Andreas Peichl: "Ungleichheit ist notwendig"
Eine brisante Studie beleuchtet die Ursachen für ungleiche Einkommen. Andreas Peichl, Co-Autor der Studie und Volkswirtschaftsprofessor erklärt im trend-Interview, ab wann Einkommensunterschiede unfair sind und was er unter "fairer Ungleichheit" versteht.
Andreas Peichl: "Ungleichheit ist gerecht, wenn sie auf eigene Entscheidung oder Anstrengung zurückzuführen ist."
trend:
Was hat Sie auf die Idee gebracht, das Thema "unfaire Ungleichheit" zum Gegenstand Ihrer Forschung zu machen?
Andreas Peichl:
In der philosophischen Literatur beschäftigt man sich schon länger mit dem Thema der Verteilungsgerechtigkeit, und spätestens seit John Rawls und Amartya Sen, der dafür ja auch den Wirtschaftsnobelpreis erhalten hat, interessiert das Thema auch Ökonomen. Bisher wurde aber immer nur Ungleichheit an sich gemessen, ohne hier näher die Ursachen zu differenzieren. Nehmen wir beispielsweise die Armutsliteratur. Die sagt, Armut ist schlecht, daher wollen wir sie bekämpfen. Das war uns aber zu kurz gegriffen.
trend:
Politisch ist ihr Ansatz ja höchst brisant. Wenn Sie über unfaire Ungleichheit bei den Einkommen forschen, dann impliziert das doch, dass es auch so etwas wie faire Ungleichheit gibt.
Peichl:
Ja.
Es muss die Chance geben, dass man ein höheres Einkommen durch eigene Anstrengung erzielen kann.
trend:
Aber was bedeutet denn das? Ist Ungleichheit nötig?
Peichl:
Ich glaube schon, dass Ungleichheit notwendig ist. Wir haben ja im real existierenden Sozialismus gesehen, in dem es eine relativ hohe Gleichheit bei den Einkommen gab, wohin das führt. In einer Marktwirtschaft muss es die Chance geben, dass man ein höheres Einkommen durch eigene Anstrengung erzielen kann, durch Innovation, durch Ideen, durch Leistung. Das ist ganz entscheidend, damit das System funktioniert. Platt ausgedrückt: Wir brauchen in der Marktwirtschaft die Chance, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden, wenn man nur hart genug arbeitet.
trend:
Wann ist Ungleichheit dann aber unfair?
Peichl:
Wir kombinieren da zwei verschiedene Ansätze. Der eine betrifft die Armut. Wenn man unter einer Armutsschwelle lebt, dann ist das nicht fair, das können wir als Gesellschaft nicht wollen. Eine Einkommensverteilung kann also nie fair sein, solang es Armut gibt. Und das andere ist die Frage, wie die Einkommensunterschiede zustande kommen. Wir folgen da dem Konzept der "Equality of Opportunity" (Chancengerechtigkeit, Anm.). Die Idee: "Gerecht" ist eine Ungleichheit, wenn sie auf eigene Entscheidung oder Anstrengung zurückzuführen ist. "Ungerecht" ist eine Ungleichheit, wenn sie auf etwas zurückzuführen ist, wofür man nichts kann, also Elternhaus, Geschlecht, Hautfarbe. Wenn ich nur deshalb viel verdiene, weil ich ein weißer Mann bin, ist das unfair, wenn ich viel verdiene, weil ich lang und hart arbeite, ist das fair.
trend:
Wann gilt man in Ihrem Modell als "arm"?
Peichl:
Da übernehmen wir die in Europa übliche Definition, die ein relatives Armutsmaß für die Armutsgefährdungsschwelle formuliert. Armutsgefährdet ist demnach, wer über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verfügt.

