Überdruss im Überfluss
Wer mit wenig auskommt, wird glücklicher: Das sagen immer mehr Anhänger von Konsumverzicht. Nur ein paar Spinner oder ein echter Kulturwandel?

Simon, Stephanie und Thomas haben seit ein paar Wochen das, wovon junge Menschen immer mal wieder träumen: einen eigenen Laden. Gemeinsam mit noch ein paar anderen Freunden haben sie den richtigen Ort gefunden, sie haben sich auf einen Namen geeinigt, eine Website aufgesetzt und schon erste Kunden in ihrem Ecklokal in der Herbststraße im 16. Wiener Gemeindebezirk begrüßt.
Wie viele Jungunternehmer haben sie viel vor: Die Anzahl ihrer Kunden soll schnell wachsen, ihr Angebot soll deutlich besser werden, und Konkurrenz fänden sie auch gut, damit ihre Branche an Zuspruch gewinnt.
In den einfachen Regalen ihres Ladens stapeln sich Gitarren, Akkordeons, Küchengeräte, Rollstühle, Kameras, Werkzeug - und, von den Flossen angefangen, alles, was man für einen vernünftigen Urlaub braucht. Es hängen allerdings keine Preisschilder dran, denn ums Verkaufen geht es hier nicht - es geht ums Leihen.

LEIHLADEN. Im 16. Bezirk gibt es in Wien seit wenigen Monaten einen Laden, in dem man sich Dinge, die man nicht täglich braucht, ausborgen kann - wenn man Vereinsmitglied ist. Das Konzept kommt an.
Vereinsmitglieder können sich die Sachen gegen eine Jahresgebühr jederzeit ausborgen. "Es findet gerade ein Kulturwandel statt", sagt Thomas Siebenbrunner, 22, - und mit Leila, dem Leihladen, will die Gruppe diesen Wandel mitgestalten: "Menschen erkennen, dass sie manche Dinge nicht besitzen müssen oder sogar überhaupt nicht benötigen."
Spätestens seit Ausbruch der Finanzkrise wird diese Frage lauter gestellt. Auch bei nicht von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen ist Verunsicherung zu spüren: Hält das System? Kann es gutgehen, immer weiter auf Schulden zu bauen, immer mehr zu kaufen?
In unzähligen Büchern, Artikeln und Blogeinträgen berichten Menschen seither, dass sie ganz bewusst auf Dinge verzichten. Dazu zählen Prominente wie der Kabarettist Roland Düringer. Aber auch Sebastian Küpers ist ein Beispiel dafür, wenn auch ein extremes: Er hat beschlossen, mit gerade einmal 100 Dingen auszukommen.
Durchschnittseuropäer besitzen 10.000, benutzen aber nur 20 Prozent davon. Eine Berliner Kleinfamilie wiederum versucht, sich mit nur 500 Euro im Monat durchzuschlagen. Auf der Plattform MeinJahrOhne berichtet eine ganze Gruppe von Leuten, wie es ist, 2014 ohne Fleisch oder Plastik, Kleidung oder gleich ganz ohne neue Produkte auszukommen.
157.000 Tonnen Lebensmittel werfen Österreicher jährlich weg.
Die Leipzigerin Greta Taubert feiert gerade mit dem Buch "Apokalypse jetzt!" Erfolge. Sie schildert darin, wie sie ein Jahr lang lebte und überhaupt nichts kaufte. Und fast jeder hat einen Bekannten, der zumindest jetzt zur Urlaubszeit auf Smartphone, Facebook, Twitter und Onlineshopping verzichtet - mit Ankündigung und Nachbericht.
Aber machen der mediale Hype, die vielen Selbsterfahrungsberichte den Konsumverzicht bereits zum Trend? Unbestritten ist, dass vor allem viele junge Menschen dem Motto "weniger ist mehr" einiges abgewinnen können. Modelle wie Leihläden oder Carsharing haben ziemlich sicher eine gute Zukunft vor sich. Wie überhaupt die Digitalisierung des Lebens begünstigt, Dinge zu nutzen, ohne sie zu besitzen.
Aber kündigt sich damit schon ein Kulturwandel Richtung Konsumzurückhaltung an oder nur eine Modeerscheinung? Und wie steht es um die große Frage: Bricht unser Wirtschaftssystem zusammen, wenn immer mehr Menschen bewusst weniger kaufen?
Verzicht macht glücklich
Für den neuen Hang zum neuen Minimalismus gibt es verschiedene Gründe. Die einen stellen fest, dass es sie belastet, Dinge zu besitzen, die sie vielleicht gar nicht benötigen. Dass Keller und Dachböden oft jahrelang nicht aufgesucht werden, drückt aufs Gewissen. Bei anderen spielen ökologische Gedanken eine Rolle: Knapper werdende Ressourcen, Umweltschäden und Klimawandel machen Kaufentscheidungen auch zu Fragen der Moral.
