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Neutralität ist kein Schutz - jetzt Sicherheit schaffen!

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Martin Sajdik (li.) und Hannes Androsch

Martin Sajdik (li.) und Hannes Androsch

©UN Photo/Mark Garten/trend
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In Österreich hält sich der Mythos, dass die Neutralität vor allen Wechselfällen der Weltpolitik schützt. Das hält einer Faktenüberprüfung nicht stand. Hannes Androsch und Martin Sajdik über die jetzt nötige Gesamtstrategie.

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Lange hatten wir uns in Sicherheit gewiegt, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene und durch die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 gestärkte Sicherheits- und Friedensordnung in Europa die staatliche Souveränität und die territoriale Integrität der einzelnen Länder gewährleistet. Nun aber hat - nach vorangegangenen Verletzungen - der mutwillige Aggressionskrieg Putins gegen die Ukraine diese Ordnung brutal zerstört.

Selbst Energie und Getreide werden dabei zu Waffen gemacht, was unter anderem auch zu einer neuerlichen hungerbedingten Flüchtlingswelle aus dem Nahen Osten und Nordafrika nach Europa führen kann. Was vom russischen Präsidenten als Blitzkrieg gedacht war, führt zunehmend zu einem Abnützungs- und Zermürbungskrieg, verbunden mit der Gefahr, dass der Westen "Ukraine-müde" wird.

Gerade deshalb sollte klargestellt werden, dass zwar die Kampfhandlungen in der Ukraine stattfinden, der Krieg jedoch gegen ganz Europa und den Westen gerichtet ist. Es wird daher auch länger dauern, wieder zu friedlichen Verhältnissen zu kommen. Viele europäische Länder, allen voran Finnland, Schweden und Dänemark, haben sich bereits darauf eingestellt. Die NATO beabsichtigt, ihre Einsatztruppe von 40.000 auf 300.000 Mann aufzustocken. Völlig ironiefrei kann man also feststellen: Putin hat sowohl die NATO als auch die EU, insgesamt also den Westen vereint und gestärkt.

Schutz durch Neutralität, ein Mythos

In Österreich jedoch hält sich noch immer der Mythos, dass uns die Neutralität vor allen Wechselfällen der Weltpolitik schützt. Allerdings hält dieser Mythos einer Faktenüberprüfung nicht stand, und schon Machiavelli meinte: "Die Neutralität eines Landes wird eher von seinen Gegnern gewünscht, während seine Freunde dieses Land lieber als Verbündeten sehen würden."

Und tatsächlich zeigen die Aufmarschpläne des einstigen Warschauer Paktes, dass aufgrund der geografischen Lage Österreichs unsere Neutralität nicht unbedingt beachtet worden wäre. Ohnehin hat uns die Sowjetunion neben hohen Besatzungskosten auch beträchtliche Kosten für den Staatsvertrag auferlegt und in wirtschaftsschädigender Weise die Teilnahme am europäischen Integrationsweg verwehrt. Folglich hat die Neutralität für Österreich beziehungsweise für die Österreicherinnen und Österreicher mehr eine identitätsstiftende denn eine friedenssichernde Wirkung.

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Dwight D. Eisenhower, der erste Oberkommandant der NATO (1950) und US-Präsident (1953-1961)

 © Getty Images

Österreich hat sich in eigener Entscheidung im Oktober 1955 formell zur immerwährenden Neutralität verpflichtet. Allerdings war diese Bereitschaft zur "Neutralität nach Schweizer Muster" bereits im Moskauer Memorandum vom April desselben Jahres festgehalten worden und war Voraussetzung für das Zustandekommen des Staatsvertrags. Schon zuvor, im Jänner 1954, hatte US-Präsident Eisenhower im Zuge eines Frühstücksgesprächs seinem Außenminister Dulles gegenüber erklärt, dass er sich "eine Neutralität nach Schweizer Muster" für Österreich vorstellen könne. Dulles wiederum teilte dies dem sowjetischen Außenminister Molotow mit - mit der Folge, dass der Vorschlag bei der Berliner Konferenz im selben Jahr von sowjetischer Seite offiziell vorgetragen wurde. Die Anregung von Eisenhower gründete sich auf seine Erfahrung, dass das Schweizer Modell eine bewaffnete und von Westorientierung geprägte Neutralität ist.

Problematische Situation bei der Landesverteidigung

Während die Westorientierung unseres Landes nach 1945 nie ernsthaft in Frage gestellt wurde, sieht es bei der Fähigkeit zur Landesverteidigung ganz anders aus. In jedem Fall aber ist die österreichische Neutralität heute mehr denn je eine Verpflichtung zur größtmöglichen militärischen Selbstverteidigung.

Die Neutralität eines Landes wird eher von seinen Gegnern gewünscht, während seine Freunde dieses Land lieber als Verbündeten sehen würden.

Niccolò Machiavelli

Wir sind zwar nie der NATO beigetreten, hoffen und glauben aber, sicher sein zu können, unter dem Schutzschirm der NATO zu stehen. Als EU-Mitglied gilt jedoch der Lissaboner Vertrag von 2007. Darin wird in Art. 42 (7) eine umfassende und damit auch militärische Beistandspflicht stipuliert, wenngleich insofern eingeschränkt, als die dort ebenfalls enthaltene "Irische Klausel" es Ländern wie Irland, Dänemark, Finnland, Schweden und auch Österreich erlaubt, den Beistand entsprechend ihren nationalen Gesetzen gestalten, d. h. militärische Hilfe und Unterstützung verwehren zu können.

