44 Milliarden Gründe für einen letzten Tweet
Milliardär und Tesla-Gründer Elon Musk kauft Twitter und will die Plattform umkrempeln. Das Unternehmen von der Börse nehmen und seine Vorstellung von "Redefreiheit" umsetzen. Wo immer deren Grenzen sind.
Der Twitter-Account von Neo-Twitter-Eigentümer Elon Musk, gestartet im Juni 2009
Elon Musk, der aktuell reichste Mensch der Erde, kauft die Online-Plattform Twitter. Die Unternehmensleitung, der Vorstand, hat dem 44 Milliarden Dollar schweren Kaufangebot zugestimmt. Twitter-Gründer und Großaktionär Jack Dorsey erklärte zu der Übernahme: "Es ist der erste richtige Schritt, das Unternehmen der Wall Street zu entziehen."
Weg von der Wall Street, von der Börse und den damit verbundenen Verpflichtungen gegenüber Aktionären und der Börsenaufsicht und deren Kontrollen. Das vor 16 Jahren als Social Media Plattfom für Online-Kurznachrichten gestartete Twitter steht offenbar vor einschneidenden Veränderungen. Wie es mit Twitter weitergehen wird, darüber kann man derzeit allerdings lediglich spekulieren. Selbst Twitter-Chef Parag Agrawal konnte den Mitarbeitern des Unternehmens dazu bislang noch keine Auskunft geben. "Die Zukunft von Twitter unter Musk ist ungewiss", erklärte er.
Fest steht jedoch, dass Twitter nun einem Mann gehört, der Redefreiheit so definiert: "Wenn jemand, den man nicht mag, etwas sagen darf, was man nicht mag." Und der nun erklärt hat, Twitter zu einer Plattform für eine ebensolche absolute Redefreiheit machen zu wollen.
Meinungsfreiheit und Social Media
Was darf man sagen, was kann man sagen, was soll man sagen, was muss man sagen? Wo sind die Grenzen? Um Meinungs- und Redefreiheit sind besonders wegen der Entwicklung der Social-Media-Plattformen in den vergangenen Jahren viele Diskussionen entbrannt. "Die Freiheit des Einen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt", ist ein Zitat, das vielfach Immanuel Kant zugeschrieben wird. In dessen Werk findet sich das zwar nicht, auch nicht bei Jean-Jacques Rousseau oder Rosa Luxemburg. Im diesem Zusammenhang ist die Quellenforschung allerdings nebensächlich.
Fest steht allerdings: Während in klassischen Medien - gleichgültig ob Print, Radio, Fernsehen oder Online - einen journalistischen Verhaltenskodex und klare Regeln gibt, an die sich Journalisten und alle Medienmacher halten und auch halten müssen, hatten sich die großen, zumeist in den USA beheimateten Social-Media-Plattformen, Zeit ihres Bestehens auf die Meinungsfreiheit berufen und sich nicht dem Regelverständnis der klassischen Medien gestellt.
Ja, die Social-Media-Plattformen haben auch deshalb positive Entwicklungen befeuert. Man erinnere sich an den arabischen Frühling, während dem sich die Bevölkerung in Tunesien, Ägypten, Algerien, Bahrain, Dschibuti, im Irak, in Jemen, Jordanien, Kuwait, Lybien, Marokko,Tunesien und weiteren Ländern Nordafrikas und im Nahen Osten gegen die dort herrschenden autoritären Regime stellte und die Proteste und Kundgebungen über Social-Media-Plattformen organisierte.
Social-Media-Plattformen haben gewiss auch die Medienlandschaft ein Stück weiter demokratisiert. Jenen eine Plattform, ein Sprachrohr gegeben, die zuvor keines hatten.
Doch dann haben die Plattformen schnell ihre Unschuld verloren.
