Andreas Treichl: "Europa hat schon lange Pause"

Der neue Präsident des Forums Alpbach, Andreas Treichl, möchte mehr europäischen Thinktank und weniger alpines Networking-Treffen. Er sagt, warum Europa seit 20 Jahren zurückfällt und was dagegen getan werden muss. Treichl fordert eine Kapitalmarktunion und rät zur Vorsicht in der Green-Tech-Euphorie.

Andreas Treichl, Präsident European Forum Alpbach

Andreas Treichl, Präsident European Forum Alpbach

trend: Woran erkennt man das erste Forum Alpbach der "Marke Treichl"?

Andreas Treichl: Ich glaube nicht, dass man ein Forum "Marke Treichl" erkennt. Das Neue ergibt sich aus der Situation, in der wir sind: das zweite Forum in der Coronakrise und das erste wirklich hybride. Das heißt, ein Großteil der Veranstaltungen wird analog und digital sein. Und wie man an der Herkunft meiner Vizepräsidentinnen sieht, wird das Forum europäischer sein. Dazu kommen die ersten zarten Versuche einer Verknüpfung von Seminarwoche mit dem Symposium.

Soll das Forum Alpbach stärker als in der Vergangenheit am Ende wie ein Thinktank Empfehlungen an die europäische Politik aussprechen?
Ja, das wollen wir. Meine Pläne sehen vor, dass auch die Gäste, die sich in den letzten Jahren stark aus Österreich rekrutiert haben, europäischer werden. Ich habe mit Florence Gaub, Katarzyna Pisarska und Katja Gentinetta Frankreich, Polen und die Schweiz im Präsidium, um das zu forcieren. Zum Leidwesen vieler werden wir das Forum dieses Jahr in Englisch abhalten.

Also insgesamt weniger österreichisches Networking?
Ich bin mir bewusst, dass wir mit diesem Schritt viele Leute verärgern werden, weil Alpbach traditionell zu einem österreichischen Branchentreffen mit internationaler Beimischung geworden ist. Aber wenn wir das beibehalten, werden wir nicht den Schritt gehen können, aus Alpbach ein Forum zu machen, das mit der jungen Generation, der Wissenschaft, der Politik und der Wirtschaft interdisziplinär darüber spricht, wie Europa zurück auf den Erfolgsweg zu bringen ist. Europas Erfolgsweg hat ja schon eine ziemlich lange Pause eingelegt.


Die Zusammenarbeit zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ist mangelhaft und muss wesentlich stärker werden.

Das Generalthema dieses Jahres ist von Karl Polanyis "Great Transformation" abgeleitet. Ist dessen Analyse der Verselbstständigung der Marktwirtschaft im 19. Jahrhundert heute noch etwas abzugewinnen?
Meine Generalansicht ist: Wenn wir aus einer gewaltigen Krise heraus eine große Transformation erleben wollen, ohne in eine große Katastrophe zu schlittern, dann müssen wir uns bewusst werden, dass die Zusammenarbeit zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft mangelhaft ist und wesentlich stärker werden muss. Das angesprochene Alpbach-Thema wurde noch vor meiner Zeit erfunden. Ich bin überzeugt, der Fokus auf das Thema Europa wird stark genug sein, um künftig keinen Untertitel mehr zu benötigen.

Ihnen persönlich fehlt bei dieser Transformation sehr schmerzlich die Kapitalmarktunion, oder?
Das ist ein Thema, mit dem ich mich stark auseinandersetze, steht aber nur sehr beispielhaft für notwendige Lösungen, damit Europa wieder einen erfolgreichen Weg einschlagen kann. Die Jugend in Europa und der Welt macht starken Druck, das Thema Umwelt in den Mittelpunkt zu stellen. Das ist sicherlich das wichtigste. Aber aus europäischer Sicht müssen wir einiges dringend lösen, das nicht diese emotionale Komponente hat wie Umwelt, sondern sehr technisch ist: wie die Kapitalmarktunion, die Datenunion, die Pensionsvorsorge, die Attraktivität Europas als Arbeitsplatz, die Demografie, das Problem des drohenden Ungleichgewichts im Bildungsangebot. Europa muss realisieren, dass es für all dies nicht nur Staatskapital, sondern auch privates Kapital braucht.

Beim Kapitalmarkt geht's vor allem darum, dass für die neuen digitalen Industrien eine andere Art der Finanzierung nötig ist, um Europa voranzubringen?
Wir haben kein gutes Gleichgewicht zwischen dem Kapital- und dem Finanzmarkt. Dieses Ungleichgewicht trifft uns in allen neuen Industrien umso härter, weil diese viel weniger materielle Werte haben, die sich bei Kreditfinanzierungen für Banksicherheiten eignen, etwa Anlagen oder Maschinen. Der Schatz der neuen Industrien sind ja Daten und andere immaterielle Werte. Das lässt sich über den Kapitalmarkt viel leichter finanzieren. Auch sollte uns zu denken geben, dass es in Europa zwei Länder mit ausgeprägtem Kapitalmarkt gibt: die Schweiz und Großbritannien. Beide sind nicht Mitglied der Union.


