Wirecard: Betrug oder Fälschung?
Wurde der frühere Börsenstar und Wirecard-Boss, der Wiener Markus Braun, von einer kriminellen Bande ausgetrickst oder war er ein Teil davon? Sein Anwalt will mit neuen Recherchen Ersteres beweisen.
Markus Braun, früherer Wirecard CEO
Vor dem Oberlandesgericht München läuft aktuell ein Haftprüfungsverfahren in der Causa Markus Braun. Der Österreicher sitzt als früherer Vorstandsvorsitzender des deutschen Finanzkonzerns Wirecard seit eineinhalb Jahren in U-Haft. Sein Rechtsanwalt Alfred Dierlamm hat nun für das Gericht umfangreiches Material ausgewertet, das seinen Mandanten entlasten soll. Es enthält durchaus brisante neue Aufschlüsse über Zahlungsflüsse im Wirecard-Komplex. Wenn wirklich stimmt, was die Verteidigung belegen will, dann ginge es um weit mehr als die Frage, ob Braun bis zum Beginn der Hauptverhandlung aus der U-Haft entlassen wird. Dann könnte der größte Kriminalfall der deutschen Wirtschaftsgeschichte, in dem Österreicher die Hauptrollen spielen, eine Wende nehmen.
Zwei unterschiedliche Darstellungen prallen aufeinander: Die Staatsanwaltschaft München ist nach wie vor überzeugt, das sogenannte Drittpartnergeschäft, also die Abwicklung von Zahlungsdienstleistungen über Partnerunternehmen (Third Party Acquirer, TPA) von Wirecard in - vorwiegend asiatischen - Märkten, habe so nie existiert. Die 1,9 Milliarden Euro Vermögen daraus auf Treuhandkonten in Asien seien erfunden gewesen, um den Wert des Konzerns für die Börse schönzurechnen. Sie geht von der Straftat Bilanzmanipulation aus - und die trifft in erster Linie CEO Braun. Die Staatsanwälte stützen sich dabei hauptsächlich auf ihren Kronzeugen Oliver B., einen früheren Wirecard-Manager, der ebenfalls in U-Haft ist. Der sagte aus, es habe nach 2016 im TPA-Bereich keinerlei Umsätze mehr gegeben.
Kontounterlagen ausgewertet
Strafrechtsexperte Dierlamm behauptet hingegen, die TPA-Geschäfte, in denen der Geldtransfer zwischen Onlinehändlern und deren Kunden organisiert wurde, seien sehr wohl real gewesen. Allerdings habe eine mutmaßlich kriminelle Bande rund um den Wiener Jan Marsalek, der ebenfalls im Wirecard- Vorstand saß, daraus Gelder in Milliardenhöhe veruntreut. Der Tatbestand sei demnach Betrug an den Wirecard-Aktionären, deren drittgrößter - nach Goldman Sachs und Morgan Stanley - Markus Braun selbst war. Die gefälschten Treuhandkonten auf den Philippinen hätten den Zweck gehabt, das zu verschleiern. Ohne jede Beteiligung von Braun.
Kronzeuge
Dierlamms Kanzlei hat in den letzten Monaten in mühsamer Kleinarbeit Kontounterlagen ausgewertet, mit denen diese These bewiesen werden soll. Verzeichnet sind darin Zahlungseingänge von 964 Millionen Euro auf Konten von Drittpartnern bei der Wirecard Bank, fast 800 Millionen davon auf TPA-Konten von Payeasy und Centurion. "Allerdings ist dieses Geld überwiegend nie an die börsennotierte Wirecard AG abgeführt worden", sagt Dirk Metz, der Sprecher von Braun, mit dem Dierlamm eng zusammenarbeitet.
Weitere rund 500 Millionen Euro TPA-Erlöse sollen über Schattengesellschaften mit Namen wie Testro, Tritract oder CQR außerhalb der Wirecard vereinnahmt und veruntreut worden sein. Dazu ebenfalls sehr hohe Beträge über Al Alam Solution mit Sitz auf den British Virgin Islands, die bislang aber nicht exakt quantifiziert werden können, weil die Staatsanwaltschaft, wie ihr Brauns Verteidiger vorwerfen, das Konto dieser Gesellschaft bei der Bank of Singapore bislang nicht beschlagnahmt hat.

Der Wirecard-Skandal vor dem Untersuchungsausschuss: Wo sind die Milliarden?
