicher als zuletzt mit den Türkisen werden könnte, um die rot-grün-pinke Karte auch tatsächlich erfolgreich zu ziehen. Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig, der mächtigste Mann in der SPÖ, hat der grünen Klimaministerin Leonore Gewessler das Aus für den Lobautunnel bis heute nicht verziehen. Er lässt durch seinen Kombattanten signalisieren, dass für ihn auch Rot-Schwarz weiterhin eine attraktive Option sein könnte.

Michael Ludwigs Subtext ist unmissverständlich: Um den Weg für eine Dreier-Koalition frei zu machen, müsste die Grünen in Sachen Lobautunnel über ihren Schatten springen und einen auch für SPÖ tragbaren Kompromiss vorlegen.

Das Aus für den Lobautunnel war und ist freilich vor allem für die Klimaministerin und ihre grüne Basis bei den NGOs eine Fahnenfrage. Wie aber könnten Kogler und Gewessler hier die Kurve kratzen, ohne selbst aus der Bahn geworfen zu werden? Diese Gretchenfrage beschäftigt die grünen Strategiestäbe derzeit weitaus intensiver als die Sorge, Karl Nehammer könnte demnächst Neuwahlen vom Zaun brechen.

Der Artikel ist der trend. Edition vom 26.August 2022 entnommen.

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