Exklusiv-Interview: Alan Greenspan: "Es ist unmöglich Blasen zu verhindern"
Der Maestro lässt auf sich warten. Zehn Minuten nach dem vereinbarten Termin taucht Alan Greenspans Assistentin aufgeregt im Vorzimmer auf. Dr. Greenspan sei crazy busy, ob man sich vielleicht etwas kürzer fassen könnte als ursprünglich ausgemacht? Der ehemalige Chef der US-Notenbank Federal Reserve wirkt eigentlich ganz entspannt, als er den Besuch in seinem halbrunden, holzvertäfelten Büro empfängt.

Wegen der Form nennt er es scherzhaft sein Oval Office. Auf den Bildschirmen am Schreibtisch flackern Zahlenkolonnen und Aktienkurse, auf Regalen, Ablagen und Fensterbänken türmen sich Aktenberge. Der 87-Jährige lässt keinen Zweifel aufkommen: Hier wird gearbeitet. Wegen des engeren Zeitplans verspricht Greenspan, nicht zu ausschweifend zu werden in seinen Antworten - sonst nicht sein größtes Talent. Er braucht nur noch ein Glas Cola, und dann kann es losgehen.
FORMAT: Herr Greenspan, wann haben Sie sich das letzte Mal irrational verhalten?
Alan Greenspan: (Lacht) Vor zehn Minuten?
Interessant. Was haben Sie vor zehn Minuten gemacht?
Greenspan: Das verrate ich Ihnen nicht. Aber Sie spielen sicher auf mein neues Buch an, in dem ich irrationales Verhalten von Menschen für die Finanzkrise verantwortlich mache. Dabei meine ich natürlich nicht irrationales Verhalten im Alltag, sondern irrationale Handlungen ausgelöst durch Panik, Euphorie oder Gier, die bei Marktteilnehmern zu suboptimalen Ergebnissen führen.
Sie haben immer an die gängigen, neoklassischen Wirtschaftsmodelle geglaubt. Diese Modelle basieren auf der Annahme, dass der Mensch ein Homo oeconomicus ist, der sich stets für die langfristig beste Alternative entscheidet. Sie gestehen in dem Buch ein, dass diese Annahme falsch war und die Wirtschaftswissenschaft deshalb unfähig ist, die Zukunft zu prognostizieren.
Greenspan: Das haben Sie ein wenig überspitzt formuliert. Ich muss da etwas ausholen. Unsere Marktwirtschaft beruht auf den klassischen, ökonomischen Modellen der großen britischen Ökonomen Adam Smith und Alfred Marshall. Deren Theorie basiert darauf, dass der Mensch zumindest langfristig in seinem eigenen, besten Interesse handelt. Auf Basis dieser Annahme erhält man ein reines Wirtschaftssystem, das sich selbst korrigiert, keiner äußerlichen Eingriffe bedarf und zum besten Marktergebnis führt. Die Frage ist nun, ob der Mensch wirklich ein Homo oeconomicus ist und in das Modell passt ...
... und in der Finanzkrise ist Ihnen klar geworden, dass der Mensch kein Homo oeconomicus ist?
Greenspan: Moment, lassen Sie mich ausreden. In großen Teilen ist der Mensch ein Homo oeconomicus. Andernfalls hätten wir diesen enormen Wohlstandszuwachs seit Anfang des 18. Jahrhunderts bis heute nicht vollbracht. Vor dieser Periode gab es ein Millennium der Stagnation. Erst mit der Aufklärung, dem Recht auf Eigentum und die Einführung unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems kam es zu den rasanten Verbesserungen der Lebensstandards in der Welt.
Sie hatten mir vor dem Interview versprochen, kurze Antworten geben.
Greenspan: Ach so, stimmt (lacht). Mein Punkt ist, dass der Kapitalismus uns zu unserem heutigen Wohlstand gebracht hat, weil die Menschen meist die für sie rational besten Entscheidungen getroffen haben. In den Phasen der Geschichte, in denen sie das nicht tun, kommt es zu Einbrüchen wie in der Finanzkrise im Jahr 2008. Würde der Mensch immer rational handelt, wäre unser Wohlstand heute viel höher. Selbst wenn die Irrationalität der Marktteilnehmer uns durchschnittlich pro Jahr nur einen halben Prozentpunkt Wachstum gekostet hätte, wären das in einem Zeitraum von 50 Jahren insgesamt Wachstum in Höhe von 25 Prozent der Wirtschaftsleistung, die wir verloren haben.
