Silicon Valley: Im Technologie-Mekka bricht der Klassenkampf aus
Benito Santiago war nie ein großer Kämpfer. Als Kind philippinischer Einwanderer in San Francisco gehörte er immer zu den Schmächtigsten in seinem Freundeskreis, ließ er sich von anderen verteidigen. Auch als Erwachsener sei er Konflikten gern aus dem Weg gegangen. Das ist jetzt anders. Mit 63 Jahren ist er zum Rebellen geworden.

Heiß knallt die kalifornische Mittagssonne auf den Google Campus in Mountain View. Trotzdem ist Santiago mit 50 anderen Demonstranten zur Google-Zentrale gereist. Er schlägt wütend auf die Bongotrommel ein. Neben ihm springt eine Frau mit wilden Locken, Tattoos und Piercings wie ein Rumpelstilzchen auf und ab. Erin McElroy ist die Organisatorin des Protests. Sie schreit: "Google, Du kannst dich nicht verstecken, wir sehen Deine dunkle Seite."
Santiago ist einer von Hunderten Einwohnern in San Francisco, die in den vergangenen Monaten einen Räumungsbefehl bekommen haben. Sein Vermieter will die Mietwohnung renovieren und verkaufen. 500.000 Dollar soll jedes der 55-Quadratmeter-Apartments in seinem Haus einbringen. In Innenstadtnähe kostet der Quadratmeter mittlerweile 10.000 Dollar. Die Mieten sind seit 2009 um 80 Prozent gestiegen.
Die Demonstranten machen die IT-Branche für die Preisexplosion verantwortlich. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht irgendwo in der Bay Area gegen die Konzerne und ihre Mitarbeiter demonstriert wird. Ausgerechnet an der Geburtsstätte der Love-&-Peace-Bewegung kommt es zum offenen Kampf zwischen Arm und Reich, zwischen Alt-Hippies und Computer-Nerds. Es geht um Sozialneid und echte soziale Not.
Bis auf ein paar eingeschlagene Scheiben und zertrümmerte Google-Brillen verliefen die Proteste bislang friedlich, doch die Stimmung wird aggressiver. Im Januar belagerten Aktivisten das Privathaus des Google-Entwicklers Anthony Levandowski, im April verteilten sie Flugblätter bei den Nachbarn des Google-Managers Kevin Rose. Google-Mitarbeiter berichten, sie trauten sich nicht mehr, Firmen-T-Shirts anzuziehen.
Musiklehrer Santiago sitzt in seiner Wohnung im South of Market District, kurz Soma. Die meisten Möbel hat er verkauft, Kisten mit Schallplatten, Videos, Büchern, vergilbten Fotos und alten Postern stapeln sich. "Erinnerungen aus 37 Jahren", sagt er. 1977 ist der Musiklehrer hier eingezogen, seitdem hat sich einiges angesammelt. 480 Dollar kostete die Wohnung damals, heute, 37 Jahre später, auch "nur" 573 Dollar. Grund für den Schnäppchenpreis ist eine Besonderheit des Immobilienmarktes von San Francisco : Alle Wohnungen, die vor 1979 gebaut wurden, sind mietgebunden. Erst wenn jemand auszieht oder stirbt, darf die Miete an den aktuellen Marktpreis angepasst werden.
Problematisch wird das Ganze, weil die Preisbindung für 75 Prozent aller Mietwohnungen in der Stadt gilt, egal, ob darin ein arbeitsunfähiger Krebskranker oder ein vor Gesundheit strotzender IT-Millionär wohnt. Bei den restlichen 25 Prozent gehen die Mieten mangels Angebots durch die Decke. "Ich hatte vor, in dieser Wohnung zu sterben", sagt Santiago. Daraus wird nichts. Ein kalifornisches Gesetz, der Ellis Act, erlaubt dem Vermieter, die Apartments in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Die Zahl der Ellis-Kündigungen stieg allein 2013 um 115 Prozent. Santiagos größte Hoffnung ist nun ein kirchlich finanziertes Altersheim für mittellose Rentner, in dem er ehrenamtlich mit den Bewohnern musiziert: "Vielleicht nehmen die mich auf." Ihm kommen die Tränen: "Das ist meine Heimat, ich will hier nicht weg."
Online-Pranger
Besuch bei der Mieteraktivistin McElroy, dem Rumpelstilzchen von der Google-Demo. Die 31-jährige Künstlerin hat 2013 das "Anti-Eviction Mapping Project" gestartet. Sie sammelt auf einer Internetseite Daten über Immobilienpreise, porträtiert Menschen, die ihre Wohnungen verlieren, und stellt Immobilienspekulanten an den Onlinepranger. Die vermeintlich schlimmsten hat sie das "dreckige Dutzend" genannt, sie hat deren Adressen und Privatnummern ins Netz gestellt. "Wir rufen dazu auf, die Immobilienhaie mit Anrufen zu überhäufen", sagt sie. Im Kampf um die Gerechtigkeit seien solche Mittel erlaubt.
Die Vermieter sind für McElroy aber nicht die einzigen Bösewichte. Mitschuldig seien die Konzerne: Sie öffnet eine Karte von San Francisco. Dort sieht man die Haltestellen der Shuttlebusse ins Silicon Valley, um die sich konzentrische Kreise ziehen. "69 Prozent aller Zwangsräumungen liegen innerhalb von vier Blocks um eine Haltestelle. Dort sind die Mieten im Schnitt um 20 Prozent höher."
Täglich schieben sich Hunderte dieser Busse durch die Innenstadt. Sie benutzen die regulären Linienbus- Haltestellen und führen zu erheblichen Verspätungen im Nahverkehr. Würde eine Privatperson hier parken, wäre eine Strafe von 271 Dollar fällig. Die Shuttlebus-Betreiber zahlen nur einen Dollar.
