Soziale Medien: Die digitalen Stammtische
Gerede am Stammtisch gab es immer schon. Jetzt ist es aber notwendig, den politischen Diskurs in die sozialen Medien zu verlagern.
Oliver Judex, stellvertretender Chefredakteur trend
Das Gerede am Stammtisch gab es immer schon. Radikale Meinungen, bösartige Unterstellungen, erfundene Gerüchte - alles spielt sich dort ab. Doch spätestens seit der US-Wahl ist zu erkennen, dass sich der Stammtisch längst ins Netz der sozialen Medien begeben hat, wo völlig ungebremst hasserfüllte, verschwörerische Abscheulichkeiten multipliziert werden. Millionen machen gleichzeitig jeden Unsinn zu ihrer eigenen Meinung. Und rechtspopulistische Parteien oder One-Man-Shows, die das geschickt ausnützen, können in unsicheren Zeiten wie diesen in bislang unbekannter Geschwindigkeit Anhänger und Wahlen für sich entscheiden.
Wenn Norbert Hofer demnächst gewinnt (ein Satz, der immer mehr temporal als konditional zu verstehen ist), kann dies bereits mit eine Ursache sein. Wenn H. C. Strache im nächsten Jahr gewinnt (analog zu oben), liegt das mitunter darin, dass es die FPÖ längst versteht, auf der Klaviatur der asozialen Medien ganze Symphonien der Aufstachelung zu spielen. Gleichzeitig verlieren die klassischen Medien immer mehr an Bedeutung als gesellschaftliches Korrektiv - auch deswegen, weil ihr Engagement in den sozialen Medien aus wirtschaftlichen Gründen beschränkt bleibt.
Doch genau darüber müssen wir, muss vor allem die Politik dringend nachdenken: Nur wenn auch die anderen Parteien genauso wie die Medien ihre fundierte Meinung, ihre belegten Tatsachen, ihre Gegenargumente zu einem gefährlich wachsenden Mainstream auf den Kanälen der digitalen Stammtische anbieten, gibt es künftig eine Chance auf faire, respektvolle und von sinnvollen Argumenten beherrschte Diskussionen - und auch Wahlen.
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