
Steigt das BIP, steigt der Wohlstand: Das galt Jahrzehnte als unumstößlich. Aber hat diese Formel heute noch Bestand angesichts von Klimawandel, Ressourcenknappheit und zunehmender sozialer Ungleichheit? Ein Round Table zu den Grenzen von Kennzahlen und der Frage, ob Wohlbefinden wichtiger ist als Wachstum.
TREND: Die längste Rezession der Nachkriegszeit und kaum Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Erleben wir jetzt eine Krise, wie wir sie immer wieder mal hatten, oder wackelt das Fundament?
Agnes Kügler: Diese Krise stellt allein schon aufgrund ihrer Dauer eine Besonderheit dar. Die USA und China befinden sich in einem Handelskrieg, und wir sitzen in diesem Konflikt zwischen den Stühlen. Schon vorher hatten wir wegen der Pandemie und des Russland-Krieges in der Ukraine mit Lieferkettenproblemen und genereller wirtschaftspolitischer Unsicherheit zu kämpfen. Und all das hat dazu geführt, dass unsere Wirtschaft geschrumpft ist. Und auch heuer erwarten wir einen Rückgang der Wirtschaft um 0,3 Prozent. Die strukturellen Elemente dieser Krise sind eher langfristiger Natur und bis zu einem gewissen Grad hausgemacht, etwa der Fachkräftemangel. Hinzu kommt, dass wir eine relativ energieintensive Industrie haben, die stärker von gestiegenen Energiepreisen betroffen ist.
Ulrich Schuh: Ich möchte ein bisschen Österreich in Schutz nehmen. Wir haben eine Strukturkrise in Europa, die von Deutschland ausgeht. Grund ist der mangelnde Reformwille der vergangenen 15 Jahre dort. Dafür bekommt Deutschland jetzt die Rechnung präsentiert. Und Österreich kann sich als kleine, offene Volkswirtschaft dem nicht entziehen.
Es gelingt uns nicht, unseren Wohlstand zu halten. Wir sind ärmer geworden über die letzten Jahre.
Hat das Wachstumsmodell ausgedient?
Markus Zeilinger: Die Erde ist für die vielen Menschen einfach zu klein geworden. Und verbunden mit dem bisherigen Wachstumskonzept driften wir auf einen Kollaps zu. Der Klimawandel, das Schrumpfen der Ozonschicht und die Erwärmung der Meere sind da nur einige Stichworte. In Bezug auf unsere Verpflichtung zu nachhaltigem Wirtschaften würde ich ein großes Fragezeichen hinter einer angeblichen Notwendigkeit von Wachstum setzen.
Die Gemeinwohl-Ökonomie ist so ein Modell einer alternativen Wirtschaft. Was steckt genau dahinter?
Christian Felber: Wie es der Name schon sagt: In der Wirtschaft soll es um das Gemeinwohl gehen. Genau das entspricht ja auch der ursprünglichen Bedeutung von Ökonomie, nämlich für das Wohl aller Haushaltsmitglieder zu sorgen. Und unser bescheidener Vorschlag ist, dass wir die Zielerreichung direkt messen. Also die Menschen fragen, wie wohl sie sich fühlen, wie gut genährt sie sind, wie intakt ihre Umwelt ist, wie stabil die Demokratie.
Lasst uns doch bitte endlich nur noch genau das messen, was das Leben lebenswert macht!
Ist das Bruttoinlandsprodukt als Kennzahl dafür unzureichend?
Felber: Ja, denn das BIP sagt nichts darüber aus, ob es uns besser geht. Ob wir in Frieden leben, ob wir unseren Planeten zerstören – das bleibt alles unberücksichtigt. Deshalb brauchen wir jetzt diesen Paradigmenwechsel: Lasst uns doch bitte endlich nur noch genau das messen, was das Leben lebenswert macht!
Kügler: Grundsätzlich gebe ich Ihnen recht: Das Bruttoinlandsprodukt misst die wirtschaftliche Wertschöpfung in einem Land, nicht mehr und nicht weniger. Und ja, das bereitet Probleme. Denn auch wenn man nach Naturkatastrophen Aufbauarbeit betreiben muss, würde das das BIP erhöhen, ohne dass Wohlfahrt oder die Lebensqualität eines Landes deswegen angestiegen sind. Andererseits gibt es sehr wohl eine Korrelation zwischen ökonomischem Wachstum und einem besseren Zugang zur Bildung oder zum Gesundheitswesen, was ja sehr wohl die Lebensqualität eines Landes erhöht.
