Die Ego-Generation und ihre Feinde
Es gibt wohl nichts Schlimmeres, als unsere Gesellschaft als Ego-Gesellschaft zu bezeichnen. Kaum hat man es getan, steht ein Heer von Apologeten des Idealismus auf und redet sich dermaßen in Rage, dass man schnell zur Überzeugung kommen muss, hier wohl einen wunden Punkt unseres Polit- und Wirtschaftssystems getroffen zu haben.

Wer so offensiv seinen Idealismus inszeniert, der kommt leicht in Verdacht, etwas verbergen zu wollen, vielleicht die Tatsache, dass dieser Idealismus nur Ideologie ist, ein Gedankengebäude, das zur Verschleierung und zur Rechtfertigung der vorherrschenden Machtverhältnisse und der mit diesen im Zusammenhang stehenden dominierenden Bewußtseinsformen herhalten muss.
Wenn man das Handeln der Menschen unserer Zeit etwas weniger oberflächlich betrachtet und nicht ausschließlich vom Interesse an der Legitimation der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse geleitet, dann bemerkt man schnell, dass die Ökonomie und ihre Imperative das Leben von uns allen fest im Griff haben. Nicht ideelle Werte wie Gemeinschaftlichkeit, Hilfsbereitschaft, Toleranz und der Wille zur Wahrhaftigkeit - also die großen Ideale der europäischen Aufklärung - bestimmen unser Zusammenleben, sondern die Imperative des Marktes wie Effizienz, Nützlichkeit, Verwertbarkeit, Funktionsfähigkeit und Rentabilität.
An die Stelle der Moral ist das blanke Kalkül getreten, ein Nützlichkeitsdenken, das keine Grenzen mehr zu kennen scheint, durch nichts zu stoppen ist, nicht einmal durch die Offensichtlichkeit von fatalen Folgen des gewinnorientierten Handelns für sozial Schwache, Kinder, Jugendliche und Familien. Und so werden ArbeitnehmerInnen in Betrieben unter Erfolgsdruck gesetzt, bis sie zusammenbrechen, Kinder und Jugendliche in den Bildungsinstitutionen so lange evaluiert und kontrolliert, bis sie die Lust am Lernen verlieren, Mieter mit allen Schikanen aus ihren Wohnungen herausterrorisiert, wenn man diese gewinnbringend in Luxuswohnungen umwandeln kann - oder Produktionsstätten in Ländern der Dritten Welt mit Aufträgen bedacht, durch die Menschen am Rande des Existenzminimums wie Tiere gehalten werden. Ab und an flackert das eine oder andere moralische Desaster kurz in empörten Medienberichten auf, wird vorübergehend offensichtlich, um dann aber wieder zu verschwinden, um dem täglichen medialen Unterhaltungsspektakel Platz zu machen, das wohl dazu da ist, unsere Gehirne so zu benebeln, dass wir bald nichts mehr wahrnehmen können als unsere ganz persönlichen Luxus- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse.
Wenn die Wirtschaft alles ist und Menschlichkeit und Moral nichts, dann ist nur mehr das berechtigt und begründbar, was sich den Imperativen des Marktes zu beugen bereit ist. Das gilt besonders für die Bildungspolitik. Was wertvolles Wissen ist, das bestimmt heute die Wirtschaftsorganisation OECD. Nur was betriebswirtschaftlichen Nutzen garantiert, ist am Ende des Tages sinnvoll und zulässig. Und das ist vor allem technisches, naturwissenschaftliches und betriebswirtschaftliches Wissen. Während die technischen Wissenschaften gefördert werden, werden die Human- und Geisteswissenschaften ausgetrocknet. Ihnen fehlt die Legitimation, weil sie keinen vordergründig sichtbaren Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten.
Aber was geht uns verloren, wenn wir Human- und Geisteswissenschaften in den Hintergrund drängen? Vor allem die Fähigkeiten, die wir brauchen, um unsere Demokratie am Laufen zu halten. Wenn Deutungswissen, reflektierendes Wissen und politische Urteilskraft aus der Gesellschaft verschwinden, dann verschwindet mit ihnen auch die lebendige Demokratie. An ihre Stelle tritt ein geistloser Schwarm perfekt manipulierbaren Stimmviehs, der von gewissenlosen Machtpolitikern und ihren willfährigen Gehilfen, den postmodernen PR- und Werbeprofis, genau in jene Richtungen getrieben wird, die sich die Machteliten wünschen.
Was heute in unseren Bildungseinrichtungen unter Vorgabe der OECD produziert wird, sind gut ausgebildete Ungebildete, es sind weitgehend verrohte und für menschliches Leid desensibilisierte Egozentriker, die nicht mehr zwischen Gut und Böse, sondern nur mehr zwischen Vorteil und Nachteil, zwischen Gewinn und Verlust zu unterscheiden gelernt haben. Sie sind die Exponenten eines negativen Individualismus, eines Individualismus ohne Autonomiebedürfnis und Moral. Denn diese postmodernen Individualisten kultivieren den Aufstieg durch Anpassung, realisieren ihre Karriere durch willfähriges Mitmachen. Pragmatisch und cool sind diese Leute, äußerlich manchmal extravagant, zumeist ziemlich stylish und auf ästhetische Unverwechselbarkeit bedacht, innerlich aber hohl, geistlos, nur von materiellen Wertinteressen geleitet.
Es ist wohl wahr, wir sind mit Volldampf auf dem Weg in die totale Ego-Gesellschaft. Kann uns noch irgendetwas aufhalten? Können wir noch die Wende schaffen, im letzten Augenblick? Schwer zu sagen, aber zumindest sollten wir uns moralisch dazu verpflichtet fühlen, einen Versuch zu unternehmen, den Wahnsinn zu stoppen. Anfangen sollten wir dabei in der Bildungspolitik, und zwar mit einer Bildungsdiskussion unter absichtlicher Ignorierung aller OECD-Studien, insbesondere der PISA-Studie.
Es ist an der Zeit, sich vom Gängelband der positivistischen Bildungstechnokraten zu lösen und wieder einen qualitativen Bildungsdiskurs zu beginnen - der anstelle der technokratischen Vermittlung von verwertbarem Wissen die Erziehung zur Mündigkeit in den Mittelpunkt stellt. Unser Ziel sollte es sein, die halbierte technokratische Vernunft in die Schranken zu weisen und an deren Stelle wieder das zu setzen, was Theodor W. Adorno mit Bildung als Widerstand gegen das Aufgedrängte bezeichnet hat.
Erziehung gegen PISA ist nur als Erziehung zur Selbstreflexion und zur kritischen Anstrengung, als Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand denkbar. Ganz im Sinne von Adorno brauchen wir in den Bildungsinstitutionen mehr Kritik und weniger blinden Gehorsam und verbissenen Fleiß. Die Hoffnung, dass wir die Karawane, die in die totale Ego-Gesellschaft unterwegs ist, stoppen können, liegt in einer humanistischen Erziehung, die junge Menschen zur kritischen Reflexion über die Verhältnisse, zur Selbstbestimmung und am Ende auch, wenn es angezeigt ist, zum Nicht-Mitmachen befähigt und ermutigt.
Zur Person: Bernhard Heinzlmaier, 53, gehört zu den bekanntesten Jugendforschern im deutschsprachigen Raum. Er ist Mitbegründer des Wiener Instituts für Jugendkulturforschung und seit 2003 dessen ehrenamtlicher Vorsitzender. Hauptberuflich leitet er das Marktforschungsunternehmen tfactory in Hamburg. Daneben hat er verschiedene Lehraufträge inne.