Das Jahrhundert des Drachen, Teil 3: Der Weg zur Fabrik der Welt
Warum China im Unterschied zu den Ostblock-Staaten der Übergang zum Staatskapitalismus gelang, ohne die Einparteienherrschaft preiszugeben.
Tiananmen: Die Bilder von den brutal niedergewalzten Protesten 1989 brannten sich den Folgegenerationen ein. Fortan galt der Tauschhandel: Abstinenz von der Poltik vs. materieller Aufstieg.
Die blutige Niederschlagung der Proteste auf dem Tian' anmen-Platz in Peking am 4. Juni 1989, die mehrere Hundert Menschen das Leben kostete, prägten das Bild Chinas im Westen stärker als irgend ein anderes Ereignis der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Während die Nachrichten über die Gräuel der Kulturrevolution den Westen unvollständig und immer erst mit Zeitverzögerung erreichten, berichteten hier Hunderte ausländische Korrespondenten live über die anschwellende Protestbewegung und ihr brutales Ende.
Zweifelsohne autorisierte Deng Xiaoping selbst, obwohl er keine formell hohen Staats- und Parteiämter mehr innehatte, den Befehl, die Ordnung um jeden Preis wiederherzustellen. Laut Berichten von Familienmitgliedern war er bis zu seinem Tod 1997 davon überzeugt, das Richtige getan zu haben, um die nationale Einheit Chinas zu erhalten. Womöglich ließen ihn die bereits sichtbaren Auflösungserscheinungen in der Sowjetunion und ihren europäischen Satellitenstaaten bangen, dass er sein Lebenswerk nicht würde vollenden können. Das Risiko von Chinas Isolation auf internationaler Ebene schien ihm jedenfalls geringer zu sein als der Verlust der Steuerungsfähigkeit eines Landes, dessen Bevölkerung längst die Milliardengrenze übersprungen hatte.
Es dauerte noch bis 1992, drei Jahre nach Tian'anmen, ehe der Machtkampf in der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) über die Lehren aus den Ereignissen und die künftige Ausrichtung des Landes endgültig entschieden war. Einzelne Politbüro-Mitglieder hatten als Konsequenz auf die sichtbar gewordenen Verwerfungen einen völligen Kurswechsel gefordert und wollten die kapitalistischen Reformen rückgängig machen. Sogar eine Art Rehabilitation von Maos Kulturrevolution stand zur Diskussion. Dengs früherer Mitstreiter Chen Yun wurde endgültig sein schärfster Gegenspieler. Seiner Meinung nach war der "Hauptgrund für die sozialen Unruhen 1989 eine überhitzte und entgleiste Volkswirtschaft, die in untragbare Inflation mündete".
Dengs letzter großer Coup
In dieser Situation setzte Deng zum letzten großen PR-Coup seines Lebens an. In der berühmt gewordenen "Reise in den Süden", die ihn im Januar und Februar 1992 nach Wuhan, Hunan, Shenzhen, Zhuhai und Shanghai führte, schwor er das Land noch einmal eindringlich auf den Kurs ein, den er seit 1978 gepredigt hatte.
Wegen der Tarnung der Reise als Familienausflug mit seinen Kindern erfuhren die Parteikader und Medienvertreter in Peking nur tröpfchenweise vom wahren Charakter der Tour, die so etwas wie Dengs Vermächtnis war. Der 87-Jährige besuchte Fabriken und Schulen, ließ sich die neuesten Technologien zeigen und in Gesprächen mit lokalen Funktionären und Fans Sätze fallen, die - teilweise erst mit mehreren Wochen Verspätung - ihren Weg in die Spalten der staatlichen Zeitungen fanden: "Wer gegen Reformen ist, muss das Amt verlassen." - "Die ökonomische Liberalisierung muss hundert Jahre dauern." - "Chinas Wirtschaft kann jedes Jahr eine weitere Stufe erklimmen."
In fast allen Gesprächen mit politisch Verantwortlichen forderte er diese auf, noch mutiger zu sein und sich noch mehr und noch schneller zu öffnen. Shanghai, das keine Sonderwirtschaftszone (SEZ) vor der Haustür hatte, sollte sich nach seinem Wunsch ein globales Finanzzentrum werden; insbesondere die Entwicklung des Stadtteils Pudong war dem greisen Deng ein Anliegen. Dass er sich unterwegs nur von Generälen der Volksbefreiungsarmee begleiten ließ, unterstrich seine Entschlossenheit, nötigenfalls noch einmal selbst ins Steuerrad zu greifen.
Die Botschaft kam an, und sie stärkte seine progressiven Mitstreiter in der Staats-und Parteiführung: Der zunächst schwankende Jiang Zemin, der ab 1989 Generalsekretär und ab 1993 Staatspräsident war, brauchte nicht lange, um Dengs Sätze aufzugreifen und als offizielle Linie zu vertreten. Er forderte nun Wachstumsraten von neun bis zehn Prozent pro Jahr statt der bisher anvisierten vier bis fünf. Zhu Rongji, den früheren Bürgermeister von Schanghai, hatte Deng schon 1991 als Vizepremier nach in die Hauptstadt Peking geholt; ab 1998 war er Ministerpräsident. Sie hielten Kurs: Weitere Städte an der Küste erhielten jene Außenhandelsprivilegien, die bisher den SEZ vorbehalten gewesen waren. Sogar Chen Yun, ein energischer Verfechter von rigoroser Parteidisziplin, gab sich am Ende geschlagen und ordnete sich unter. Chen starb 1995, zwei Jahre vor Deng.