Ungeachtet dessen hat aber Österreich Art. 23 lit. j seiner Bundesverfassung dahin geändert, uneingeschränkt an der gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik der EU teilzunehmen. Durch die bereits seit Jahren stattfindende aggressive und imperialistische Expansionspolitik Russlands, von Georgien über die Krim bis zur Ukraine, hat sich die Sicherheitslage dramatisch verändert und die europäische Friedensordnung über den Haufen geworfen. Die Schweiz ihrerseits hält an ihrer auf den Wiener Kongress von 1815 zurückgehenden Neutralität fest, hat allerdings, obwohl sie so wie Österreich von NATO-Ländern umgeben ist, eine viel stärker ausgebaute Landesverteidigung als Österreich.

Sicherheit erfordert ein Budget und kann nicht zum Nulltarif erzielt werden.

2019 hat der damalige Verteidigungsminister Thomas Starlinger ungeschminkt erklärt, dass das österreichische Bundesheer nicht (mehr) einsatzfähig und unser Land folglich wehrlos ist. Die Anfang des Jahres gemachte großspurige Ankündigung, diese Misere mit Sonderbudgets von zehn Milliarden Euro und einer Erhöhung des Verteidigungsbudgets auf 1,5 Prozent des BIP in den nächsten Jahren zu korrigieren, fiel bei der dann nachfolgenden Finanzplanung für die nächsten drei Jahre gleich wieder in Vergessenheit, sodass die Unterfinanzierung weiterhin bestehen bleibt.

Damit wird der verfassungsrechtlichen Verpflichtung unserer Neutralität nicht entsprochen und wir glauben weiterhin, schlaumeierhafte Trittbrettfahrer bleiben zu können.

Dabei hilft auch die Unterwürfigkeit gegenüber Russland nicht, wie die vertragswidrige Lieferkürzung bei Erdgas durch Gazprom zeigt. Dieser hätten wir um ein Haar noch vor Kurzem den fossilen Teil der OMV-Geschäfte verkauft. Umso mehr ist es dringend notwendig, unsere Sicherheitsposition und Sicherheitsstrategie unter den eingetretenen Umständen zu überdenken und unsere Abwehrfähigkeit im Rahmen der oben geschilderten Verpflichtungen neu auszurichten und auszustatten. Dies gilt auch für die Sicherung des Luftraums und für eine zeitgemäße Luftabwehr. Dazu gehören inzwischen auch die Cybersicherheit und eine ausreichende Rohstoffvorsorge. Wir müssen verstehen, dass Sicherheit nicht zum so modern gewordenen "Nulltarif" erzielt werden kann.

Sicherheitspolitik überdenken

Man stelle sich nur vor, welche Verpflichtungen entstehen könnten, wenn so wie jetzt die Ukraine auch Litauen angegriffen würde - wegen eines Konflikts um den Korridor zur russischen Enklave Kaliningrad! Ein russischer Angriff auf Litauen würde wohl die NATO, aber auch die EU involvieren - mit unabsehbaren Folgen. Dass die Beistandspflicht nach Art. 42 (7) bald schlagend werden könnte, ist folglich nicht mehr nur ein theoretisches Szenarium. Das Säbelrasseln Moskaus gegen Litauen könnte sehr rasch zu ernsthafter Auseinandersetzung werden. Auch als Nicht-NATO-Mitglied wäre es für Österreich dann schwierig, sich aus einem solchen Konflikt herauszuhalten. Schließlich ginge es im Gegensatz zur Ukraine bei Litauen um ein EU-Land mit den laut EU-Verträgen notwendigen Beistandspflichten. Wegducken ist auf Dauer keine Option!

Wenn Österreich bei seiner Neutralität bleiben will, muss es jedenfalls seine Sicherheitspolitik überdenken. Mehr als überfällig ist hierbei, endlich die größtmögliche militärische Sicherheit herzustellen. Dabei sind die europäische Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die EU-Beistandspflicht zu berücksichtigen. Umfassende Sicherheit geht jedoch noch weit darüber hinaus. Eine solche muss zur Gewährleistung der Energie-, Rohstoff- und Nahrungsmittelversorgung auch die wirtschaftliche Landesverteidigung sowie die Cybersicherheit umfassen. Gleiches gilt auch für den Katastrophenschutz und last, but not least für die Erhaltung der sozialen Sicherheit zur Vermeidung von sozialer Polarisierung.

Die Bewältigung dieser dringenden Aufgaben erfordert eine zukunftsweisende Gesamtstrategie. Eine solche muss in vielen Bereichen bestehenden Nachholbedarf einschließen. Dieser ist im Sicherheitsbereich, bei der Energieversorgung, beim Klimaschutz oder im Bildungs- und Wissenschaftsbereich gegeben.

Es braucht mehr Mittel für Technologieentwicklung und Technologieumsetzung sowie eine digitale Aufholjagd. Dies erfordert eine leistungsfähige Wirtschaft und dafür eine klare Wirtschaftspolitik. Zu einer solchen gehört auch der Mut zur Wahrheit, verbunden mit strukturverbessernden, angebotssteigernden und wettbewerbserhöhenden Maßnahmen bei sozialem Ausgleich. Die Erreichung dieser Ziele braucht eine handlungsfähige Regierung und die Miteinbeziehung aller Entscheidungsträger, vor allem der Sozialpartner.

Der Kommentar ist der trend. PREMIUM Ausgabe vom 29.7.202 entnommen.

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