Das langfristige Investieren in hochqualitative industrielle Werte ist etwas ganz anderes als das Zocken an der Börse.

Ist die Kapitalmarktschwäche der Grund, warum Europa in den letzten Jahrzehnten nicht vom Fleck gekommen ist?
Sicherlich ein Grund - der mit zwei anderen Gründen zusammenhängt. Zum einen haben wir in Europa weniger unternehmerisches Denken als in anderen Kontinenten und damit verbunden keine wirkliche Kultur des Scheiterns. Zum andern wurden von der Politik viele Jahrzehnte lang die Nachhaltigkeit und die Werthaltigkeit von Familienunternehmen betont, während man börsennotierte Gesellschaften, weil von Investoren abhängig, als kurzfristige Gewinnoptimierer dargestellt hat. Die Anerkennung gilt dem guten Familienunternehmen, das nicht dem Druck der Finanzinvestoren ausgesetzt ist und deshalb im politischen Sinn nachhaltiger agieren kann. Doch 95 Prozent der wirklich großen Unternehmen dieser Welt sind eben einmal börsennotiert. Apple, Google und Amazon würde es ohne Börse nicht geben.

Hängt das mit der latenten Ablehnung des Spekulantentums in Europa zusammen?
Das langfristige Investieren in hochqualitative industrielle Werte ist etwas ganz anderes als das Zocken an der Börse. Es ist da eine massive Vereinfachung in der politischen Diktion passiert, selbst bei Finanzministern der CDU/CSU. Das hat breitesten Schaden angerichtet und dazu geführt, dass bei vielen Menschen unfassbar viel Vermögen verloren gegangen ist: im breiten Mittelstand und in den Pensionskassen, wo man fast ausschließlich auf Zinswerte setzte.

Hat Europa vor diesen Hintergründen überhaupt noch eine Chance, oder können wir uns in der digitalen Wirtschaft ohnehin nur mehr auf Nischen konzentrieren?
Jetzt in eine Depression zu verfallen, wäre ganz falsch. Europa hat es nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb von 20 Jahren geschafft, in allen Industrien aufzuholen. In der Luftfahrtindustrie ist es sogar gelungen, in einer sehr guten Mischung von privater und Staatskapitalfinanzierung mit Airbus den einzigen nachhaltigen Konkurrenten zu Boeing aufzubauen. Warum sollen also in einer der neuen Industrien nicht auch Konzerne wie Apple, Google oder Microsoft entstehen? Wir haben alle Chancen dieser Welt, wenn wir uns bewusst werden, dass es zehn Millionen Firmengründungen geben muss, um ein Apple hervorzubringen. Deshalb müssen wir überlegen, wie wir junge Talente und Unternehmer in Europa halten und wie wir verhindern, dass ab den Serie-B-Finanzierungen bei Start-ups die Investoren von überall herkommen, nur nicht aus Europa.


Es kann nicht im Interesse irgendeines europäischen Staates sein, dass wir amerikanischen oder asiatischen Anbietern abhängig sind.

Braucht es eine politische Willensbildung, in welchen Schlüsselindustrien man europäische Champions haben will - wie damals bei Airbus?
Ja, und das geschieht eben nicht. Man muss gar keine Konfliktsituation zwischen Rechtskonservativen und Linksliberalen beschwören, um festzustellen: Es kann nicht im Interesse irgendeines europäischen Staates sein, egal welche politische Orientierung die Regierung hat, dass wir in den nächsten 50 Jahren in den neuen Industrien weiterhin von amerikanischen oder asiatischen Anbietern abhängig sind. Um unsere eigenen Industrien aufzubauen, müssen wir aber die Schwächen in unserer Wirtschaftsunion radikal schnell entfernen. Dazu gilt es unfassbar viele juristische Details zu regeln, das erfordert viel Arbeit. Aber diese Arbeit bringt keiner nationalstaatlichen politischen Partei Wählerstimmen - und darum geht sie niemand an.


Neben der Digitalisierung ist der Kampf gegen den Klimawandel die zweite große Transformation. Sollte Europa da vorangehen, wie das die EU plant?

Zunächst ist zu hoffen, dass es wirklich zu einer europäischen Lösung kommt. Und dann muss uns bewusst sein, dass Europa alleine die Umwelt nicht retten kann. Natürlich muss die Politik Prioritäten setzen. Wenn die Umwelt die oberste Priorität hat, hat das Konsequenzen für andere Prioritäten, die uns ebenfalls wichtig sind: wie Vollbeschäftigung, Arbeitsplätze oder Wirtschaftskreislauf. Wir erleben diesen Konflikt schon bei der E-Mobilität. Stichwort: Die ruinieren die deutsche Automobilindustrie ...

... und die österreichischen Autozulieferer.
Das eben ist das Problem. Wenn Europa sagt: "Wir wollen vorangehen und führend sein", muss sich Europa der Konsequenzen bewusst sein. Es ist großartig, wenn die ganze Welt dann drauf aufspringt. Manchmal ist es aber auch so, dass die anderen, die sich länger Zeit lassen, einen wirtschaftlichen Vorteil daraus ziehen. Dieses Dilemma ist sehr schwer zu lösen.


