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Alfred Gusenbauer: Die neue Weltunordnung

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Alfred Gusenbauer

©PICTUREDESK.COM/ANDREAS TISCHLER
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Der Hamas-Krieg und die globalen Folgen: Der schwarze Samstag mit den unvorstellbaren Grausamkeiten der Hamas ist auch als Teil des weltpolitischen Wandels zu verstehen. Weg von der "Pax Americana" hin zu einer multipolaren Ordnung: die USA und Europa als Säulen der Freiheit, Russland und China als Vertreter der Autoritären, Indien als Zünglein an der Waage.

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Am "schwarzen Samstag", dem 7. Oktober, hat die Hamas die Weltgeschichte des Grauens um ein weiteres Kapitel der Abscheulichkeiten und Menschenverachtung erweitert. Die durchschnittenen Kehlen von Babys, Frauen und Alten manifestieren ein unvorstellbares Niveau von Grausamkeit. Es kann keine Gründe geben, die diesen Massenmord rechtfertigen, erklären oder verständlich machen. Die Existenz der Hamas liegt also jenseits unseres gängigen Normengerüsts, jenseits jeglicher menschlichen Achtung. Wie aber konnte dieser Angriff gegen die stärkste Armee des Nahen Ostens und die weltweit bewunderten Geheimdienste Israels passieren? Wie konnte die Hamas ein Jahr lang völlig ungehindert diesen Anschlag planen und vorbereiten?

Israels Totalversagen unter Netanjahu

Die rechts-rechtsextreme Regierungskoalition Netanjahus lehnt die Zweistaatenlösung für den Konflikt mit den Palästinensern ab. Sie sieht daher in der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) im Westjordanland ihren Hauptgegner und stachelt den Konflikt zwischen der PA und der Hamas an. Ein gespaltenes palästinensisches Volk wäre für Israel günstiger - meinte die Regierung. Die forcierte Siedlungspolitik erforderte die Verlagerung von militärischen Kapazitäten zum Schutz der jüdischen Siedler. Die Verteidigungsfähigkeit an der Gaza-Grenze wurde sukzessive zugunsten des Westjordanlandes abgebaut. Die israelische Regierung glaubte, dass die Hamas das Interesse an einer großen Auseinandersetzung verloren hat, und stufte die Gaza-Grenze als ruhige und stabile Zone ein. Das war die fatalste sicherheitspolitische Fehleinschätzung seit 50 Jahren.

Der Versuch der Netanjahu-Regierung, durch eine großangelegte Justizreform Israel in einen theokratischen Staat zu verwandeln, stieß auf erbitterten Widerstand der säkularen und demokratischen Bevölkerungshälfte Israels. Monatelange Massendemonstrationen folgten und führten das Land in eine innenpolitische Paralyse.

Die von Ex-US Präsident Donald Trump entwickelte Strategie, einzelne arabische Staaten zu Abkommen mit Israel zu motivieren (die Abraham Accords) und damit den iranischen Einfluss einzuhegen, schien lange Zeit erfolgversprechend. Ein Abkommen mit Saudi-Arabien wäre wahrscheinlich der Durchbruch gewesen. Ging die internationale Öffentlichkeit seit Bruno Kreisky in den 1980er-Jahren davon aus, dass eine Lösung des Palästinenserproblems die Voraussetzung für Frieden im Nahen Osten wäre, stellen die Abraham Accords die Angelegenheit auf den Kopf: Möglichst viele Abkommen - also Frieden - mit den arabischen Staaten werden auch zur Lösung des Palästina-Problems führen.

Traditionell hat der Iran an der Lösung des Palästinenserproblems genauso wenig Interesse wie die Hamas

Alfred GusenbauerPolitiker und Unternehmer

Der Iran - als schiitischer Antipode zum sunnitischen Saudi-Arabien - versucht seit Langem, diese US-amerikanische/israelische Strategie zu torpedieren. Der Iran unterstützt die "Achse des Widerstands" und meint damit die finanzielle und militärische Alimentierung ihrer Satellitenmilizen im Irak und im Libanon, in Syrien, Gaza und Jemen. Traditionell hat der Iran an der Lösung des Palästinenserproblems genauso wenig Interesse wie die Hamas. Beide bezogen ihre politische Bedeutung aus der Rolle des permanenten Unruhestifters der Region. Andererseits hat die von China gesponserte Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien die Hoffnung auf eine Stabilisierung des Nahen Ostens genährt.

Die Kombination von außenpolitisch-strategischen Fehleinschätzungen, anhaltenden Illusionen über die Hamas, innenpolitischen Fehlleistungen, falschen Prioritäten und der Hybris Benjamin Netanjahus, der ausschließlich sein politisches Überleben und nicht die Interessen Israels im Auge hat, lieferte den Süden Israels fast schutzlos der Hamas aus.