Die Ära Jiang und Zhu
Unter Jiangs und Zhus Führung war der weitere Verlauf der 1978 begonnenen Öffnung von deutlich mehr Kontinuität und Stabilität geprägt als in den ersten 15 Jahren. In den zwei Jahrzehnten nach Tian'anmen, schreibt Deng-Biograf Ezra Vogel, "erlebte China relative Stabilität und ein schnelles - sogar spektakuläres - wirtschaftliches Wachstum. Heute leben Hunderte Millionen Chinesen in größerem Wohlstand als vor 1989, und sie haben einen besseren Zugang zu Informationen und weltweiten Ideen als jemals zuvor in der chinesischen Geschichte."
Warum gelang den Kommunisten in China, was ihren Pendants in den Ostblock-Staaten nicht gelang? Die weltpolitisch turbulente Phase des Übergangs von den 80er- zu den 90er-Jahren war zwar mit Sicherheit die kritischste im gesamten Öffnungsprozess. Doch während die Sowjetunion 1991 auseinanderbrach, schafften es Deng und seine Erben, die Ernte einzufahren, für die sie in den vorangegangenen Jahren ausgesät hatten. Sie hatten, als in Europa der Eiserne Vorhang fiel, bereits mehr Erfahrungen gesammelt. Die Schocktherapie, die Russland von westlichen Ökonomen Russland ab 1991 empfohlen wurde, stand in scharfem Kontrast zum evolutionären, auf Jahrzehnte angelegten Wandel Chinas, den Deng auf Ratschlag der Weltbank-Ökonomen auf den Weg gebracht hatte.
China ließ ein Nebeneinander der alten staatlichen Strukturen und den vergleichsweise dynamischen privaten Aktivitäten zu. Um den gewaltigen Transformationsprozess zu managen, dürfte das Festhalten an der KPCh als alleiniger Führungsautorität und eine ausgeklügelte Nachwuchsarbeit zwecks Ergänzung der Parteieliten ebenso von Vorteil gewesen sein.
Der Zeitpunkt und der internationale Rahmen waren zudem für ein Aufstoßen der Türen ideal: Die einsetzende Computerisierung verlieh den Unternehmen weltweit ab den siebziger Jahren ungeahnte Produktivitätsschübe, der Siegeszug der Containerschiffe beflügelte den Welthandel - mit der schrittweisen Öffnung importierte China die ökonomischen Revolutionen nun praktisch in Echtzeit.
Ein neuer Verbündeter
Politisch erwies es sich als günstig, dass die USA eben Bündnispartner gegen die Sowjetunion suchten - und sie in den sowjetkritischen Chinesen fanden. Mit dem China-Besuch von US-Präsident Richard Nixon 1972 war der erste Schritt hin zu einer Wiederannäherung der beiden großen Pazifikstaaten gesetzt worden. China fügte sich unter Deng mit Konsequenz und in Windeseile in die internationalen Organisationen ein: Das Land wurde nicht nur Mitglied der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, Deng stellte auch noch zu Lebzeiten die Weichen für die Aufnahme in die Welthandelsorganisation WTO. Der offizielle Beitritt erfolgte 2001.
Bei aller Betonung der nationalen Einheit widerstanden die Machthaber jedoch systematisch xenophoben Verlockungen. Deng hielt an seiner Forderung nach verstärktem Wissenschaftsaustausch auch dann fest, als die ersten zurückgekehrten Studenten und Professoren laut nach Demokratie riefen.
Die parteiinterne Kritik am großzügigen Import westlicher Lebensstile und Werthaltungen konterte er stets mit dem Argument, dass der Austausch mit dem Westen China auf Dauer stärker machen würde. Anders als der stolze Kaiser Qianlong 1793 hatte Deng Mitte der 70er-Jahre erkannt, dass die Transformation Chinas nur mit westlichem Know-how gelingen konnte: Er nahm das angebotene Kapital und die zur Verfügung gestellten Technologien gerne an und lieferte seinerseits die Arbeiter für die "Fabrik der Welt", wie China seitdem oft bezeichnet wurde.
Der Essay ist in voller Länge im von Hannes Androsch, Heinz Fischer und Bernhard Ecker herausgegebenen Band "1848 -1918 -1848. 8 Wendepunkte der Weltgeschichte" (Brandstätter-Verlag) erschienen.
Eine Wirtschaftsmacht ist China längst, als Supermacht könnte es die USA bald ablösen. In der fünfteiligen Serie "Das Jahrhundert des Drachen" geht trend-Autor Bernhard Ecker dem spektakulären Aufstieg des Reichs der Mitte auf den Grund.
Das Jahrhundert des Drachen