Leben im Paralleluniversum
Twitter, Facebook, Telegram, Instagram und wie sie alle heißen - haben parallele Dimensionen entwickelt, eigene Universen, in denen Benimm- und Verhaltensregeln keinen Wert haben. In denen es keinen Respekt und keinen Anstand gibt und wissenschaftlich fundierte Wahrheiten fehlen. Wo unter dem Deckmantel der Meinungs- und Redefreiheit ungezügelter Hass, Sexismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Fake-News, Pseudowissenschaften, radikalste politische Gesinnungen, Bashing und Mobbing nahezu ungebremst verbreitet und ausgelebt werden.
Sie noch 1:1 übersetzt als "Soziale Netzwerke" zu bezeichnen wird der Deutschen Sprache nicht gerecht und würde das Wort "sozial" verunglimpfen. Doch es ist nicht nur die soziale, sondern auch ihre gesellschaftliche und die politische Komponente, die Social-Media-Plattformen oft derart ins Zwielicht rücken. Der erschreckende Riss, der sich während der Corona-Pandemie in der Gesellschaft aufgetan hat, wurde auf und über diese Plattformen befeuert. Die von außerhalb Großbritanniens, stark aus Russland gesteuerten Brexit-Kampagnen, Donald Trumps unsägliches Wüten und Poltern bis zum offenen Aufruf, nach seiner Abwahl das Kapitol zu stürmen, haben die geballten politischen Dimensionen dieser Plattformen aufgezeigt.
Als Folge des Sturms auf das Kapitol hat selbst Twitter der Reißleine gezogen und Donald Trump verbannt. Den Mann, für den Twitter während seiner Zeit als US-Präsident das Sprachrohr Nummer eins war und der mit seinen Millionen weltweiten Followern den Bekanntheitsgrad der Plattform geradezu exponentiell gesteigert hat.
Nun will Neo-Eigentümer Musk daran arbeiten, das "außerordentliche Potenzial der Plattform Twitter auszuschöpfen". Die quasi bereits offen ausgesprochene Einladung an den früheren Präsidenten, bald zurückzukehren hat dieser zwar vorerst noch divenhaft abgelehnt. Trump will stattdessen weiterhin auf seiner eigenen, selbt gegründeten Plattform "Truth Social" bleiben. Die Vermutung, dass weder Musk noch Trump Dauerhaft aufeinander und die Showbühne Twitter verzichten wollen ist dennoch naheliegend. Und selbst wenn es nicht Trump sein sollte - es findet sich sicher jemand, der dessen Rolle einnimmt.
Neo-Twitter-Eigentümer Elon Musk zeigt sich ob der nach seinem Kauf entstandenen Debatte um die freie Meinungsäußerung auf Twitter bestätigt und twittert unter @elonmusk: "The extreme antibody reaction from those who fear free speech says it all".

Es gibt jedoch noch einen Punkt neben der freien Meinung. Das ist der der freien Entscheidung. Mein am 20. Jänner 2009 gestarteter Twitter-Account - der damit um sechs Monate älter ist als jener von Elon Musk - wird die Ära Trump II - sofern es sie gibt - nicht mehr erleben. Es ist meine freie Entscheidung, dem Irrsinn dieser Selbstdarsteller-Arena nicht länger beizuwohnen. Denn die 44 Milliarden Dollar, die Musk bereit ist, für Twitter zu bezahlen - großteils in Aktienanteilen - begründen sich einzig und alleine auf der Zahl der etwa 217 Millionen täglich aktiven Benutzer und ihrer Tweets, Likes, Shares und Kommentare und der Möglichkeit, ihnen gesponserte Tweets als Werbung zu verabreichen. Eine Cashcow war Twitter nämlich nie. Bis Ende 2017 konnte Twitter kein einziges Mal einen Gewinn verbuchen. Erst 2018 war das der Fall und auch das war nicht nachhaltig. Zuletzt (2021) gab es wieder einen Verlust von 221 Millionen Dollar. Gratis ist eben im Internet nichts Auch wenn das Anlegen und Betreiben eines Accounts kostenlos ist. 44. Milliarden Dollar zeigen das mehr als deutlich. Und sind nun auch letztendlich der Anlass, mich nach über 13 Jahren wieder von der Plattform zu verabschieden. Musk wird es verschmerzen.