Um seine Version des Tathergangs zu stützen, erstellte Dierlamm auch Listen mit - oft genug dubiosen - Onlinehändlern und Dienstleistern, etwa aus der Wett- und Glücksspielbranche, die laut seinen Aussagen nachweisbar ihr Zahlungsgeschäft über Wirecard-Partner abwickelten. "Die Indizien sprechen eindeutig für die Existenz der TPA-Geschäfte auch nach 2015", erklärt Sprecher Metz zu den recherchierten Fakten: " Erstens wurden hohe Summen von Onlinehändlern eingezahlt. Zweitens scheinen diese Firmen auch in der Wirecard Merchant Accounting List auf. Und es war ihnen, drittens, im Rahmen des Wirecard-Systems wie vorgesehen ein digitaler Code zugewiesen. Die wichtigste Frage, die niemand gestellt hat, ist aber: Wieso sollte sich das TPA-Geschäft, das bis 2015 nachweislich 350 bis 400 Millionen Euro zum Wirecard-Ergebnis beigetragen hat, ab 2016 plötzlich in Luft aufgelöst haben? Das ist völlig abwegig, zumal die globalen Onlineumsätze in den letzten Jahren explodiert sind."
Zweifel
Die Erklärung von Braun und seinen Mitstreitern: Dieses Geschäft ist nie eingebrochen, nur die Erlöse daraus wurden umgeleitet.
Die Zweifel an dieser Darstellung sind jedoch längst nicht ausgeräumt. Die Münchner Staatsanwaltschaft hält an der vorsätzlichen Bilanzfälschung fest. Sie sagt, eine stichprobenartige Überprüfung von Zahlungen mit Hilfe einer Kreditkartenfirma habe keine Anhaltspunkte für behauptete Drittpartnerumsätze ergeben. Auch ein Gutachten von Daniel Steinhoff, dem einstigen Compliance-Chef der Wirecard, zielt in diese Richtung. Als Indiz führt Steinhoff u. a. an, dass nach dem Zusammenbruch von Wirecard kein Onlinehändler einen Schaden geltend gemacht oder sich beschwert hat, dass sein Zahlungssystem nicht mehr funktioniert. Und selbst der Insolvenzverwalter bei Wirecard, Michael Jaffé, geht nicht davon aus, dass es tatsächlich irgendwo veruntreutes Geld geben könnte, das für die Masse zurückzuholen wäre - weil das TPA-Geschäft fingiert war.
In den Augen der Staatsanwälte könnte hinter den von Dierlamm nachgezeichneten Transaktionen ein riesiges Geldwäschesystem stecken. Für besonders unplausibel halten sie es, dass für die Verschiebung einer milliardenschweren Summe in erster Linie ausgerechnet Konten der Wirecard Bank verwendet worden sein sollen. Tatsächlich ein merkwürdiger Umstand, den Rechtsanwalt Alfred Dierlamm damit begründet, dass man auf diese Weise die Geldwäsche-Überwachung ausschalten konnte und dass der Kronzeuge und damalige Drittpartner-Koordinator Oliver B., den er für eine der zentralen Figuren in der Causa hält, als früherer Mitarbeiter der Wirecard Bank dort am ehesten schalten und walten konnte, wie es ihm gefiel.
Schlüsseljahr
Bleibt immer noch eine entscheidende Frage: Wieso wurden die TPA-Erlöse überhaupt auf Treuhandkonten geparkt und nicht, wenn es sie denn gab, jährlich in die Wirecard AG transferiert? Da lautet die Erklärung, dass sie ursprünglich als Forderungen gegenüber Drittpartnern verbucht waren, die Wirtschaftsprüfer aber gewisse Bedenken bezüglich der Werthaltigkeit anmeldeten. Daraufhin habe man 2016 die Treuhandkonstruktion eingerichtet. Was möglicherweise einer der Auslöser für die in diesem Schlüsseljahr anlaufenden Malversationen war. So fiel in diesen Zeitraum auch ein Indien-Deal, den Henry O'Sullivan, ein britischer Geschäftsmann in Singapur und Vertrauter von Marsalek, eingefädelt hatte: Der völlig überteuerte Kauf eines Zahlungsdienstleisters führte immer wieder zu Gerüchten persönlicher Bereicherung (es gilt die Unschuldsvermutung). Zudem wurde 2016 die Gesellschaft PXP vom berüchtigten Drittpartner Senjo in Singapur, der unter der Kontrolle von O'Sullivan stand, erworben, worauf Dierlamm ein besonderes Augenmerk gerichtet hat.
