Die Legende vom idealen Lebenslauf

Eltern, die einmal geträumt haben, etwas Großes zu wagen, drängen in der Krise ihre Kinder dazu, etwas "Sicheres“ zu studieren. Doch erfolgreiche Lebensplanung sieht anders aus.

Die Legende vom idealen Lebenslauf

Als Kinder hatten wir den unglaublichen Luxus, das ganze Leben vor uns zu haben. Wir konnten uns jede verrückte Idee ausmalen, die uns motivierte, große Pläne für unser Leben zu schmieden. Sportheld, Filmstar, Prinzessin, Pferdedoktor, Tiefseeforscher oder Raumschiffkapitän. Jeder Weg stand uns offen.

Doch je erwachsener wir werden, umso klarer erkennen wir, dass wir unsere Träume gegen die harten Erfahrungen der Realität des Lebens verteidigen müssen. Mit jeder Entscheidung für eine bestimmte Ausbildung opfern wir einige Träume, deren Verwirklichung dadurch nicht mehr möglich scheint.

Wenn man Verkäufer lernt, kann man nicht mehr Automechaniker oder Friseur werden, und schon gar nicht Musiker. Mit dem ersten Job, den wir antreten, verschließen wir uns viele andere Wege. Dieser Glaubenssatz ist so einfach wie falsch. Es ist vielmehr die Versuchung, im Zweifel doch das vermeintlich Sicherere statt des erträumten Studiums zu wählen - den Job zu nehmen, der uns angeboten wird, statt um den zu kämpfen, der uns erfüllen würde.

Wir finden überzeugende Gründe, warum es vernünftiger ist, die großen Pläne vorerst einmal aufzuschieben. Manche Kindheitsträume erweisen sich auch als unrealistisch und lassen sich ohne große Wehmut abhaken. Wenn man kein Blut sehen kann, wird es wohl nichts mit dem Tierarzt. Kurzsichtigkeit ist keine gute Voraussetzung, um Flugzeugpilot zu werden. Eine dumme Verletzung beendet so manche Sportlerkarriere, bevor sie noch begonnen hat.

Viele Menschen wissen auch nicht, wo ihre natürlichen Talente liegen. Oft verwechseln sie jene Dinge, die sie gerne tun, mit den Dingen, für die sie wirklich begabt sind. "Deutschland sucht den Superstar“ zelebriert dieses Missverständnis gnadenlos beim Thema Singen. "Viele fühlen sich berufen, nur wenige sind auserwählt“ heißt für mich aber nicht, dass man aufgrund der Chancenlosigkeit seiner Berufung nicht folgen darf, sondern dass man eben genau hinhören und kritisch prüfen muss, wofür man tatsächlich auserwählt wurde.

Nur die wenigsten haben ein wirklich einzigartiges Talent wie Mozart für Musik, Picasso für Malerei, Mutter Teresa für Mitgefühl, Agatha Christie für Krimis oder Pelé für Fußball. Aber die Art, wie wir unsere natürlichen Talente nutzen, bietet die Gelegenheit für ein einzigartiges Leben. Wenn wir unsere Kindheitsträume eintauchen in das Scheidewasser, das sich aus den Elementen Durchhaltevermögen, Erfahrung und Realitätsbezug zusammensetzt, dann können wir daraus unsere wirklichen Lebensträume destillieren.

Immer mehr Menschen sorgen sich, dass ihr Leben scheinbar keine Richtung hat, dass vieles, was sie begonnen haben, nie zu Ende geführt wurde, sie im Vergleich zu anderen nicht zielorientiert genug sind, dass viel zu viel "Versuch und Irrtum“ ihr Leben beherrscht.

Das beginnt damit, dass schon Kindern sehr früh die Angst eingeimpft wird, etwas falsch zu machen. Die Konsequenz ist, dass wir Kinder weg von ihren kreativen Potenzialen erziehen. Gerade jenen, die am brillantesten und kreativsten sind, geben wir in der Schule oft das Gefühl, zu versagen. Dem Schriftsteller, dem Fußballer, dem Opernsänger, dem Kreativdirektor, dem Tänzer jubeln wir als Erwachsene zu - in der Schule lassen wir zu, dass sie gnadenlos aussortiert werden. Nur die Härtesten kommen durch.

Noch viel wichtiger: Jene Kinder, die nicht über eine geniale Fähigkeit verfügen, aber die alle Voraussetzungen hätten, glückliche, mitfühlende und liebevolle Menschen zu werden, entmutigt man, indem man sie von klein auf in den Vergleich mit anderen zwingt, ihnen immer zeigt, was sie schlechter können als andere.

