Boeing-Absturz: Wenn der Markt zum Mörder wird

Der Tod von 346 Menschen bei Abstürzen von zwei Flugzeugen vom Typ Boeing 737 MAX 8 folgte einer verhängnisvollen Logik. Ein schneller Markterfolg wurde als oberste Prämisse gesetzt.

Franz C. Bauer, trend-Redakteur

Franz C. Bauer, trend-Redakteur

Vor einigen Monaten hat mein Sohn einen lang geplanten Urlaub angetreten. Reiseziel: über Tansania nach Sansibar. Rückflug Sansibar-Addis Abeba mit Ethiopian Airlines. Wenige Wochen später stürzte auf der gleichen Route, nur in der Gegenrichtung, ein Flugzeug dieser Airline ab. Vielleicht war es die Maschine, die kurz zuvor meinen Sohn befördert hatte. Wenige Wochen trennen uns von einer unsagbaren Tragödie. Andere hatten dieses Glück nicht. Hunderte Eltern, Kinder, Ehepartner beweinen jetzt ihre Angehörigen, die einem vermeidbaren Desaster zum Opfer fielen. Nein, dieser Kommentar entsteht nicht "sine ira et studio".

Der Absturz von Flug ET302 folgte einer verhängnisvollen Logik, stellt die Marktwirtschaft und deren Überwachungsmechanismen auf den Prüfstand, ist ein Lehrbeispiel für die Hybris der Technik und zeigt, was geschieht, wenn überhebliche Akteure die Kontrollfunktion der Medien ignorieren.

Am Beginn der Tragödie steht der Kampf zweier Giganten um die Marktführerschaft im Flugzeugbau. 2015 hatte Airbus die Nase vorn. Um aufzuschließen, musste Boeing rasch eine neue Version seines Modells 737 auf den Markt bringen. Weil die neue 737 MAX 8 aber stärkere Triebwerke benötigte, wurden diese weiter vorn an den Tragflächen angebracht. Doch das verlieh dem Flugzeug zusätzlichen Auftrieb. Um den Piloten das gleiche Gefühl wie bei der alten Version vorzuspielen, installierten die Techniker eine verhängnisvolle Virtual-Reality-Software, das "Maneuvering Characteristics Augmentation System" (MCAS). Dieses sollte den stärkeren Auftrieb, der durch die neue Konstruktion entstand, im Hintergrund korrigieren. Die Hybris der Techniker: Ihre Software konnte Steuerkommandos der Piloten übertrumpfen, die meisten hatten davon allerdings keine Ahnung.

Katastrophe der Marktwirtschaft

Den nächsten Schritt in die Katastrophe schreiben die Gesetze der Marktwirtschaft. Diese hat der Welt den historisch höchsten Wohlstand beschert, sie verursacht aber auch, wenn zu "frei" und zu wenig kontrolliert, immer wieder verheerende Kollateralschäden. Wer im Konkurrenzkampf bestehen will, muss schnell sein. Jeder Monat, in dem die Konkurrenz mit einem neuen Angebot früher am Markt ist, kostet Aufträge und Kunden. Also sollte die neu konfigurierte 737 MAX 8 rasch von den Behörden abgenommen werden.

Boeing ist nicht nur der weltgrößte Hersteller ziviler Flugzeuge, sondern auch der zweitgrößte US-Rüstungskonzern mit entsprechend guten Verbindungen zu den Behörden. Ob Boeing diese nutzte, lässt sich (noch) nicht feststellen, jedenfalls wies die US-Flugsicherheitsbehörde FAA laut Informationen der am Boeing-Standort erscheinenden " Seattle Times" ihre Sicherheitsingenieure an, wichtige Schritte zur Abnahme des Flugzeugs an Boeing selbst zu delegieren und für eine rasche Zulassung des Flugzeugtyps zu sorgen. Die Gefährlichkeit der Software kam dabei nie zur Sprache.

Menschenleben hätten gerettet werden können

Zuletzt: Mehr Respekt vor der Kontrollfunktion der Medien hätte die 157 Menschenleben, die Flug ET302 forderte, aber noch retten können. Bereits der Absturz der Lion Air 737 MAX 8, Flugnummer JT610, am 29. Oktober 2018 mit 189 Toten ließ nämlich Zweifel an der Sicherheit der MCAS-Software aufkommen. Entsprechende Hinweise will die "Seattle Times" (vermutlich sogar von Boeing-Ingenieuren selbst) erhalten und elf Tage vor dem Absturz der Ethiopian-Maschine sowohl an Boeing als auch an die FAA weitergegeben haben. Beide ignorierten die in Fragen gekleidete Warnung der Zeitung, die 737 MAX 8 durfte weiter fliegen. Inzwischen kursiert die aus Boeing-Sicht angenehmere Version, dass nur "fehlerhafte Sensordaten" für die Abstürze verantwortlich seien, die durch (aufpreispflichtige) Zusatzmodule entdeckt worden wären.

Fliegen zählt zu den sichersten Fortbewegungsarten, daran ändern auch die beiden Abstürze nichts -im Gegenteil. Flugzeuge werden in der gerade beginnenden Reisesaison wieder Millionen Touristen wohlbehalten an ihre Ziele bringen. Dazu hat auch der Tod der 346 Boeing-Opfer beigetragen. Zumindest für einige Jahre wird den Verantwortlichen klar sein, dass Menschenleben mehr wert sind als ein schneller Markterfolg, dass auch die ausgeklügeltste technische Lösung ihre Grenzen hat und dass die Kontrollfunktion der Medien ernst genommen werden sollte.


Der Kommentar ist der trend-Ausgabe 13/2019 vom 29. März 2019 entnommen.

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