Seinen Recherchen zufolge wurden danach viele als Hochrisikokunden eingestufte Kunden (etwa aus dem Adult Entertainment) von Senjo zur Schattenfirma PXP umgeleitet. Aus Sicht der Verteidigung entstand der Wirecard dadurch ein enormer Schaden. Gleichzeitig sieht sie in derlei Aktivitäten auch den - durch Zeugenaussagen gestützten - Beweis für aufrechte TPA-Geschäfte und die Vermittlung von Händlern aus dem weltweiten Wirecard-Netzwerk zumindest bis weit ins Jahr 2019.
Einseitig
Ermittlungen rund um die PXP hat die Justiz noch keine aufgenommen und sich generell erst spät für die hochkomplexen Geldströme interessiert. "Der Bandenführer war gefunden, die Volksseele ein Stück weit beruhigt", kritisierte Dierlamm in einer Rede Anfang November die einseitige Arbeit der Staatsanwaltschaft nach der Braun-Festnahme. Tatsächlich hat die sich schnell festgelegt. Sollte sich der Fall jetzt tatsächlich in eine andere Richtung entwickeln, täte sie sich schwer, ohne Gesichtsverlust wieder herauskommen. Sie müsste sich womöglich eingestehen, dass ihr Hauptzeuge B. nicht die Wahrheit gesagt hat und Mitglied einer ganz anderen Bande war (es gilt die Unschuldsvermutung). In der Zwischenzeit festgestellte sechs Millionen Euro auf seiner Stiftung Levantine Foundation hatte er jedenfalls zunächst verschwiegen.
Was aber auf der anderen Seite noch nicht bedeutet, dass Braun von alledem nichts wusste, wie die Verteidigung betont, weil der gesamte Drittpartner-Komplex nicht in seinen Vorstandsbereich fiel. Braun wurde von Mitarbeitern immer wieder über Unregelmäßigkeiten informiert. Im besten Fall wollte er nichts wissen. Er schlug Warnungen in den Wind und ging rechtlich gegen kritische Medienberichte vor. "Ich habe vollen Einblick in die operative und die fundamentale Seite der Geschäftsentwicklung", verlautete er noch im Frühjahr 2019. Die deutsche "Wirtschaftswoche" bezeichnet seine Opferstrategie als absurd. Und es ist wirklich kaum vorstellbar, dass er niemals die Echtheit der Guthaben auf den Philippinen nachprüfte.
Dierlamm wehrt sich dennoch gegen Darstellungen, seine Strategie sei nur ein PR-Gag, um Markus Braun aus dem Gefängnis zu bekommen. Dirk Metz meint dazu: "Um die Wahrheit zu finden, gilt der alte Grundsatz: Follow the money. Die Ermittlungen zum eigentlichen Tatbild haben noch nicht einmal begonnen. Die Veruntreuung von Unternehmenserlösen der Wirecard AG in Milliardenhöhe wird sich dauerhaft nicht mehr leugnen und auch die Aufklärung nicht verhindern lassen. Vor allem im Interesse der geschädigten Aktionäre."
Dem steht allerdings entgegen, dass außer B. keiner der Hauptakteure greifbar ist. Jan Marsalek ist untergetaucht. Und ob Henry O'Sullivan - in Singapur auf Kaution aus der Haft entlassen - je nach Deutschland ausgeliefert wird, steht in den Sternen.
Eine gewisse Vorsicht ist bei der Staatsanwaltschaft jedenfalls schon eingekehrt. Die Anklageerhebung gegen Markus Braun wurde ursprünglich für Sommer 2021 angekündigt. Dann war zuerst dieser Herbst und später das Frühjahr 2022 im Gespräch. Mittlerweile wird kein Datum mehr angegeben.
Bewiesen ist derweil noch nichts. Aber gleich, ob die U-Haft gegen Braun vom Gericht jetzt aufgehoben wird oder er in der Zelle auf den Prozess warten muss, eines zeichnet sich sehr wohl ab: Die Geldflüsse müssen von der Justiz aufgeklärt werden. Sonst kann es im Wirecard-Skandal am Ende keine befriedigenden Urteile geben.