Schuh: Das BIP ist eine Zahl, die objektiv und unverfälscht die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft misst. Es misst nicht das Wohlbefinden der Bevölkerung. Das ist, wie wenn ich zum Arzt gehe und einen Blutbefund bekomme. Wenn der in Ordnung ist, dann bin ich gesund. Das heißt nicht, dass ich glücklich bin. Aber es ist offensichtlich, wenn man ein Land mit einem hohen Bruttoinlandsprodukt besucht und eines mit einem niedrigen, wird man in Bezug auf den Wohlstand große Unterschiede sehen. Und ich wage zu behaupten, dass es den Menschen tendenziell besser geht und sie glücklicher sind, wenn sie in Wohlstand leben.
Ich wage zu behaupten, dass es den Menschen tendenziell besser geht und sie glücklicher sind, wenn sie in Wohlstand leben.
Brauchen wir wieder mehr Wachstum – oder noch dringender einen neuen Wachstumsbegriff?
Felber: Wir müssen die richtigen Fragen stellen. Solange wir die Menschen fragen: „Möchtest du lieber mehr oder weniger Rendite für deine Veranlagung?“, werden sich die meisten für mehr Rendite entscheiden. Wenn die Frage aber lautet: „Möchtest du, dass deine Kinder und deine Enkel die gleichen Lebenschancen auf einem intakten Planeten vorfinden?“, werden die Antworten anders ausfallen, weil die Frage intelligenter und auch ganzheitlicher ist.
Zeilinger: Bei der von mir gegründeten fair-finance Vorsorgekasse erfolgt die Veranlagung nach definierten ESG- und Nachhaltigkeitskriterien. Wenn man Kunden fragt, wie viel dieses Mehr an Nachhaltigkeit eventuell kosten darf, ist die Antwort, dass rund ein halbes Prozent schlechtere Performance pro anno kein Problem darstellt. Ist die Performance dann im Vergleich zu den anderen Anbietern tatsächlich einmal schwächer – etwa wegen einer deutlich höheren Quote an illiquiden Assets, die nachhaltig positiven Impact generieren –, muss man darum kämpfen, keine Kunden zu verlieren. Denn die schauen dann eben doch vor allem auf die Performance, entgegen der Umfrage.
Kügler: Aktuell haben wir ein wirklich großes Problem. Es gelingt uns nicht, unseren Wohlstand zu halten, tatsächlich sind wir ärmer geworden über die letzten Jahre. Das durchschnittliche BIP pro Kopf ist im Vergleich zu 2022 um vier Prozent zurückgegangen. Deshalb brauchen wir Wirtschaftswachstum, wahrscheinlich mehr denn je. Unsere Hochrechnungen gehen davon aus, dass 2080 jede dritte Person älter als 65 Jahre ist. Das heißt, dass der Anteil erwerbstätiger Personen in Österreich rapide zurückgeht. Gleichzeitig steigt aber der Bedarf an verschiedenen Sozialleistungen, sei es jetzt Pflege, Betreuung, Gesundheitsbereich im Allgemeinen oder auch das Pensionssystem. Ohne Wirtschaftswachstum ist diese Entwicklung nicht zu stemmen. Das ist im Einklang mit ökologischen und sozialen Zielen zu schaffen und muss kein Widerspruch sein.
Schuh: Wir brauchen weiter Wachstum, aber wir brauchen ein völlig anderes als heute. Der Ressourcenverbrauch, den wir aktuell haben, der ist unverantwortlich. Aber das schnell zu ändern, ist unrealistisch. Das bedürfte einer so tiefgreifenden Änderung unserer gesamten Wirtschaftsstruktur, dass das kein Politiker wagt. Trotzdem muss die Wirtschaft in diese Richtung gehen.
Kügler: Europa und Österreich haben gute Voraussetzungen. Wir haben hoch qualifizierte Arbeitskräfte und sehr stabile Institutionen, und wir sind ein stabiler und verlässlicher Handelspartner. Bei grüner Technologie ist Österreich global ganz vorne mit dabei, um nur ein Beispiel zu nennen. Das sind alles Wachstumspotenziale, die wir im Blick haben sollten.
Zeilinger: Ich stimme Ihnen grundsätzlich zu. Andererseits sind wir in einer globalisierten Welt in gewisser Weise Passagiere und davon abhängig, was in Washington oder Peking entschieden wird. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, sich als Individuum um die besten Lösungen zu bemühen und das Beste zu geben. Das sind wir den nachfolgenden Generationen schuldig.
Wir sind davon abhängig, was in Washington oder Peking entschieden wird. Das sollte uns nicht davon abhalten, sich um die besten Lösungen zu bemühen. Das sind wir den nachfolgenden Generationen schuldig.
© VGN Studio | Osama Rasheed