Israels Antwort bestimmt den Weg

Gaza wird autonom regiert. Als normative Kraft des Faktischen hat sich die Hamas als Militärdiktatur über Gaza etabliert. Der Beitrag der Hamas zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Palästinenser ist nicht erkennbar. Internationale Entwicklungshilfeleistungen werden zu Raketen konvertiert (Pflugscharen zu Schwertern). Die Bevölkerung wird als menschliches Schutzschild missbraucht. Raketenabschussanlagen werden in oder unter Krankenhäusern etabliert. Die Hamas hält die Bevölkerung Gazas in Geiselhaft, um einerseits eine Basis für ihren verbrecherischen Terror zu haben, andererseits bei Gegenschlägen nach dem humanitären Völkerrecht zu rufen.

Der Schmerz und die Trauer in Israel sitzen tief. Ein Land, das sich zunehmend für unverwundbar gehalten hat, erlebt den größten und grausamsten Terroranschlag seit der Gründung. Der Ruf nach Rache und Vergeltung ist unüberhörbar. Die Bevölkerungsdichte Gazas, die Tunnel-und Bunkersysteme machen eine maßgeschneiderte militärische Antwort schwierig bis unmöglich. Menschliches Leid und Todesopfer auf beiden Seiten - in Gaza und Israel - werden unvermeidlich hoch sein, auch wenn das Ziel der israelischen Militäraktion nicht die Zivilbevölkerung, sondern die Hamas ist. Eine vorübergehende Evakuierung der Bevölkerung kann daher viele Todesopfer vermeiden. Gleichzeitig kann die Schonung der Zivilbevölkerung die Ausweitung des Krieges auf andere Länder der Region verhindern. Und ebenfalls gleichzeitig kämpft Israel einen schwierigen Kampf um die internationale öffentliche Meinung. Nach einer kurzen Schrecksekunde, in der sich die Weltöffentlichkeit - von den üblichen Verdächtigen abgesehen - hinter Israel versammelte, hat die Diskussion über die Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza wieder Oberhand gewonnen, bevor noch die Bodenoffensive richtig begonnen hat.

In Zeiten des Sofortismus, glaubt jeder Einzelne, jedes Medium inzwischen auch jeder Staat, mit meist unbewiesenen Schuldzuweisungen auf alles reagieren zu müssen.

Alfred GusenbauerPolitiker und Unternehmer

Schon die lautstarke Auseinandersetzung um die Frage, wer für den Raketeneinschlag im Al-Ahli-Arab-Hospital verantwortlich war, gibt einen bitteren Vorgeschmack auf den erbarmungslosen Kampf, der in den nächsten Wochen um die globale Deutungshoheit geführt werden wird. Die Hamas und der Iran beschuldigen Israel und rufen zu erzürnten Massendemonstrationen in der gesamten arabischen Welt auf. Israel und die USA legen Beweise vor, dass die Rakete ein fehlgeleitetes Flugobjekt des islamischen Dschihad gewesen wäre. Auch die Anzahl der Opfer - jedes ist eines zu viel - differiert je nach Quelle der Information zwischen 50 und 500.

In Zeiten des Sofortismus, wo jeder Einzelne, jedes Medium inzwischen auch jeder Staat glaubt, mit meist unbewiesenen Schuldzuweisungen auf alles reagieren zu müssen, begeben wir uns auf eine Hochschaubahn der Emotionen, die leicht zu einer Ausweitung des Krieges bis hin zum Flächenbrand führen kann. Anerkannte internationale Untersuchungskommissionen sollten uns helfen, zumindest zwischen Krieg nach dem Kriegsvölkerrecht und Kriegsverbrechen zu unterscheiden.

Netanjahus Ende einläuten

Die Ausschaltung der Hamas-Führung und ihrer Infrastruktur scheint alternativlos. Unabhängig von der Neuordnung der Verhältnisse in Gaza ist mit der Hamas kein Staat zu machen. Israel kann Gaza nicht nachhaltig besetzen, Friedenstruppen der arabischen Staaten sind schwer vorstellbar, die PA ist zu schwach, um Gaza zu kontrollieren. Trotzdem würde die Hamas Jahre brauchen, um die zerstörte Infrastruktur wiederaufzubauen. Jedenfalls muss die Zeit nach Niederschlagung der Hamas genutzt werden, um eine neue zivile Führungsstruktur in Gaza zu etablieren, einen engagierten Wiederaufbau zu betreiben und der Bevölkerung Gazas eine Perspektive zu geben.

Israel braucht eine Regierung der einigenden Mitte. Golda Meir und Moshe Dayan traten nach ihren Fehleinschätzungen im Jom-Kippur-Krieg 1973 zurück. Netanjahu sollte diesem Beispiel folgen und den Weg frei machen für eine Regierung, die nicht von den Rechtsextremen und Siedlervertretern abhängig ist. Israel braucht eine Regierung, die die Interessen des Landes vertritt und nicht die einer Einzelperson an der Spitze. Die Region und Israel sind vom Frieden meilenweit entfernt. Aber einige Jahre ohne Terroranschläge, mit stabilen Verhältnissen werden nach diesem Trauma notwendig sein, um weiter nach vorne blicken zu können. Die Bevölkerung Israels, Gazas und der besetzten Gebiete braucht eine neue, optimistische Perspektive. Diese scheint heute unwahrscheinlicher denn je. Aber nach dem Scheitern des sogenannten Mittelweges, den Konflikt mit den Palästinensern auf ungleichem Niveau einfrieren zu können, und angesichts der Unmöglichkeit einer Einstaatenkonstruktion von Israelis und Palästinensern bleiben nur zwei Alternativen: entweder eine Zweistaatenlösung, ganz gleich welcher Form, oder die immer wiederkehrende Spirale von Gewalt und Terror.