Viele schleppen diesen Rucksack an Selbstzweifeln bis ins Erwachsenenalter mit. Es entsetzt mich zu sehen, wie sich junge Menschen immer früher mit dem Virus des Glaubens an den perfekten Lebenslauf infizieren. Ein beeindruckender Lebenslauf und ein erfülltes Leben sind zwei sehr verschiedene Dinge. Von den vielen großartigen Menschen, die ich in meinem Leben kennenlernen durfte, konnte kein einziger einen makellosen Lebenslauf vorweisen. Ganz im Gegenteil.

Paulo Coelho wurde von seinen Eltern zweimal in die Psychiatrie eingewiesen, musste die Folter durch die brasilianischen Militärs überwinden, wurde als Songschreiber von Popliedern populär, um dann nach langen Jahren der Suche und auch der Verirrungen mit seinem "Alchimisten“ den Grundstein zu einem der meistgelesenen Autoren der Welt zu legen.

Isabel Allende musste nach dem Militärputsch in Chile, bei dem ihr Onkel Salvador Allende getötet wurde, nach Venezuela flüchten. Als ihr Großvater mit 99 Jahren starb, begann sie, Briefe zu schreiben. Diese Briefe waren die Basis für den Welterfolg von "Das Geisterhaus“. Carl Djerassi, als Jude vor den Nazis in Wien geflüchtet, studierte Chemie in den USA, revolutionierte mit der Entdeckung der Pille das Leben der Frauen, widmete sich später den Künsten, schrieb Theaterstücke und Bücher. Der "Herr der Gene“, Craig Venter, langweilte sich in der Schule, ging lieber Surfen und wurde dann als Sanitäter nach Vietnam eingezogen. Ihm gelang es als erstem Forscher, die menschliche DNA zu entschlüsseln und der Menschheit damit die Türen in ein völlig neues Zeitalter zu öffnen.

Heute erforscht er auf seiner Jacht auf den Spuren von Darwin die Tiefen des Meeres, weil für ihn dort seit 3,8 Millionen Jahren der Stein der Weisen der Entschlüsselung menschlichen Lebens liegt. Der Name des Schiffes ist "Sorcerer“, das heißt Zauberer. Und diesen Zauber, der in uns allen steckt, müssen wir unser ganzes Leben gegen alle verteidigen, die uns den aus ihrer Sicht für uns besten Lebenslauf aufzwingen wollen.

Eltern, die in ihrer Jugend davon geträumt haben, ihren Leidenschaften zu folgen und Großes zu wagen, drängen jetzt in der Krise ihre eigenen Kinder dazu, etwas "Sicheres und Zukunftsweisendes“ zu studieren. Die Hälfte aller Nobelpreise in den Naturwissenschaften wurde übrigens an Forscher vergeben, die in Fachgebieten arbeiteten, die noch gar nicht existierten, als sie selbst studierten. So viel zum Thema "etwas Zukunftssicheres studieren“. Und an der These, dass "Bankangestellter“ zwar meist ein ziemlich langweiliger, aber dafür sicherer Job ist, hat sich eher der erste Teil als richtig erwiesen. Mit wenigen Ausnahmen waren die Prognosen der Zukunftsforscher des Arbeitsmarktes ähnlich treffsicher wie die der Börsenanalysten. Niemand hat eine Ahnung davon, wie unsere Zukunft aussehen wird.

Wir erhalten bei unserer Geburt leider keine Gebrauchsanleitung dafür, sinnvoll mit unserem Leben umzugehen. Wir können diese Fertigkeit aber lernen. Wenn wir erkennen, wie oft es die Umwege, die Niederlagen, die Wege, vor denen wir die größte Angst hatten, waren, die zu unseren größten Erfolgen geführt haben. Das Streben nach Erfolg ist nichts Schlechtes, solange es unsere eigene Vorstellung von Erfolg ist. Die meisten laufen ihr Leben lang Erfolgsvorstellungen nach, die sie von anderen vorgegeben bekommen haben. "Auf einem Dampfer, der in die falsche Richtung fährt, kann man nicht sehr weit in die richtige Richtung gehen“, hat Michael Ende so wunderbar gesagt. Erfolgreiche Lebensplanung beginnt daher mit einer Frage, die man sich gar nicht früh genug stellen kann: Was macht mich aus?

Zur Person: Andreas Salcher ist Unternehmensberater, Autor von fünf Nummer-Eins-Bestsellern und scharfer Kritiker unseres Schulsystems. Er ist Mitgründer der "Sir Karl Popper Schule“ für besonders begabte Kinder.