WikiLeaks als gelunge Drohung: Wo
Kontrolle verhindert wird, wird geleakt

Ach, ist das schön, wenn amerikanische Politiker und Militärs über die Informationsgesellschaft jammern. Vom Irak bis nach Afghanistan haben sie jahrelang gelogen und betrogen und damit ihre Kriege legitimiert. Jetzt dringt ein Schwindel nach dem anderen durch undichte Stellen ins Internet. Dafür gebührt großer Dank. WikiLeaks ist die angemessene Antwort auf die staatlichen Hinterzimmer der Informationsgesellschaft.

Was ist das Problem? Über alle Grenzen hinweg haben sich Innenminister und Polizeichefs mitsamt ihren Regierungen und Parlamenten darauf verständigt, dass die Informationsgesellschaft als Einbahnsystem funktioniert. Der Staat darf alles wissen, der Bürger nichts. „Datenschutz“ bezeichnet auch in Österreich den erfolgreichen Versuch, die Daten vor den Bürgern zu schützen. Rasterfahndung, Bundestrojaner, Lauschangriff, Data Retention – der Staat darf alles, was technisch möglich ist. Er schützt vor „Kriminellen“. Wenn aber Bürger den Staat überwachen und ihm in die Files schauen, sind sie kriminell.

WikiLeaks dreht das nicht um. WikiLeaks macht nur ein einfaches Angebot: Wenn etwas durch die Lücken der Amts- und Staatsverschwiegenheiten dringt, anonymisiert und verbreitet WikiLeaks die Information. WikiLeaks ist damit kein Ersatz für umfassende Bürgerinformationsrechte. Aber es ist eine gelungene Drohung: Wo Kontrolle verhindert wird, wird geleakt.

Die parlamentarische Kontrolle in Österreich lebt seit langem von Leaks

Minister verletzen täglich Gesetze, indem sie unsere Fragen im Parlament nicht beantworten. Beamte stützen das Parlament, indem sie mir und anderen geheime Akten zukommen lassen. Ich anonymisiere und verbreite sie. Alle paar Wochen tauchen bei mir Staatspolizisten auf und stellen immer dieselbe Frage: „Herr Abgeordneter, wer hat Ihnen den Akt gegeben?“ Mit der Antwort tue ich mir immer leicht: „Ich vermute da ein Leck.“

Von der Volksrepublik China bis in die USA ist das Internet zu einem wunderbaren Problem geworden. Das Netz besteht aus so vielen Knoten und Strängen, dass die Kontrolle der Freiheit fast immer hinterherläuft. Ohne Internet geht von Forschung bis Handel fast nichts mehr. Aber mit Internet wird alles schwieriger, was bisher im Verborgenen funktioniert hat.

Wieder einmal nähern wir uns einer Gabelung des politischen Wegs. Soll das Netz aus Gründen der Sicherheit vom Staat kontrolliert werden? Oder soll es grundsätzlich offen und frei bleiben? Vor dieser Entscheidung empfiehlt es sich, eine Frage zu beantworten: Welche Sicherheit gefährdet WikiLeaks? Ich kenne bis heute kein WikiLeaks-Dokument, das die nationale Sicherheit eines einzigen Staates gefährdet. Ich kenne nur Politiker, Diplomaten, Unternehmer und Militärs, die sich jetzt nicht mehr sicher fühlen. In den meisten Fällen schützt Geheimhaltung nicht die öffentliche Sicherheit, sondern Verstöße gegen Gesetze: Korruption im öffentlichen Vergabewesen ebenso wie den Missbrauch von Polizei und Militär. Auch wenn die Nutzer von Leaks im Einzelfall scheinbar gegen Gesetze verstoßen, stärken sie in der Regel den Rechtsstaat gegen den Missbrauch von oben.

Demokratische Defizite

In meinen Augen hat WikiLeaks derzeit zwei schwerwiegende Probleme. Die Position, man sei ja nur eine Plattform, über die Informationen unzensuriert verteilt würden, ist auf Dauer nicht haltbar. Informanten einer westlichen Botschaft im Iran stelle ich nur dann mit vollem Namen ins Netz, wenn mir egal ist, was mit ihnen passiert. Auch das Internet ist kein Ort, an dem man sich die Abwägung zwischen Freiheit und Verantwortung ersparen kann. Das zweite Problem heißt „Demokratie“. WikiLeaks ist eine Geheimorganisation, die niemandem verantwortlich ist. Ihr Führer entscheidet, wie er die wachsende Macht von WikiLeaks einsetzt, ob er aufklären oder manipulieren lässt, wen er bekämpft und wen er verschont. WikiLeaks kann aufdecken, aber demokratische Kontrolle und verbriefte BürgerInnenrechte nicht ersetzen.

WikiLeaks hat auf die wichtigsten Fragen keine Antworten: 1. Wem Informationen „gehören“. 2. Wie die neuen Informationsrechte von Bürgern und Bürgerinnen aussehen sollen. 3. Wie sich Beamte straffrei an das Parlament wenden können, wenn sie auf rechtswidrige Verwaltungsvorgänge stoßen. 4. Wie Falschinformationen durch Minister und Beamte sanktioniert werden. 5. Und vor allem: wie die Freiheit und Offenheit des Internets ebenso garantiert bleibt wie die Rechte etwa von Kindern.

Die Antworten auf diese Fragen entscheiden darüber, ob und wie weit wir in Zukunft noch informationelle Notwehr durch Leaks brauchen. Diese Antworten sind Sache der Politik. In einem ersten Schritt könnten Abgeordnete der Regierungsparteien mit diesen Fragen vertraut gemacht werden.

Mit WikiLeaks spitzt sich der Streit um die Zukunft der Informationsgesellschaft zu. In Brüssel arbeiten die Internetpolizisten an der lückenlosen Netzkontrolle. Gesetze wie unser Sicherheitspolizeigesetz erlauben schon heute den polizeilichen Zugriff auf dynamische IP-Adressen ohne richterliche Kontrolle. Ihr gemeinsames Ziel ist ein transatlantischer Überwachungspakt unter der Führung der USA. Auf der anderen Seite stehen wir: die Menschen, die – wenn es um unsere Freiheit geht – für weniger Staat und mehr Privat sind.

Peter Pilz
Grüner Abgeordneter und Aufdecker