Wirtschaftsforscher: Es gibt noch keine zweite Welle
Josef Kocher, Chef des Instituts für Höhere Studien IHS rechnet wie Josef Baumgartner, Konjunkturexperte des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo, vorerst nicht mit einem weiteren Konjunktureinbruch. Ein neuerlicher Lockdown ist in den Szenarien der Wirtschaftsforscher kein Thema.
Die Corona-Krise hat Österreichs Wirtschaft hart getroffen. Ein zweiter Lockdown soll mit allen Mitteln vermieden werden.
Wie geht es weiter? Wie lange wird die Corona-Krise noch andauern und wann geht es wieder aufwärts? IHS-Chef Martin Kocher rechnet trotz steigender Infektionen vorerst nicht mit dem weiteren Einbruch der Wirtschaft wegen der Coronakrise. "Im Moment sehen wir wirtschaftlich nichts von einer zweiten Welle", sagt Kocher. Zur Entlastung des Arbeitsmarkts empfiehlt er, Schulabgänger länger in Ausbildung zu halten. Und trotz Krise sollte die Regierung den Pfad zu einer CO2-Steuer vorlegen.
Auch Josef Baumgartner, Konjunkturexperte des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo, bleibt bei im Juni leicht angehobenen Prognose, dass das heimische Bruttoinlandsprodukt (BIP) gegenüber dem Vorjahr um 6,8 Prozent zurückgehen wird.
Eine Basis für die Prognosen der Wirtschaftsforscher liefern die Analysen der Nationalbank (OeNB). Von Mitte März bis Mitte April registrierte diese einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um bis zu ein Viertel. Bis zum Sommer hat sich die Situation dann zwar wieder entspannt. Seit August deuten die Zahlen nun allerdings wieder auf eine Verlangsamung der Erholung hin. Den Dämpfer in der Entwicklung will IHS-Chef Kocher allerdings nicht überbewerten.
Die große Unbekannte
Einig sind sich die Wirtschaftsforscher, dass die weitere Entwicklung der epidemiologischen Situation die große Unbekannte ist. Steigende Infektionszahlen und Einschränkungen bei Gastronomie, Hotellerie oder Schulschließungen wären ein gewisser wirtschaftlicher Rückschlag, meint Kocher: "Man kann nicht gleichzeitig arbeiten und die Kinder beaufsichtigen."

IHS-Chef Martin Kocher
"In einigen Ländern ist es doch zu einer deutlichen Ausweitung gekommen, zum Beispiel in Spanien", vermerkt Wifo-Konjunkturforscher Baumgartner. Wenn sich das zu einem internationalen Trend entwickle, habe das auch auf die wirtschaftliche Entwicklung Auswirkungen. "In unserem 'Basesline-Szenario' gehen wir davon aus, dass es zu einer Zunahme der Infektionszahlen kommt", erklärt Baumgartner. Für den Herbst seien angesichts des Schulbeginns und der Rückkehr der Urlauber steigende Fallzahlen bereits erwartet worden.
Je mehr getestet werde, umso mehr positive Ergebnisse würden auch gefunden. Doch selbst bereinigt um die verstärkten Corona-Testungen zeige sich jetzt schon ein Anstieg der Infektionszahlen. "So gesehen hätten wir eine zweite Welle." Anfang März bis etwa Mitte April hatte es eine starke Zunahme gegeben, dann gingen die Zahlen kontinuierlich zurück. Doch im Laufe des Sommers "mit der Rückkehr aus den Urlaubsgebieten, mehr Nachlässigkeit und mehr privaten Partys" hätten sich die Infektionen wieder erhöht. "Was nicht zugenommen hat, ist die Zahl der Hospitalisierungen und der Sterbefälle", betonte der Wifo-Experte. Erstere seien sogar "deutlich weniger stark angestiegen als das noch im März der Fall war". "Man hat gelernt, mit der Epidemie ein bisschen umzugehen."
Zweiter Lockdown als Fragezeichen
"Was wir in unseren Basis-Szenario nicht erwarten, ist, dass es zu einem weiteren Lockdown kommt; dass es zu gewissen wirtschaftlichen Behinderungen kommt, das schon", erläuterte Baumgartner. So werde sich die seit Anfang dieser Woche geltende Ausweitung der Maskenpflicht vom Lebensmittelhandel auf sämtliche Geschäfte "auf den Konsum auswirken". "Die Einkaufsfreude wird dadurch nicht angeregt." Und durch steigende Fallzahlen wird sich seiner Einschätzung nach auch "die Lust in die Gastro zu gehen" verringern.
Ein neuerlicher Lockdown würde Österreich in eine noch tiefere Rezession stürzen. Dafür genüge auch ein Stillstand der Wirtschaft in einem der wichtigsten Lieferländer oder Exportmärkte wie etwa Deutschland oder Italien. "Da hätte auch unsere Exportwirtschaft schwere Probleme, auch wenn es bei uns keinen Lockdown gäbe", sagt Baumgartner.
Gebremste Einkaufslust
Gegenüber anderen Krisen hat sich nach Einschätzung des Wifo-Experten das Konsumverhalten der Österreicher in der Coronakrise stark verändert.

Wifo-Konjunkturexperte Josef Baumgartner
In der Vergangenheit war der Konsum stets eine stabile Größe. Die Haushalte versuchten, ihre Ersparnisse zu reduzieren und ihre Konsumausgaben weniger einzuschränken. Anders in diesem Jahr: "Insgesamt nimmt die Unsicherheit wieder zu und das dämpft die Ausgabenbereitschaft im Bereich Handel und bei nicht lebensnotwendigen Gütern", hält der Konjunkturforscher fest. "Sehr auffällig ist, dass die Konsumbereitschaft insgesamt abgenommen hat."