Und weil die Menschen nicht immer wie im Modell handeln, können Ökonomen keine Finanzkrisen vorhersagen und verhindern?
Greenspan: Bei der Vorhersage der Finanzkrise hat mein Modell, also das der amerikanischen Notenbank, der Federal Reserve, versagt. Das gilt aber auch für die Algorithmen der Banken, des Internationalen Währungsfonds und der anderen wesentliche Wirtschaftsorganisationen. In meinem Buch komme ich zu dem Schluss, dass wir bessere Ergebnisse erhalten, wenn wir versuchen, die irrationalen Handlungen der Menschen in unsere Modelle einzubauen. Eines muss allerdings klar sein: Ökonomen sind keine Wahrsager. Wir können auch nicht weiter schauen als bis zum Horizont.
Auch wenn die Märkte 2008 mit ihrer Selbstregulierung versagt haben, sprechen Sie sich gegen neue Regulierungen wie den amerikanischen Dodd-Frank Act aus. Wie passt das zusammen?
Greenspan: Der Dodd-Frank Act ist eine irrationale Reaktion der Politiker auf die irrationale Angst der Menschen vor einer weiteren Krise. Regulierung um der Regulierung Willen macht überhaupt keinen Sinn. Die neuen Gesetze treffen nicht den Kern der Probleme. Sie legen den Märkten nur nutzlose Ketten an, die zu weniger Wohlstand führen werden. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Mit dem Dodd-Frank Act wird der Derivatemarkt stark reguliert. Die große Mehrheit der Derivate sind jedoch Zins- und Währungsderivate. Die haben in der Finanzkrise aber zu keinem einzigen Zahlungsausfall geführt.
Gibt es auch neue Regulierungen des Finanzsektors, die Sie befürworten?
Greenspan: Absolut. Wir müssen die Banken dazu zwingen, ihre Risiken mit mehr Kapital abzusichern. Es wird immer zu Blasen kommen, eben weil Menschen manchmal falsche Entscheidungen treffen. Das können wir nicht verhindern. Was wir aber verhindern können, ist, dass es durch das Platzen einer solchen Blase zu Dominoreaktionen kommt, die sich dann zu einer Wirtschaftskrise ausweiten. Wir haben das bei den Börsencrashs von 1987 und der Dot-Com-Krise im Jahr 2000 gesehen. In beiden Fällen gab es keine Kettenreaktion, weil die Banken wenig Risiken in den betroffenen Anlageklassen hielten und die Verluste gut abfedern konnten. 2008, beim Zusammenbruch des Immobilienmarktes, war das anders. Da hielten die Banken und Versicherungen den Großteil der Risiken. Wäre ihr Kapitalpolster groß genug gewesen, hätten sie die Ausfälle dennoch aushalten können.
Sie waren von 1987 bis 2006 der Chef der Fed, der mächtigsten Zentralbank der Welt. Wieso haben Sie die Banken nicht zu höheren Kapitalrückstellungen gezwungen?
Greenspan: Sie überschätzen meine Kompetenz. Ich hatte nur eine Stimme im zwölfköpfigen Offenmarktausschuss der Fed. Vier Mitglieder des Ausschusses hätten gereicht, um mich abzuwählen. Ich konnte als Fed-Chef nicht machen, was ich wollte, sondern musste die Mehrheitsentscheidung des Komitees vertreten. Das wird in der Öffentlichkeit oft vergessen.
Nun ja, Sie haben sich nicht gerade reingehängt, die Banken zu mehr Kapital zu zwingen.
Greenspan: Doch, aber meine Meinung wurde von der Mehrheit meiner Kollegen nicht geteilt. Mir waren deswegen die Hände gebunden. Trotzdem war mir das Thema immer sehr wichtig. Als ich 1987 meinen Posten als Fed-Chef antrat, habe ich die zuständigen Experten gefragt: Wie legt ihr fest, was die optimale Menge an Kapitalrückstellungen ist? Niemand wusste eine Antwort. Es ist auch schwer zu beantworten.
Wie lautet Ihre Antwort heute?
Greenspan: Heute würde ich sagen, die Banken sollten eine Eigenkapitalquote von mindestens 20 Prozent halten müssen.
Es gibt eine Menge Experten auf der Welt, die Sie persönlich für die Finanzkrise verantwortlichen machen. Auch die offizielle Untersuchungskommission der US-Regierung schreibt Ihnen und den unter Ihnen umgesetzten Deregulierungen die Hauptschuld für die Krise zu.