Grundsätzlich bin ich für eine nationale Hoheit in der Steuerpolitik. Aber Maßnahmen, die global Steuergerechtigkeit herstellen, sind wichtig.

Wir hören heraus, dass Sie es für keine sehr zielführende Idee halten, alleine vorzupreschen - auch wenn Europa vielleicht die Chance hätte, sich technologische Vorteile zu schaffen?
Stimmt nicht. Ich hätte ein großes Problem, wenn Europa alleine in der Regulierung die weltweite Vorherrschaft übernimmt. Da brauchen wir uns ohnehin keine Sorgen machen, da haben wir die Goldmedaille schon in der Tasche. Wenn wir in der Regulierung und in der Technologie gleichzeitig vorangehen, und das mit großer Konsequenz, dann muss sich die Politik überlegen, wie sie abfedert: soziale Härten zum Beispiel. Wenn mir meine Tochter mit 15 sagt, sie möchte mit 23 die Nummer eins der Tenniswelt sein, aber weiter ihre Freunde behalten und viel Eis essen, dann werde ich sagen: Das geht nicht. Wenn wir die Nummer eins der Welt in Green Tech werden wollen, dann wird das zu Lasten anderer sehr wichtiger Zielsetzungen gehen.

Werden die Amerikaner und Chinesen irgendwann auch mitziehen oder wird Klimaschutz dort ein Randthema bleiben?
In dieser Hinsicht würde ich Amerika und China nicht in einen Topf werfen. Wenn wir China punkto Umwelt anschauen, dann passiert beides: China baut viel Solar- und Windenergie, aber auch weitere Kohlekraftwerke. Die amerikanische Finanzwirtschaft ist hingegen im Hinblick auf ESG (Environment, Social, Governance, Anm.) ein Vorreiter bei den Anforderungen an Firmen, in die sie investieren. Die Fondsindustrie der USA - zum Beispiel BlackRock - spielt in der ESG-Thematik eine Vorreiterrolle.

Im Zuge dieser Transformationen wird die Frage der Vermögensverteilung, der Arm-Reich-Schere, noch heftiger gestellt werden. Wie beurteilen Sie die bisherigen Fortschritte, etwa einer globalen Minimum-Gewinnsteuer für Konzerne?
Ich kann dem sehr viel abgewinnen. Man muss die Steuerpolitik an die wirtschaftlichen Zustände angleichen. Grundsätzlich bin ich für eine nationale Hoheit in der Steuerpolitik. Aber Maßnahmen, die global Steuergerechtigkeit herstellen, sind wichtig. Es ist falsch, dass weltweit agierende Konglomerate durch die Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen, weniger Steuern zahlen als national tätige Klein- und Mittelbetriebe. Da bin ich total dafür, dass man das mit allen Mitteln bekämpft. Das gilt auch für große Privatvermögen. Bei denen passiert da nichts, aber die Einkommensbezieher werden geschröpft. Das ist eines der wirklichen Probleme, die wir haben. Man braucht immer mehr Vermögen, um sich zusätzliches Vermögen schaffen zu können. Das bringt uns zurück an den Anfang: Wer in den letzten 20 Jahren viel in Aktien oder Immobilien investierte, hat unfassbar viel Geld gemacht - und in vielen Ländern oft auch noch Konstruktionen gefunden, um Steuerzahlungen zu vermeiden. Wer hingegen in Spareinlagen, Bausparverträge und Lebensversicherungen investiert hat, hat nichts verdient. Diese Schere wird man irgendwann schließen müssen. Aber das ist nicht national zu lösen. Wenn Österreich sagt: "Wir fahren da jetzt hinein und machen eine Vermögens- und Erbschaftssteuer", wird es garantiert viele Leute erwischen - aber nicht die, die es erwischen soll. Es braucht eine globale Anstrengung für Vermögenssteuern.


Es braucht eine globale Anstrengung für Vermögenssteuern.

Privates Kapital könnte auch für gesellschaftliche Zwecke, zum Beispiel Bildung, nutzbar gemacht werden. Wir kann Europa das besser bewerkstelligen?
Die Politik kann das massiv durch steuerliche Erleichterungen unterstützen, macht sie in vielen Ländern, in Österreich leider sehr wenig. Wir werden keine Stiftungen von 30 Milliarden Euro plus zusammenbringen, aber es wäre schön, würde man öffentlich-rechtlichen Universitäten einen Zugang zu privatem Kapital ermöglichen.

Passend zu der trend-Umfrage zum Thema Klimaschutz und der Bereitschaft, selbst etwas dafür zu tun zum Abschluss die Frage: Sind Sie persönlich bereit, für nachhaltigere Produkte mehr auszugeben bzw. Ihren Lebensstil zu ändern?
Ich könnte wesentlich disziplinierter sein, als ich bin, glaube aber, dass mein Lebensstil Jahr für Jahr grüner wird. Meine Kinder sind da trotzdem deutlich disziplinierter. Jedenfalls bin ich gerne bereit, mehr auszugeben, weil ich finanziell dazu auch in der Lage bin.

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