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Laura Wiesböck: Digitale Diagnosen

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10 min
Die 37-jährige Soziologin bringt sich mit ihren Themen gerne in den öffentlichen Diskurs ein.©Picturedesk.com/AP/Lisa Leutner
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Trauma, triggern, toxisch. In ihrem neuen Buch setzt sich die Soziologin Laura Wiesböck mit der inflationären Verwendung psychologischer Begriffe in sozialen Netzwerken und dem Mental-Health-Trend auseinander.

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Anstrengende Beziehungen, aggressive Männlichkeit, komplizierte Menschen – als „toxisch“ bezeichnet man heute schnell etwas, das man als schädlich oder manipulativ empfindet. Unangenehme Erfahrungen werden gerne als „traumatisch“ verortet, die Freundin agiert „borderline crazy“ und ein Gefühl von Melancholie und Weltschmerz wird oftmals schon als „Depression“ wahrgenommen. Aber nicht jede Schüchternheit entspringt einer krankhaften Sozialphobie, und nicht jedem schlechten Zeitmanagement liegt ADHS zugrunde. „Manche Menschen sind einfach weniger belastbar als andere und werden leichter überreizt und wütend. Doch im digitalen Zeitalter zeigt sich eine immer größere Entschlossenheit, derartige Zustände krankhaft zu deuten“, schreibt Laura Wiesböck in ihrem neuen Buch „Digitale Diagnosen“.

Diagnose-Enthusiasmus

Eigen- und Fremddiagnosen gehen leicht von den Lippen. Was aber sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn Trauer und Schmerz über den Verlust einer nahestehenden Person als Krankheit klassifiziert werden? Und was hat Gereiztheit mit psychischer Gesundheit (Mental Health) zu tun, fragt die Soziologin angesichts des neuen Diagnose-Enthusiasmus auf Social-Media-­Plattformen.

Die 37-jährige Wienerin forscht zu Ursachen und Auswirkungen sozialer Ungleichheit und leitet die Gruppe „Digitalisierung und soziale Transformation“ am Institut für Höhere Studien an der Uni Wien. 2018 erschien ihr Buch „In besserer Gesellschaft“, in dem Wiesböck sich mit Facetten von Online-Lebensinszenierungen befasste und der übertriebenen Selbstgerechtigkeit einzelner Filterblasen auf den Grund ging, wo Konsumverhalten zum Statussymbol, der Beruf zur Identität und politische Andersartigkeit zum Feindbild wird.

Nun analysiert sie Ursachen und Folgen des boomenden Social-Media-Trends „Mental Health“, nicht einseitig-provokativ, sondern mit sachlichem Blick auf Vor- wie Nachteile des Onlinediskurses, in dem Berichte über persönliche Erfahrungen mit psychischen Krisen allgegenwärtig scheinen. Natürlich seien ein breiteres Verständnis für und Empathie mit ­Erkrankten positiv. Damit finden wichtige Entstigma­tisierungsprozesse statt, die bewirken können, dass sich Betroffene nicht sozial isoliert fühlen, sondern als Teil einer „virtuellen Community“. Gleichzeitig werfe die verstärkte Sichtbarkeit von psychischen Erkrankungen die Frage auf, „inwieweit es nicht nur zu einer Bewusstmachung, sondern auch zu einer ­Popularisierung von psychiatrischen Diagnosen kommt und das Leiden tatsächlich Betroffener verharmlost wird“. Etwa wenn Diagnosen als Rechtfertigung für ein unangemessenes Verhalten verwendet werden.

Mittlerweile führen viele Teenager:innen psychiatrische Diagnosen in der Kurzbiographie ihres Social-Media-Profils an.

Laura Wiesböck

#SadGirl

Wo aber liegt die Grenze zwischen Bewusstmachung und Verherrlichung? Und inwieweit wird im Namen der Enttabuisierung vielleicht sogar zusätzlicher Druck auf Betroffene ausgeübt, fragt Wiesböck dazu in ihrem Buch und führt als Beispiel das Thema „Depres­sion“ an, die sich selten „wie das bildschirmtaugliche Leiden von attraktiven Influencer:innen zeigt“, wie etwa im fünf Sekunden kurzen, aber perfekt inszenierten Video der weinenden TikTokerin Ryelee Steiling mit dem Titel „depression is a tricky thing“, das Views im zweistelligen Millionenbereich aufweist.