Greenspan: Sehen Sie, in meiner Zeit als Fed-Chef wurde mir jahrelang gehuldigt, ich wurde gelobt für Dinge, die gar nicht mein Verdienst waren. Jetzt werde ich für Ereignisse zur Verantwortung gezogen, für die ich nichts konnte. So ist das Leben.
Sie standen 19 Jahre an der Spitze der Fed und wurden in dieser Zeit tatsächlich als Maestro oder Orakel verehrt. Wurmt es Sie nicht, dass Sie nun als der Mann in die Geschichtsbücher eingehen, der die Finanzkrise nicht verhindert hat?
Greenspan: Natürlich gefällt mir das nicht. Und ich bin der Meinung, dass mir da unrecht getan wird. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Ökonomen, die auf meiner Seite sind. So ist das eben in einer freien Gesellschaft. Man ist unterschiedlicher Meinung.
Neben der Deregulierung wird Ihnen auch Ihre jahrelange Niedrigzinspolitik vorgeworfen.
Greenspan: Ja, ja, ich weiß, der niedrige Leitzinssatz soll zur Immobilienblase geführt haben. Ich frage Sie, was hat die Blase ausgelöst?
Die niedrigen Zinsen machte Hypotheken günstig, das führte zur Blase am Häusermarkt und damit schließlich zur Finanzkrise.
Greenspan: Stimmt, aber das hat nichts mit dem Leitzins zu tun. Ich muss da etwas ausholen. Vor dem Fall der Berliner Mauer hatten die meisten Experten erwartet, dass der Lebensstandard in Ostdeutschland in etwa dem von Westdeutschland entspricht. Als der Eiserne Vorhang fiel, stellte sich diese Annahme als komplett falsch heraus. Der enorme Wohlstandsunterschied auf beiden Seiten der Mauer hat den Beweis erbracht, dass Kapitalismus besser funktioniert als Planwirtschaft. Das hat auch Schwellenländer wie China, Indien und Russland überzeugt, sich der Marktwirtschaft zuzuwenden. Die Einkommen schossen in die Höhe in diesen Ländern doppelt so schnell wie in den Industriestaaten. Es war plötzlich so viel Geld da, dass die Chinesen, Russen und Inder es gar nicht mehr alles ausgeben konnten. Stattdessen fingen sie an zu sparen.
Und drückten damit die weltweiten Zinssätze nach unten?
Greenspan: Richtig, und zwar die langfristigen Zinssätze. Schauen Sie sich die Zahlen an. Das Phänomen gab es nicht nur in den USA, sondern in fast allen anderen Industriestaaten außer Deutschland. Es sind die langfristigen Zinssätze, die den Immobilienmarkt beeinflussen. Man finanziert keine Apartmenthäuser auf der Basis eines Leitzinses, der ja letztlich bestimmt, zu welchem Zins sich Banken Geld über Nacht leihen. Man finanziert dieses Gebäude mit einem 20- oder 30-jährigen Kredit.
Hätten Sie nicht trotzdem versuchen sollen, den Leitzins früher anzuheben, um die langfristigen Zinsen zu beeinflussen?
Greenspan: Durch den Boom in den Schwellenländern haben sich die langfristigen Zinsen von den kurzfristigen Zinsen abgekoppelt. Als wir 2004 angefangen haben, den Leitzins anzuheben, sind die langfristigen Zinsen trotzdem weiter gesunken. Wir konnten nichts tun.
Glauben Sie, eine Finanzkrise wie die im Jahr 2008 könnte wieder passieren?
Greenspan: Absolut, gar keine Frage.
Wir sind also kein Stück besser auf eine solche Situation vorbereitet?
Greenspan: Bei der Arbeit an meinem Buch habe ich eines erkannt: Es ist immer gefährlich, wenn eine Zentralbank über einen sehr langen Zeitraum erfolgreich ist. Weil die Politik der Fed so gut war, hat die US-Konjunktur in den Jahren 1983 bis 2008 keine echte Schwäche gezeigt. Natürlich glauben die Menschen dann irgendwann, dass es immer so weiter geht. Sie nehmen mehr und mehr Risiken in Kauf, es bildet sich eine Blase. Es ist unmöglich, das zu verhindern. Blasen liegen in der Natur des Menschen.
