Warum Energieversorger beim Wasserstoff schnappen
So attraktiv und vielversprechend die Aussichten auch sind, die großen Energieversorger (EVU) können das Potenzial von Wasserstoff noch immer nicht einschätzen. Konkrete Anwendungsfälle und Geschäftsmodelle fehlen, daran kann auch der politisch erzeugte Druck nichts ändern.
Lisa -Marie Luft
Zwei von drei Energieunternehmen tun sich laut einer neuen Horváth-Umfrage schwer, die Chancen von grünem Wasserstoff (H2) für das eigene Geschäftsmodell zu beurteilen, erst 22% der Versorger haben überhaupt eine H2-Strategie definiert, und nur fünf Prozent ein Geschäftsmodell für den Wasserstoffmarkt in der Pipeline. Dabei könnte die frühzeitige Implementierung einer geeigneten Business-Strategie entlang der Wasserstoff-Wertschöpfungskette die eigene Positionierung verbessern.
Produktionskapazitäten gering, Anwendungen fehlen
Der durch die Energiewende ausgelöste Hype ist groß: Die schier unbegrenzten Fördermittel auf nationaler wie europäischer Ebene erzeugen Druck auf die EVU, Konzepte zu entwickeln. Erste Vorgaben wurden so etwa durch die „Clean Vehicles Directive“ vorbereitet, mit der die Dekarbonisierung des öffentlichen Nahverkehrs angestoßen wurde. Auch chemische Industrie, Metall- und Glasindustrie stellen den bereits vorkommenden grauen Wasserstoff verstärkt auf grün.
In der Erzeugung und Speicherung von Wasserstoff sehen die Energieversorger derzeit noch die größten Chancen. Anders als bei erneuerbaren Energiequellen droht hier keine Überlastung oder Abschaltung durch die Stromnetzbetreiber, wenn mehr produziert wird als benötigt. Gleichzeitig erwartet die Mehrheit der Versorger, dass die aktuell mögliche Produktion von Wasserstoff bei weitem nicht ausreichen wird, um den tatsächlichen Bedarf der Industrie zu decken.
Klimaneutralität in weiter Ferne
Auch beim Thema Klimaneutralität gibt es laut der Studie noch viele Fragezeichen. Selbst wenn 70 Prozent der EVU in der gesetzlich beschlossenen Klimaneutralität grundsätzlich Chancen für ihr Unternehmen sehen, hat jeder dritte Energieversorger im eigenen Unternehmen noch gar keine Klimaziele gesteckt.
Ein weiteres Drittel will bis 2035 klimaneutral sein, allerdings ohne bisher konkrete Maßnahmen gesetzt zu haben. Nur 62 Prozent der EVU haben bis dato überhaupt eine definierte Nachhaltigkeitsstrategie. Das könnte zu einem Boomerang in der Kommunikation mit Kunden werden, denn Konsumenten reagieren inzwischen hochsensibel auf klimaschädigendes Verhalten.
Grund für das zögerliche Agieren der EVU sind die hohen Kosten der angestrebten Klimaneutralität. Die Energiewirtschaft hat schon traditionell hohen Investitionsbedarf. Für zusätzliche Investitionen in die Erzeugung von Grünstrom fehlen daher schlicht die Mittel aus bestehenden Finanzierungsquellen. Hier bietet die Taxonomie neue Chancen, neue Finanzierungspartner in die Wachstumsstrategie für Erneuerbare Energien und Wasserstoff einzubinden.
Hohe Netz-Investitionen erwartet
Konkret rechnen vier von fünf Versorgern mit einem deutlich erhöhten – prozentual sogar zweistelligen – Investitionsbedarf ins Stromnetz bis 2025. Ähnlich hoch sind die Investitionsvorhaben ins Wärmenetz. Hingegen plant nur noch ein geringer Anteil höhere Investitionen ins Gasnetz.
Das Potenzial von Wasserstoff, etwa dessen Beimischung ins bestehende Gasnetz, wird bisher kaum verfolgt. Warum ist leicht nachvollziehbar: Die Netzinfrastruktur muss aufgrund der Prognosen für steigenden Strombedarf durch die zunehmend elektrifizierte Industrie, dezentrale Stromerzeugung und ausgebaute Elektromobilität an eine volatilere Netzauslastung ausgerichtet werden. Dies erfordert einen steigenden Investitionsbedarf.
Auch Wärmekonzepte rücken zunehmend in den Fokus von Politik und Öffentlichkeit, denn Raumwärme, Warmwasser und Prozesswärme machen rund 40 Prozent der energiebedingten CO2-Emissionen aus. Wärmeplanungen einzelner Bundesländer sind bereits beauftragt, und kommunale Wärmeplanungen entfallen mehr und mehr in den Aufgabenbereich der Stadtwerke. Sie bieten außerdem ein großes Potenzial für langfristige Kundenbindung.
Fazit: Die aktuelle Dynamik in der Energiewirtschaft ist enorm, der Druck, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, höher denn je. Doch die Vielfalt der Möglichkeiten erschwert auch die strategischen Überlegungen der Unternehmen. Für den Ausbau der Wasserstoff-Infrastruktur fehlen nach wie vor Konzepte und Strategien. Daran kann auch der politische Druck vorläufig nichts ändern.
An der Studie „Strategieentwicklung von Energieversorgern“ haben sich über 80 EVU aus Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligt, die rund 70 Prozent des Energiemarkts abdecken. Die Studie kann hier bestellt werden.
Die Autorin
Lisa-Marie Luft ist Management Consultant bei Horváth in Stuttgart, mit Fokus auf Energieversorger und Wohnungswirtschaft.
Die Serie "Management Commentary" ist eine Kooperation von trend.at und der Unternehmensberatung Horváth. Die bisher erschienen Beiträge finden Sie zusammengefasst im Thema "Management Commentary".