Die gesamte Ungleichheit eines Landes setzt sich aus unfairen Faktoren (rote Balken) und fairen Faktoren (grüne Balken) zusammen. Die nach oben offene Skala spiegelt die Ergebnisse des CESifo-Modells wider. | Für eine vergrößerte Darstellung auf die Abbildung klicken.
trend:
Wenn eine Einkommensverteilung in Ihrem Modell wegen "unfairer" Chancenverteilung als unfair erkannt wurde - wie stellen Sie das fest, und welche Schlüsse sind daraus zu ziehen?
Peichl:
Hier geht es um Merkmale, die von den Betroffenen nicht geändert werden können, zum Beispiel Geschlecht, Herkunft, ethnischer Hintergrund. Nehmen wir etwa die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen. Hier kann man Diskriminierung verbieten, Entgelttransparenz per Gesetz fordern. Wir haben da schon Anfragen von Unternehmen bekommen, sie in dieser Problematik zu beraten. Die letzte Möglichkeit ist dann immer, dass der Staat durch Umverteilung einschreitet. Also: Männer verdienen soundsoviel mehr als Frauen, daher müssen sie eben umso mehr Steuern zahlen. Was in diesem konkreten Fall wegen des Gleichheitsgrundsatzes juristisch aber nicht möglich wäre. Da ist es schon manchmal so, dass die Politik, die daraus folgen würde, mit dem bestehenden Rechtssystem kollidiert.
Man darf nicht sagen, Ungleichheit per se sei schlecht.
trend:
Welchen Einfluss haben sogenannte "Reiche" auf Ihr Konzept der unfairen Ungleichheit? Wenn es mehr Reiche gibt, dann zieht das doch den Median mit, die Grenze für unfaire Ungleichheit wird damit nach oben verschoben. Es gelten dann also Menschen als "arm", die es bei gleichem Einkommen vorher nicht gewesen wären.
Peichl:
Wenn das den Median nach oben verschiebt, dann trifft das zu. Das ist eben eine Folge der relativen Betrachtung der Armutsgefährdung. Da muss man schauen, ob das den Median verschoben hat oder ob Menschen tatsächlich weniger verdienen.
trend:
Heftig diskutiert wird immer wieder die Höhe der Vorstandsgehälter. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich liegen diese ungefähr beim Fünfzigfachen des Medianeinkommens. Lässt sich das Konzept der "Unfair Inequality" auch auf Entlohnungssysteme zum Beispiel in börsennotierten Unternehmen anwenden?
Peichl:
Ja, natürlich. In der Theorie, die wir entwickelt haben, und wir diskutieren das auch in dem Paper, könnte man als weiteres Element zusätzlich zur Armutsgrenze auch eine "Reichtumsgrenze" einführen. Zum Beispiel, wenn jemand, der mehr als das Zehnfache des Mittelwerts oder das 50-Fache verdient, das sei dann eine Reichtumsgrenze. Entscheidend ist in unserem Modell aber immer, dass derjenige, der die Rechnung macht, Werturteile treffen und diese offenlegen muss. Und nicht sagen darf, Ungleichheit per se sei schlecht.

Andreas Peichl: "Man kann fast jeden beliebigen Zusammenhang herbeirechnen."
trend:
Aber widerspricht das nicht diversen Studien, zum Beispiel jenen der OECD, die immer wieder behaupten, größere Einkommensungleichheit sei schlecht für Wachstum und Produktivitätsfortschritt? In Ihrer Arbeit über "Unfair Inequality" untersuchen Sie ja auch die USA und kommen zu dem Schluss, dass dort die "unfaire" Ungleichheit zugenommen hat. Aber gerade die USA schlagen das "fairere" Europa beim Wirtschaftswachstum. Irgendwie passt das nicht zusammen.
Peichl:
Stimmt, dazu gibt es tatsächlich von der OECD verschiedene Studien. Ich habe da zu einer, die vor etwa drei Jahren erschienen ist, gesagt, wenn das bei mir eine Bachelorarbeit gewesen wäre, dann wäre der Autor durchgefallen. Wie entstehen solche Ergebnisse? Man schaut sich die Ungleichheit in Deutschland, Frankreich und so weiter an und vergleicht sie mit dem Wachstum. Aus Länderstudien kann man aber keinen kausalen Zusammenhang ableiten. Daher muss man bestimmte statistische Methoden anwenden, und da wiederum gibt es Untersuchungen, die zeigen: Man kann fast jeden beliebigen Zusammenhang herbeirechnen, abhängig davon, welche Methode man anwendet.
trend:
Es besteht also kein Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wirtschaftswachstum?
Peichl:
Die Frage ist doch immer: Was führt zu einer Veränderung der Ungleichheit oder zu einer Veränderung des Wachstums? Nehmen wird zum Beispiel Politikreformen. In Schweden wurden die Steuern auf Kapitaleinkünfte gesenkt, das hat die Ungleichheit erhöht. Mehr Investitionen haben aber zu mehr Wirtschaftswachstum geführt. In diesem Fall hieß das also: größere Ungleichheit, höheres Wachstum - eine positive Korrelation. In Mexiko wurde eine Bildungsreform auf den Weg gebracht, das hat die Ungleichheit gesenkt, und ebenfalls zu mehr Wachstum geführt - also eine negative Korrelation zwischen Einkommens-Ungleichheit und Wachstum.
trend:
Was schließen wir daraus?
Peichl:
Ganz einfach: Einen kausalen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wirtschaftswachstum zu messen, ist schwierig bis unmöglich.
Download
CESifo Working Papers: "Measuring Unfair Inequality"

CESifo Working Paper "Measuring Unfair Inequality". Zum Download bitte auf die Abbildung klicken.
Autoren:
- Paul Hufe, Mitarbeiter des ifo Instituts -Leibniz Institute for Economic Research, Universität München
- Ravi Kanbur, Professor am Department of Economics, Cornell University, USA
- Andreas Peichl (Corresponding Author), ifo Institut, Professor am Leibniz Institute for Economic Research, Universität München
Zur Person
Andreas Peichl ist Bereichsleiter Makroökonomik und Befragungen mit einer Professur für Volkswirtschaftslehre, insbes. Makroökonomie und Finanzwissenschaft an der Volkswirtschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Leiter des ifo Zentrums für Makroökonomik und Befragungen.
Das Interview ist der trend-Ausgabe 30 + 31/2018 vom 27.7.2018 entnommen.