In der Lockdown-Phase wurde der Konsum weitgehend verhindert, doch auch danach sei er "nicht in diesem Maße wieder angesprungen". Insgesamt sei der Konsum sogar "deutlich stärker zurückgegangen als die verfügbaren Haushaltseinkommen" angesichts Kurzarbeit bzw. Arbeitslosigkeit, meinte der Ökonom mit Blick auf die Nettoersatzrate von 70 bis 90 Prozent bei Kurzarbeit und von 55 Prozent bei Arbeitslosigkeit.
Steigende Sparquote
In einer typischen Krisensituation würden Ersparnisse aufgelöst. "Die Sparquote ist diesmal aber deutlich angestiegen - die Haushalte sind einfach vorsichtig, manche Ausgaben tätigen sie nach wie vor nicht." So ist etwa der Modehandel "sehr stark eingebrochen". Die Umsatzverluste im Lockdown wurden hier bisher "wegen der Ausgabenzurückhaltung weit nicht aufgefangen". Angesichts der insgesamt großen Unsicherheit attestiert Baumgartner. Nicht unbedingt notwendige Einkäufe wurden aufgeschoben oder werden überhaupt nicht getätigt. Darunter leiden auch die Möbel- und die Autobranche.
Gespart wurde auch im Urlaub. Die Österreicher seien zwar heuer im Sommer deutlich mehr im eigenen Land geblieben, hätten dabei aber insgesamt weniger ausgegeben. Gleichzeitig blieben die ausländischen Gäste weitgehend aus, vor allem im Städtetourismus - in Wien und Salzburg fehlten die Touristen aus Übersee "eigentlich zur Gänze".
Sorgenkinder Gastronomie und Hotellerie
Gastronomie und Hotellerie bleiben den Wirtschaftsforschern zufolge heuer voraussichtlich um etwa 35 Prozent unter den Vorjahreswerten. In den Sonderbereichen Nachtgastronomie, die nach wie vor tot ist, und Stadthotellerie, die unter einer extrem niedrigen Auslastung leidet - in Wien liegt sie um die 20 Prozent - sieht es freilich noch bei weitem düsterer aus.
"Das wird wahrscheinlich in den nächsten Wochen und Monaten gewisse Auswirkungen auf die Arbeitslosenzahlen zeigen", erwartet Baumgartner. "Einige Betriebe haben bereits angekündigt, dass sie für den Herbst keine Erholung erwarten und daher viele Mitarbeiter nach dem Auslaufen der jetzigen Kurzarbeitsphase kündigen und den Betrieb zumindest für eine kurze Zeit stilllegen werden."
Arbeitsmarkt
Die weitere Entwicklung des Arbeitsmarkts wird auch für IHS-Chef Kocher entscheidend für die Bewältigung der Krise sein. Für das kommende Budget empfiehlt er daher auch einen Schwerpunkt auf aktive Arbeitsmarktpolitik. Als Beispiel nennt er etwa ein Nachfolgeprojekt für die unter Türkis-Blau gestoppte "Aktion 20.000" - allerdings "mit etwas anderen Vorgaben und effizienter als die Aktion 20.000". Maßnahmen seien auch in den Bereichen der Lehrlingsausbildung und der Qualifikation nötig.
Die Politik solle außerdem versuchen, die "Abschlusskohorte" - also die aktuellen Schulabgänger - im Bildungsbereich zu halten. "Man müsste versuchen, den Andrang am Arbeitsmarkt etwas zu entzerren." Beispielsweise könnten Pflichtschulabsolventen für ein Jahr an berufsbildende Schulen wie HTL, HBLA und HAK wechseln: "Im Idealfall bleiben die Leute sogar länger in der Ausbildung." Maturanten könnten verstärkt an Unis und Fachhochschulen gehen, anstatt gleich Jobs zu suchen.
Klima und EU-Budget
In der Klimapolitik plädiert Kocher angesichts der dominanten Corona-Krise zwar nicht für eine rasche Einführung, aber doch für einen konkreten Fahrplan zu einer CO2-Steuer. "Man müsste einen Preispfad festlegen und ohnehin eine Übergangsfrist von ein bis zwei Jahren haben, bis das startet", meint der IHS-Chef. Ohne eine solche Maßnahme werde man nicht auskommen, denn ein nationaler Emissionshandel sei nicht praktikabel. "Letztendlich wird es teurer sein müssen, zu transportieren oder Auto zu fahren."
"Relativ wenig Sorgen" machen Kocher, der auch Chef des Fiskalrats ist, der die Einhaltung der EU-Budgetregeln überwacht, die in der Coronakrise steigenden Staatsschulden: "Wir kommen auf einen Schuldenstand, der ungefähr dem entspricht, was wir nach der Finanzkrise hatten. Wenn wir zum Beispiel 2023 wieder maastrichtkonform wären, dann hätten wir einen einigermaßen nachhaltigen Budgetpfad."
Die Regierung sollte aus seiner Sicht in zwei Szenarien denken: Sollte Anfang nächsten Jahres eine Corona-Impfung zur Verfügung stehen, werde man die Wirtschaft gut über Wasser halten können und eine große Pleitewelle verhindern können. Sollte sich die Pandemie noch über zwei, drei Jahre hinziehen, dann werde es schwieriger und die Regierung werde ihre Maßnahmen anpassen müssen.