Aber eine höhere Kapitaldecke der Banken könnte verhindern, dass aus solch einer Blase eine Weltwirtschaftskrise wird?
Greenspan: Ja, das glaube ich zumindest. Allerdings gibt es unterschiedliche Meinungen dazu, wie hoch die Kapitaldecke sein soll. Wenn Sie 100 Ökonomen in einen Raum sperren und befragen, werden Sie sehr viele verschiedene Antworten bekommen.
Sich zu einigen scheint auch für die Politiker in Ihrem Land ein großes Problem zu sein. Der Streit zwischen Demokraten und Republikanern hat die USA im Oktober beinahe in die Zahlungsunfähigkeit getrieben.
Greenspan: Unsere politische Klasse ist dysfunktional, weil sie die Fähigkeit verloren hat, Kompromisse zu schließen. Als ich in den 60er Jahren in das politische Washington eingeführt wurde, war ich zu einem Abendessen von Katharine Graham, der damaligen Verlegerin der Washington Post, eingeladen. Bei solchen Abendessen war der Tisch damals zu 50 Prozent mit Demokraten und zu 50 Prozent mit Republikanern besetzt. Heute finden Sie meistens eine 95-zu-5-Prozent-Verteilung: Entweder sind fast nur Republikaner dabei oder fast nur Demokraten. Ich halte diese Entwicklung für sehr gefährlich. Wenn sich die Politiker nicht die Hände reichen, riskieren sie unsere Vormachtstellung als dominierende wirtschaftliche Kraft in der Welt.
Konkret ging es bei dem aktuellen Streit um die Abschaffung der Schuldenobergrenze. Was ist Ihre Meinung dazu?
Greenspan: Die Schuldenobergrenze gehört abgeschafft, eindeutig. Sie ist ein veraltetes, fiskalisches Instrument, das aus dem Ersten Weltkrieg stammt. Vor Einführung der Schuldengrenze musste der Präsident den Kongress bei jeder Ausgabenerhöhung um Erlaubnis fragen - das war im Krieg nicht praktikabel. Dementsprechend war also ursprünglich als Mittel gedacht, die Ausgaben zu erhöhen. Heute hat das Instrument eine vollkommen zweckentfremdete Wirkung. Es sollte der Mehrheit des Kongresses überlassen bleiben, wie viel Schulden das Land macht und nicht einem Gesetz.
Amerikas Staatsverschuldung ist kein Problem?
Greenspan: Natürlich muss die Regierung die Überschuldung in den Griff bekommen - sonst ist die wirtschaftliche Zukunft dieses Landes in Gefahr.
Fürchten Sie auch, der Dollar könne seine Stellung als wichtigste Leitwährung verlieren?
Greenspan: Die hohe Verschuldung der USA wirkt sich natürlich negativ auf das Vertrauen in den Dollar aus. Bislang sehe ich allerdings nicht, welche Währung den Dollar ersetzen könnte. China hat als Wirtschaftsmacht großes Potenzial, der chinesische Renminbi ist jedoch viel zu unflexibel, um als Leitwährung zu taugen. Tja, und der Euro steht im Moment auch nicht sehr gut da.
Sie sagen, die USA müssen dringend mehr sparen, um wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Der Internationale Währungsfonds warnt dagegen, dass zu viel Sparen in den USA oder Europa das Wachstum gefährdet.
Greenspan: Hm (verdreht die Augen).
Sie sehen so aus, als hielten Sie nicht viel von dieser Ansicht.
Greenspan: Wenn man den Reformdruck auf Länder in Schwierigkeiten plötzlich senkt, kann das zu extremer Inflation führen. Dieses Phänomen kennen wir aus Argentinien, Brasilien, Mexiko und auch von der Hyperinflation in der Weimarer Republik. Gerät eine solche Situation einmal außer Kontrolle, ist der Währungsverfall kaum noch zu stoppen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch ein Phänomen, das wir Austerity Fatigue nennen. Wenn das Spardiktat zu hart ist, kann die Wut der Bürger darüber zu Ausschreitungen und Extremismus führen. Die Frage ist, wie weit man mit der Sparpolitik gehen kann.
Und wie lautet die Antwort?
Greenspan: Das kann man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Wir befinden uns in einem Prozess. Daher stelle ich auch die Meinung des IWF infrage. Weil es keine klare Antwort gibt.
Wird der Euro überleben?