In diese Kategorie fällt auch der Vegan-Trend. Wieder andere sehen im Verzichten oder im Reparieren und Erneuern älterer Dinge eine Möglichkeit der angewandten Kapitalismuskritik: Nicht jeder ist bereit, teure Gegenstände wegzuwerfen, weil eine Kleinigkeit nicht mehr stimmt.
"Die schnell drehenden Trends verunsichern Menschen", sagt die Wienerin Nunu Kaller. Ein Jahr lang hat sie keine Kleidung mehr erstanden und sich von vielen Besitztümern getrennt. Ihr Buch darüber - "Ich kauf nix!" - wurde zu einem Überraschungserfolg und die Autorin daraufhin mit Reaktionen Gleichgesinnter überhäuft. In ihrem Blog teilt sie seither ihr Wissen über Produktionsverhältnisse, übers Selbermachen und Tauschmöglichkeiten. "Es gibt einen Wunsch nach Einfachheit statt Überangebot", so Kaller. Überdruss im Überfluss also.
Ähnliches beobachtet auch Martin Schreier, Professor für Marketing an der Wirtschaftsuniversität Wien. Er vermutet im reduzierten Konsum , aber auch in der Sehnsucht nach biologischen und regionalen Produkten eine Antwort auf den Überfluss. "Ob Konsumverzicht wirklich ein Trend ist, lässt sich schwer sagen, aber eine gewisse Konsumkritik ist dabei, sich zu manifestieren", so Schreier.
In der westlichen Industriegesellschaft seien die meisten Bedürfnisse befriedigt, der Wohlstand sei hoch. So wie das dritte Schnitzel nicht mehr so gut schmeckt wie das erste, verliert auch Dauerkonsum irgendwann seinen Reiz. Die Wissenschaft spricht von der "Theorie vom abnehmenden Grenznutzen". Hinzu kommen die Symptome der Moderne: Stress und Überforderung, zu denen auch die neuen Technologien beitragen können. "Sich dem entgegenzustellen, hat eine Signalwirkung", sagt Schreier.
Alternativen: Lieber länger leben lassen
Die "geplante Obsoleszenz" zählt zu den beliebtesten Verschwörungstheorien überhaupt. Unternehmen bestreiten regelmäßig, dass sie Sollbruchstellen in ihre Produkte einbauen, Fehler also, die dazu führen, dass das Produkt viel früher als eigentlich notwendig ersetzt werden muss.
Wenn die Langlebigkeit von Produkten erhöht wird, brauchen wir weniger Ressourcen
Der Gegentrend dazu lautet Reparieren oder "Refurbishing", womit gemeint ist, aus kaputten Sachen neue Gegenstände herzustellen. Reparatur-Zirkel boomen, vor allem in den Städten. "Wenn die Langlebigkeit von Produkten erhöht wird, brauchen wir weniger Ressourcen", sagt Sepp Eisenriegler vom Repair Café in wien. Seit einem Jahr bietet es Anleitung zur Selbstreparatur an.
Recommerce: Alt, aber noch gut genug
Das Konzept ist nicht neu: Altwarentrödler gibt es seit Langem. Die neuen Technologien ermöglichen allerdings neue Formen des Wiederverkaufens von Dingen, die man nicht mehr nutzt. Die Wachstumsraten von Secondhandanbietern im Internet sind enorm.
Auch große Händler steigen ins Geschäft ein: Media-Saturn hat sich am Start-up Flip4New beteiligt und eBay verkauft gebrauchte Elektronik über ein eigenes Portal. In der Mode sind es Anbieter wie kleiderkreisel.de oder preloved.ch, die gebrauchte Ware verhökern. Entweder verbinden die Anbieter Verkäufer und Käufer, wie etwa das deutsche Start-up Stuffle, oder sie kaufen die Ware an, um sie dann weiterzuverkaufen.
Verhalten verändert sich - aber langsam
Der Konsumsoziologe Kai-Uwe Hellmann von der Technischen Universität Berlin ist hingegen skeptisch, ob die aktuellen Verzichtsbekenntnisse, die vor allem in urbanen Szenen laut werden, tatsächlich zu einer Trendwende führen.
Warum? Weil nichts daran neu ist. "Seit Ende des 19. Jahrhunderts kommt die Konsumdiskussion in Wellen, die wieder versacken. Nur einzelne Menschen bleiben bei ihren kritischen Überzeugungen", sagt Hellmann - und die wenigsten leben sie. Wenn in einer aktuellen "Spiegel"-Umfrage 82 Prozent der Deutschen erklären, sie würden der Umwelt zuliebe auf Konsum verzichten, heißt das noch lange nicht, dass sie das auch tun. Und selbst wenn sie bei ein paar Dingen sparen, heißt es nicht, dass sie dafür nicht in ein paar andere investieren.
93m² beträgt die durchschnittliche Wohnfläche in Österreich.
