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Helmut Brandstätter: Wir geschichtslosen Europäer

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Helmut Brandstätter
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Während Putin kriegerisch die Geschichte fälschte, vergaßen die Europäer, dass die Ukraine - immer wenn sie durfte - politisch, wirtschaftlich und auch religiös mit Europa verbunden war.

Die Geschichte wird mit Blut geschrieben." So hören wir es wieder bei Putins Krieg in der Ukraine. Dieser schreckliche Satz stimmt vor allem, wenn die eine Seite die Geschichte verfälscht und die andere sie nicht versteht. Die Fälschung läuft in Russland schon länger und gezielt: Einer von Putins Ideologen, Wladislaw Surkow, ein Architekt für den Überfall der Krim 2014, erklärte in der "Financial Times" im Juni 2021: "Die Ukrainer wissen, dass ihr Land nicht wirklich existiert." Und: "Es gibt nur Ukrainertum. Das ist eine spezifische Störung des Geistes."

Lange davor ließ Putin die Propaganda für den Krieg aufbereiten, während der Westen bestenfalls interessiert beobachtete, wie die Orange Revolution und der Euromaidan die Ukraine, das größte Land Europas, veränderten. Nach der Verabschiedung der Charta von Paris im November 1990 glaubte die Politik an eine Friedensordnung für Europa und die Wirtschaft an das schnelle Geschäft im ärmlichen Osten.

Für die historischen Wurzeln der ukrainischen Nation und des Staates interessierte sich bei uns kaum jemand, ebenso wenig wie für Putins Geschichtsfälschungen. Und so befinden wir uns nicht nur mitten in einem Krieg mit bereits weltweiten Auswirkungen, sondern auch in einer ideologischen Schlacht um historische Ereignisse und das Bewusstsein von Nationen.

Wir befinden uns nicht nur mitten in einem Krieg, sondern auch einer ideologischen Schlacht.

Eine von Putins Erzählungen ist leicht widerlegbar: Das Volk der Rus, das sich ab dem achten Jahrhundert im Raum Kyiv aufhielt, kam aus Skandinavien. Slawische Einwanderung führte erst später zum ersten Staat in dieser Region, den die Mongolen im 13. Jahrhundert zerstörten. Die heutige Ukraine gehörte dann zum Teil zum russischen Reich, das Ende des 15. Jahrhunderts unter Iwan dem Großen entstand, großteils aber zum Großfürstentum Litauen-Polen und schließlich zum Habsburgerreich.

Der Harvard-Historiker Serhii Plokhy schreibt im Buch "Die Frontlinie - Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde", dass die Begriffe "Ukraine" und "Kosaken" gleichzeitig im 17. Jahrhundert auf europäischen Landkarten auftauchten.

Die Frage der ukrainischen Nation wiederum beschäftigte im 19. Jahrhundert Intellektuelle im habsburgischen Galizien ebenso wie in Wiener Kaffeehäusern, wo Zeitungen in ukrainischer Sprache gelesen wurden, wie Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk im Roman "Blauwal der Erinnerung" beschreibt. Die ukrainische Volksrepublik von 1918 währte nicht lange, in der 1922 gegründeten Sowjetunion wurden zunächst Sprache und Kultur gefördert. Der "Holodomor", der von Stalin verordnete Hungertod von über vier Millionen Menschen in der Ukraine, war dann ebenso traumatisch wie Hitlers Kriegsverbrechen nach dem Überfall auf die Sowjetunion.

Staat und Nation der Ukraine könnten symbolisch für Europa stehen.

Endlich unbestritten waren Staat und Grenzen nach dem Referendum über die Unabhängigkeit im Dezember 1991 und erst recht, als die Ukraine im Jahr 1994 auf alle Atomwaffen verzichtete. Als Wladimir Putin im Jahr 2000 Präsident Russlands wurde, sicherte er mit Kriegen in Tschetschenien und Georgien seine Macht. Und während er die Geschichte fälschte, um kriegerisch ein Großrussland zu bauen, vergaß Europa, dass die Ukraine geografisch ganz sicher Teil des Subkontinents ist und politisch werden muss, weil Land und Leute politisch, wirtschaftlich und auch religiös, immer wenn sie durften, mit Europa verbunden waren.

Nach der "Orange Revolution" von 2004 kam bald die Absage aus Europa von der Sprecherin der Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner: Es müsse "unbedingt zunächst eine Diskussion darüber stattfinden, ob ein Land europäisch ist".

Exakt 17 Jahre später sind wir nicht nur mitten in einem blutigen Krieg mit der Vertreibung von rund einem Viertel der Bevölkerung, sondern auch mit nationalistischen Debatten konfrontiert. Nicht nur zur Ukraine. In Russland drücken sich Putins Angst und Unsicherheit auch dadurch aus, dass über die russische Nation und ihre Ausbreitung diskutiert wird, ein "Neurussland", früher eine historische Konstruktion auf dem Gebiet der Ukraine als Abwehr gegen das Osmanische Reich, soll Putin ewigen Ruhm bringen.

Dabei könnten Staat und Nation der Ukraine symbolisch für Europa stehen: Langsam gewachsen, vielfältig in Geografie, Wirtschaft und Herkunft der Menschen, traumatisiert durch schlimmste Verbrechen, aber überzeugt, dass die Geschichte uns zusammenführt, wenn wir sie nur endlich verstehen.

DER AUTOR

Helmut Brandstätter, geb. 1955, ist Journalist, Politiker und Autor. Von 2010 bis 2018 war er Chefredakteur der Tageszeitung Kurier und von 2013 bis 2019 auch deren Herausgeber. Seit Oktober 2019 ist er Abgeordneter der Neos und Mitglied des außenpolitischen Ausschusses der Parlaments. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Letzter Weckruf für Europa" im Verlag Kremayr & Scheriau.

De gastkommentar ist der trend. EDITION vom 12. August 2022 entnommen.

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