Greenspan: Der Euro ist nur mit einer politischen Union zu retten. Ich glaube nicht, dass ein gemeinsamer Wirtschafts- und Währungsraum auf Dauer funktionieren kann, wenn er aus 17 Ländern mit 17 unterschiedlichen Sozialsystemen besteht. Denn ein Land, das keine Kontrolle über sein eigenes Budget hat, kann kein Sozialstaat sein. Die Euro-Zone brauche eine vollständige politische Union, entweder von allen Staaten oder nur von einem Kerneuropa. Das ist der einzige Weg, wenn die Euro-Zone nicht auseinanderfliegen soll.
Bis zur Finanzkrise hat der gemeinsame Wirtschafts- und Währungsraum souveräner Nationalstaaten gut funktioniert.
Greenspan: Das schien zumindest so. Aber mit der Finanzkrise wurden die kulturellen Unterschiede der Länder wieder deutlich. Die Zinsen auf Staatsanleihen der südlichen Staaten schossen in die Höhe während die von Deutschland und einigen anderen Ländern wie den Niederlanden, Österreich und Finnland niedrig und stabil blieben. Die deutsche Bundesbank ist der größte Kreditgeber der Euro-Zone. Die anderen Zentralbanken der Mitgliedsstaaten stehen bei der Bundesbank mit 570 Milliarden Euro in der Kreide. Sie erwarten, dass Deutschland alles bezahlt. Daran sehen Sie, dass das System nicht besonders gut funktioniert. Es besteht kein Gleichgewicht.
Dass die EU-Länder ihre Unabhängigkeit aufgeben und eine politische Einheit formen, erscheint nicht gerade realistisch.
Greenspan: Ich wäre begeistert, wenn es in Europa zu einer politischen Union kommen würde. Aber Sie haben recht, ich bin auch skeptisch. Die deutsch-deutsche Wiedervereinigung zeigt, wie schwer selbst in einem gemeinsamen Staat die kulturelle Angleichung ist. 23 Jahre nach dem Mauerfall sind Ost- und Westdeutschland immer noch nicht in einem wirtschaftlichen Gleichgewicht. Wir schreiben das Jahr 2013, und Sie zahlen immer noch den Solidaritätszuschlag! Mit einer politischen Union wird die Angleichung der Unterschiede in Europa schwierig. Ohne eine politische Union halte ich sie dagegen für fast unmöglich.
Deutschland drängt auf eine Bankenunion, die die Finanzregulierung von der nationalen auf die europäische Ebene hebt. Halten Sie das für sinnvoll?
Greenspan: Natürlich, wenn man auf eine politische Union zusteuert, ist eine Bankenunion ein logischer erster Schritt dorthin.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Ausland für ihre Eurokrisenpolitik viel Kritik einstecken müssen. Mögen Sie Angela Merkel?
Greenspan: Und wie, ich bin ein Merkel-Fan. Das erste Mal hab ich sie vor vielen Jahren getroffen, als sie noch Oppositionsführerin war. Sie besuchte mich in Washington in meinem Büro in der Fed. Eigentlich hätten wir natürlich über Wirtschaft und Politik reden sollen. Stattdessen haben wir uns über Nuklearphysik verquatscht.
Im Ernst?
Greenspan: (Lacht) Ja, wir haben über Lise Meitner gesprochen. Die österreichische Kernphysikerin lieferte die erste physikalisch-theoretische Erklärung für die Kernspaltung. Ihre Arbeit war die Grundlage für das Manhattan Project jenem Geheimprojekt, bei dem die USA während des Zweiten Weltkrieges die Atombombe entwickelt haben. Merkel wusste exzellent Bescheid. Seit jeher kommen wir sehr gut miteinander aus. Ich halte sie für eine ganz besondere Frau.
Sie sind jetzt 87 Jahre alt ...
Greenspan: ... ich fühle mich aber keinen Tag älter als 85, ehrlich (grinst).
Na dann. Eigentlich wollte ich fragen, ob dieses Buch Ihr Vermächtnis ist oder ob Sie schon am nächsten Projekt arbeiten.
Greenspan: Für den Ruhestand habe ich keine Zeit. Mein Buch lässt so viele Fragen offen, die ich noch beantworten will. In diesem Buch ging das zeitlich nicht. Mein Verlag hing mir wegen der Abgabe im Nacken und wollte das Manuskript haben.
Also planen Sie, ein weiteres Buch zu schreiben?
Greenspan: Ich bin schon dabei.