Israel braucht eine Regierung der einigenden Mitte, die die Interessen des Landes vertritt.

Alfred GusenbauerPolitiker und Unternehmer

Weltpolitik im Wandel

Die meisten Analysten gehen von einer Einzelaktion der Hamas aus. Selbst wenn dieser Anschlag ohne die militärische Ausrüstung aus dem Iran und die Finanzmittel aus Katar nicht möglich gewesen wäre, gibt es keine schlagenden Beweise für einen direkten Befehl Teherans oder Dohas.

Gerade deswegen ist allerdings der "schwarze Samstag" als Teil eines globalen weltpolitischen Wandels zu sehen. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Ende des Kalten Krieges verblieben die USA als einzige Supermacht. Aber die Kriege in Syrien, Afghanistan und Libyen zeigten die Grenzen der Hegemonialmacht auf. Die enorme Aufrüstung Chinas und Russlands schränkt zusätzlich den Handlungsspielraum ein. Die größte Gefahr für eine Supermacht besteht in der Überdehnung oder, anders gesagt: Wie viele Kriege könnten die USA gleichzeitig führen? Der Krieg in der Ukraine verschlingt trotz aktiver europäischer Unterstützung enorme Mittel. Könnten die USA zusätzlich zur Ukraine auch eine militärische Auseinandersetzung im Nahen Osten erfolgreich bestehen?

Die Entsendung von zwei Flugzeugträgern in das östliche Mittelmeer, die diplomatischen Aktivitäten Antony Blinkens und Joe Bidens und massive US-amerikanische Hilfszahlungen an Israel und Gaza versuchen, eine Ausweitung des Hamas-Krieges zu verhindern.

Aber wird China die Konzentration der amerikanischen Aufmerksamkeit auf die Ukraine und den Nahen Osten zu einem militärischen Abenteuer gegen Taiwan nutzen? Vieles spricht dagegen. Wie lange kann die chinesische Führung mit nationalistischer Rhetorik statt wirtschaftlichen Aufschwungs die eigene Bevölkerung bei Laune halten, ohne reale Schritte zu setzen? Insgesamt scheint es wenige Anwärter auf die Rolle als neue Verantwortungsträger für die globale Stabilität zu geben.

Ganz im Gegenteil, in dieser Situation des Umbruchs fühlen sich viele regionale Mächte ermutigt, ihre eigenen Interessen durchzusetzen, wie es früher nur die Großmächte konnten. Das militärische Vorgehen zum Beispiel Aserbaidschans in Nagorny Karabach wäre unter stabilen Bedingungen der russischen Hegemonie im Südkaukasus undenkbar gewesen. Aber der kräfteraubende Krieg Russlands gegen die Ukraine hat Moskau in diesem Konflikt zum Zuschauer degradiert. Gleichzeitig steigt auch die Risikobereitschaft der radikalsten Akteure, wie der Hamas-Anschlag zeigt. Epochen des Übergangs von einer Ordnung zur anderen zählen welthistorisch zu den Gefährlichsten. Die Zahl der Explosionsherde wächst stetig. Die Perioden der Bipolarität und danach der Pax Americana haben für große Teile der Welt Stabilität über Jahrzehnte geschaffen.

Sind wir nun am Weg zu einer multipolaren Ordnung, die, wie Herfried Münkler in seinem neuen Buch "Welt in Aufruhr" meint, auf fünf Säulen gebaut sein wird? Die USA und Europa als Säulen der Freiheit, China und Russland als Vertreter der Autoritären und Indien als Zünglein an der Waage. Der deutsche Historiker prophezeit eine Pentarchie ohne globalen Hegemon und demzufolge auch eine Ordnung mit den für Gleichgewichtssysteme typischen Verwundbarkeiten. Große militärische Macht, ökonomische Potenz und politische Ambition würden das nahelegen. Allerdings ist die wichtigste Voraussetzung für die Existenz einer Ordnungsmacht die Bereitschaft, Verantwortung für andere, für eine ganze Region und letztlich für die Welt zu übernehmen. Ausschließlich die - manchmal rücksichtslose Durchsetzung der eigenen Interessen reicht nicht aus. Die Zeiten des Übergangs sind noch nicht zu Ende.

Zur Person:

Der Kommentar ist in der trend. PREMIUM Ausgabe vom 27.10. 2023 erschienen.

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