Mit dieser Kluft zwischen Sagen und Handeln erklärt sich auch, warum die Aufregung zwar immer groß ist, wenn Fleischskandale aufgedeckt werden oder katastrophale Arbeitsbedingungen in der Textil- oder Versandbrache ans Licht kommen - die Umsätze betroffener Unternehmen aber in kürzester Zeit wieder auf Normalniveau sind.
Ein Blick auf die Zahlen bremst die Euphorie, dass der freiwillige Konsumverzicht schon eine Massenbewegung ist: Die privaten Konsumausgaben sind in Österreich selbst während der Krise real gestiegen. Im GfK-Konsumklimaindex weisen die Österreicher auch 2014 eine positivere Konsumlaune als andere Europäer auf.
Aber zu glauben, dass sowieso alles beim Alten bleibt, ist ebenfalls ein Trugschluss. Marktforscher zeigen, dass die Nachfrage nach ökologischen Produkten steigt, weil man damit eine gewisse Lebenshaltung zum Ausdruck bringt - und auch, dass man sich das leisten kann. Der Konsum hat sich verschoben: Laut Statistik Austria sind etwa seit 2005 die Ausgaben für neue Autos in Österreich real um 1,7 Prozent zurückgegangen, jene für Haushaltsgeräte und Heimtextilien noch viel deutlicher. Im Gegenzug gaben wir 2013 für audiovisuelle Geräte und EDV mehr als doppelt so viel aus wie 2005.
6,5 Mio. Fahrzeuge sind in Österreich zugelassen. Der Großteil davon sind PKW.
Und diese Digitalisierung eröffnet Möglichkeiten für neue Formen des Konsums. In ein paar Bereichen macht es das Internet schlicht leichter, weniger zu besitzen: Streamingdienste lösen CDs ab, Cloud Computing riesigen Speicherplatz am Rechner. Wer ein Abendkleid für nur einen Anlass braucht, kann es sich über ein paar Webdienste so unkompliziert ausborgen, wie es Männer beim Frack schon seit Jahren tun. Dasselbe gilt für Taschen und Schuhe, für Wohnungen von Privatpersonen oder für Autos, die man über Carsharingdienste eben nur dann mietet, wenn sie wirklich gebraucht werden.

CARSHARING. Die Autoverkäufe gehen in Europa und Österreich zurück, während Carsharing zunimmt. Das Beratungsunternehmen Roland Berger schätzt, dass derBereich Shared Mobility Wachstumsraten von 35 Prozent erreicht.
Der Fachbegriff für diese neue Konsumform ist Share Economy, bei der sich mehrere Menschen ein Produkt "teilen", je nachdem, wann sie es nutzen wollen (siehe Kasten). Eine große Anzahl an Apps und Onlineplattformen ermöglicht erstmals praktikable Modelle, viele von ihnen verdienen bereits Geld. "Bisher sieht es so aus, als würden dadurch einfach mehr Menschen Zugang zu bestimmten Produkten bekommen, die zu kaufen sich nicht auszahlt", sagt Mara Ewers, die am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln forscht.
Längerfristig könnte es durchaus sein, dass der Daimler-Konzern, der mit Car2Go im Carsharing aktiv ist, sich noch über dieses neue Geschäftsfeld freuen wird, wenn die Autoverkäufe tatsächlich weiter sinken.
Weniger Wachstum
Der Ökonom Niko Paech sieht es sowieso an der Zeit, dass Unternehmen damit beginnen, umzudenken und sich nach neuen Geschäftsmodellen umschauen. Für Paech führt kein Weg daran vorbei, Konsum und Produktion radikal zu überdenken: So viel wie bisher, das gehe einfach nicht mehr.
Weder die Umwelt würde das vertragen, noch das marode Finanzsystem, noch der von Arbeit und Konsum gestresste Mensch. Er fordert eine Rückkehr zu einem Niveau, das für alle ausreicht - und die Ressourcen schont.
1,4 Mio. Kühlschränke, Waschmaschinen und Geschirrspüler werden pro Jahr gekauft.
Sämtliche technischen Verbesserungen sind bisher im steigenden Konsum verpufft, der Energie-und Ressourcenverbrauch steigt trotz Umwelttechnologien. "Ja, die Wirtschaft wird schrumpfen", erklärt Paech im Interview, allerdings werde sie das sowieso. Wir müssten frühzeitig lernen, mit den Folgen - weniger Arbeit, weniger Geld, weniger Wohlstand im bisherigen Sinn - umzugehen. Wirtschaftsvertreter werden das als Pessimismus geißeln.
Wachstumskritiker wie Paech, der sehr konsequent nach seinen Grundsätzen lebt, kein Handy besitzt und auch keine Flugreisen unternimmt, finden momentan großen Zulauf. Von vielen Kollegen werden die Vorschläge einer freiwilligen Bescheidenheit der Wirtschaft aber als nicht durchführbar zurückgewiesen. Zu harsch wären die Übergangsphasen, so die Kritiker. Und zu schwer fällt es, den Konsum zu reduzieren. Denn noch ist selbst bewusster Verzicht auch nur eine Art des Konsums.