Gelebte Dekadenz
Es ist mehr eine moralische als eine rechtliche Frage, ob die Tech-Branche Menschen wie Santiago helfen sollte. Fakt ist, dass viele Bewohner des Valley zuletzt eher mit Ignoranz und Rücksichtslosigkeit als mit Sozialkompetenz auf sich aufmerksam gemacht haben. Sean Parker etwa, erster Facebook-Präsident und Napster-Gründer, feierte seine Traumhochzeit letzten Sommer im Naturschutzgebiet Big Sur. Der Verstoß gegen das Umweltrecht kostete ihn 2,5 Millionen Dollar - Kleingeld für den Milliardär.
Entrüstung löste auch Tech-Milliardär Tom Perkins aus, der sich gern als "König des Silicon Valley" bezeichnet. Im Januar veröffentlichte er im "Wall Street Journal" einen Gastbeitrag, in dem er den Klassenkampf mit dem Dritten Reich verglich. Die Übergriffe auf Shuttle-Busse erinnerten ihn an die Kristallnacht.
Man würde gerne mit dem Tech-Konzernen direkt reden. Leider zieht die Industrie eine Mauer des Schweigens um sich. Anfragen bei Apple, Dropbox, Facebook, Google, LinkedIn, Twitter und Yahoo führten alle ins Leere. Facebook bot als einziger immerhin ein Gespräch mit einer Personalmanagerin an. Zu den Bussen und den Wohnungsräumungen durfte sich Janelle Gale nicht äußern, wohl aber zu den Vorwürfen, die Konzerne würden ihre Mitarbeiter abschotten:
Denn auch das ist eine oft gehörte Kritik. Die jungen Programmierer würden bei Mama aus- und bei Facebook, Google und Co. einziehen. Ihre Arbeitgeber nehmen ihnen beinahe alle Tätigkeiten ab, bei denen man sonst auf fremde Menschen trifft: Sie holen sie morgens ab, bringen sie abends heim, helfen bei der Wohnungssuche, machen kostenlos die Wäsche. Untertags gibt es keinen Grund, den Campus zu verlassen -alles da, vom Gratisessen bis zum Ärztezentrum.
Gewollt oder ungewollt entsteht so eine Parallelwelt, die Tech-Mitarbeiter bleiben unter ihresgleichen. Facebook-Personalmanagerin Gale sagt, der Vorwurf sei ungerecht: "Der Wettbewerb um die besten Talente ist sehr hart." Man müsse den Mitarbeitern einiges bieten. Natürlich sei es ihnen freigestellt, ganz andere Leute zu treffen. "Wir ermutigen sie auch, sich für lokale Projekte zu engagieren und unterstützen soziales Engagement finanziell."
Nicht ermutigt werden die Mitarbeiter dagegen, ihre Meinung zu sagen. Jeder auf dem Facebook-Parkplatz angesprochene Angestellte winkte ab. Er sei nicht befugt, mit der Presse zu reden.
Schließlich findet sich doch noch jemand. Jennifer Lauren sitzt beim Feierabend -Bier in einer Punk-Kneipe im Mission District. Die 32-Jährige arbeitet für eine Internetfirma. Lauren lacht, als sie von den verschüchterten Twitter-Mitarbeitern hört. "Die werden so mit Geld und Annehmlichkeiten überhäuft, da wollen sie ihren Arbeitgeber natürlich nicht verärgern." Tech-Firmen funktionierten ähnlich wie große Familien: Solange du loyal und brav bist, wird es dir an nichts fehlen.
Sergio Iantorno hat zwei Wochen lang überlegt, ob er ein Interview geben soll. Er ist ein freundlicher, dicklicher Herr, 71 Jahre alt, der noch immer mit einem italienischen Akzent spricht. In den 60er-Jahren kam er als Gastarbeiter nach Deutschland, einige Jahre später zog er nach San Francisco. "Mein Startkapital waren 50 Dollar, ich habe im Rotlichtviertel gewohnt und hatte kaum etwas zu essen." Doch mit harter Arbeit sei der amerikanische Traum für ihn wahr geworden. Dem Immobilieninvestor gehören heute 220 Wohnungen in der Stadt.
Das eigentliche Problem sei, dass nicht genug gebaut wird. "Einen Bauantrag durch alle Genehmigungsverfahren zu bekommen, dauert fünf bis sechs Jahre und verschlingt oft einen halbe Million Dollar", sagt er. Anwohner könnten gegen so ziemlich alles Einspruch erheben. "Die Wohnungsnot ist akut, aber es werden die falschen Konsequenzen daraus gezogen." Statt mehr oder höhere Gebäude zu erlauben, hat die Stadt auf Druck der Demonstranten nun gedroht, die Ellis-Kündigungen zu verbieten oder zumindest deutlich teurer für Vermieter zu machen.
In der Sackgasse
Der Italiener flucht ein paar italienische Kraftausdrücke. Die Lage sei vollkommen verkorkst. Leuten wie Santiago könne man nicht vorwerfen, dass sie wütend sind. Den Tech-Arbeitern könne man nicht vorwerfen, dass sie gern eine schöne Wohnung in guter Lage haben wollen. Und ihm könne man nicht vorwerfen, dass er "das Erbe meiner Kinder" schützen wolle.
"Die einzige wirkliche Lösung wäre, die Mietbindung komplett abzuschaffen und gleichzeitig mehr Sozialwohnungen zu bauen", glaubt Iantorno. Das sei politisch aber nicht durchsetzbar, sagt er und verweist auf seine alte Heimat. "Das ist ungefähr so wahrscheinlich wie die Aussicht, dass Silvio Berlusconi doch noch im Gefängnis landet."