„Die Fülle solcher ästhetisierter Bilder im Bereich psychischer Krankheiten ist verbunden mit dem Trend, dass sich ­immer mehr Nutzer:innen selbst eine Dia­gnose stellen, ohne medizinisches Fachpersonal zu konsultieren“, schreibt Wiesböck. Auf TikTok hat der Hashtag #selfdiagnosis über 22 Millionen Views. „Nicht zuletzt befördert die selbstdiagnostische Online-Kultur psychische Krankheiten zu einem identitätsstiftenden Lebensgefühl mit Zugehörigkeitseffekt. Das zeigt sich unter anderem darin, dass mittlerweile viele Teenager:innen psychiatrische Diagnosen in der Kurzbiographie ihres Social-Media-Profils anführen. Der Krankheitsstatus wird so zu einer neuen Art, auf Social Media dazuzugehören – oder sogar erfolgreich zu sein.“

In den leicht konsumierbaren Kategorien der sozialen Medien finden sich neben „Bad Girls“ (Frauen, die schlagfertig und rebellisch sind) längst auch Frauen, die ihre Traurigkeit ästhetisch ansprechend inszenieren: Der Hashtag #sadgirl weist knapp zwanzig Milliarden Views auf, erstmals popularisiert durch weinende Selfies von Model Bella Hadid, wie Wiesböck anführt, nicht ohne darauf zu verweisen, dass die Romantisierung von jungen, hübschen, leidenden Frauen schon lange davor popkulturell verbreitet war. Man erinnere sich etwa an den 1999 erschienenen Film von Sofia Coppola „The Virgin Suicides“, in dem fünf schöne, depressive Schwestern Suizid begehen.

Eines der beliebtesten Gesundheitsthemen auf der Social-Media-Plattform TikTok ist aber die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS. „Typisch ADHS“, beschreiben Influencer:innen da gerne ihre gesellschaftlich wenig angesehenen Verhaltensweisen – von Zu-spät-Kommen bis Termine-Vergessen. Videos wie „Versteckte ­Anzeichen, dass du ADHS hast“ boomen, und viele junge Menschen stellen sich auch hier selbst die Diagnose. Eine Diagnose, die, wie Laura Wiesböck schreibt, „auch auf sozialer Ebene Entlastung schafft und es ermöglicht, bestimmte Erwartungen zu relativieren“. Oder, wie es eine junge Userin auf Instagram formuliert: „Jetzt habe ich meine Diagnose. Kein ADHS. Um ehrlich zu sein, würde es mir leichter fallen, eine ADHS-Diagnose zu haben. Nun muss ich damit klarkommen, so zu sein, ohne ADHS zu haben.“

Diese Popularisierung von Diagnosen in sozialen Medien schafft dann auch, wie Wiesböck ausführt, Märkte für vielfältige Produkte und Dienstleistungen bis zu ­einer Palette an stylishen Artikeln, etwa Shirts mit Aufdrucken wie „Cute but ­Psycho“ oder „I have OCD, but I only clean things when I’m in the mood because I’m also bipolar“, wobei, so die Soziologin, „die modische Vermarktung von psychischen Krankheiten auch als emanzipatorischer Akt vermittelt wird“, nach dem Motto „Own your stigma“.

Neben der Flut selbst ernannter Expert:innen hat sich auch die Präsenz von Fachleuten auf Instagram, TikTok und YouTube gesteigert. Und das, obwohl, so Wiesböck, die „Instagram-Therapie“ mit einem grundsätzlichen Dilemma behaftet sei: „Sie erfordert einen intensiven Konsum von derartigen Inhalten. Und dieser führt an sich schon zu psychischen ­Belastungen, wie die Forschung belegt. Plakativ gesprochen: Das Angebot schafft gleichzeitig seine eigene Nachfrage.“

Mach es zu deinem Projekt

Ein ­wesentliches Kapitel im Mental-Health-Social-Media-Diskurs nehmen die neuen Mantras „Selfcare“ und „Healing“ ein. Täglich gibt es Tipps zu gesunder Ernährung, körperlicher Fitness oder Entspannung. Auf Social-Media-Plattformen wird das Kümmern um sich selbst überwiegend als konsumzentrierte, verschönernde Praxis dargestellt. Die propagierte „Me-Time“ kann dann zwischen Ecstatic Dance, Yoga oder Breathwork schnell zu Leistungsstress werden. Unter dem Slogan „Romanticize your life“ finden sich auf YouTube und TikTok Millionen Aufrufe, die User:innen auffordern, Gastgeber:in des eigenen Lebens zu sein. Ein Aspekt, warum sich „Healing“ als Konzept gut verkauft, ist, wie Laura Wiesböck schreibt, „weil es Hoffnung bietet, dass positive Veränderungen eintreten können. Dass trotz struktureller Ungleichheit, sozialer Unsicherheiten oder prekärer Arbeitsverhältnisse sich das eigene Leben verbessern kann, wenn man sich nur genügend bemüht. Die Optimierung des Selbst und des eigenen Lebensstils dient dann als Ersatz für soziale Verantwortung und Widerstand.“ Es sei daher wichtig, die gängigen Narrative von Mental Health, Selfcare oder Healing nicht unhinterfragt zu übernehmen.

Die Soziologin hält es diesbezüglich mit dem Anthropologen Adam ­Aronovich, der das Instagram-Profil „Healing from Healing“ betreibt, und plädiert für das Aushalten emotionaler Ambivalenzen. „Denn psychische Gesundheit bedeutet nicht, ständig leistungsfähig und ausge­glichen zu sein, sondern die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen und Konflikte wahrnehmen und aushalten zu können.“

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Laura Wiesböck:
„Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend“
. Zsolnay, 176 S.,€ 22,70.

 © Zsolnay

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