Marian Salzman's Trends für 2023: "Alles neu denken"

Zukunfts- und Trendforscherin Marian Salzman zeigt 5 Trends auf, die ihrer Einschätzung nach das Jahr 2023 bestimmen werden: "Als globale Gesellschaft haben wir die Nase voll vom Zustand unserer Welt und sind mehr denn je entschlossen, etwas zu verändern."

Marian Salzman

Marian Salzman

Wir überdenken unsere Lebensziele, unsere verschwenderische Konsumkultur und die Systeme, die unseren Volkswirtschaften zugrunde liegen. Und wir suchen aktiv nach neuen und besseren Wegen, auch indem wir uns die Kraft des Sounds zunutze machen und unsere hyperlokalen Welten so gestalten, dass sie gleichzeitig funktionaler, schützenswerter und zufriedenstellender sind.

Trend 1: Die Kontrolle über die Realität verlieren

Wir leben in einer Gesellschaft, in der "Deepfake"-Technologie, virtuelle Influencer, von künstlicher Intelligenz produzierte Serien und virtuelle Freunde auf Abruf an der Tagesordnung sind. Die Frage, die sich hier stellt und der wir uns im Jahr 2023 und in den kommenden Jahren stellen werden: Was und wem können wir vertrauen? Mit den neuen Technologien geht es nicht mehr nur um unsere Augen und Ohren. Die Zunahme von Fehlinformationen und Desinformation ist so gravierend, dass die Vereinten Nationen die Mitgliedsstaaten aufgefordert haben, Maßnahmen zur Förderung der digitalen Kompetenz zu ergreifen.


Trend 2: Alles ist eine Farce

Nachdem die Menschen die traditionellen Postulate der Arbeit und des Wertes der Hochschulbildung nicht mehr unkritisch akzeptieren, stellen sie auch das System in Frage, das all dem zugrunde liegt: den Kapitalismus. Dieses Wirtschaftssystem, das sich Anfang des 19. Jahrhunderts in Europa durchsetzte und sich über die ganze Welt ausbreitete, wird heute als Ursache für alle möglichen Übel angeführt, vom Klimawandel und der ökologischen Zerstörung bis hin zu wirtschaftlichen Ungleichheiten und zunehmenden psychischen Störungen. Eine weltweite Umfrage von Edelman aus dem Jahr 2019 ergab, dass 56 % der Bürgerinnen und Bürger der Meinung sind, dass der Kapitalismus in seiner heutigen Form mehr Schaden als Nutzen in der Welt anrichtet.


Trend 3: Normalisierung der Nachhaltigkeit

Laut einer GlobeScan-Umfrage in 17 Ländern, bei der 65 % der Befragten die Situation als "sehr ernst" einstuften, hat die öffentliche Besorgnis über die Klimakrise einen historischen Höchststand erreicht. In einer Umfrage, die 2022 in 31 Ländern durchgeführt wurde, gaben 4 von 10 Teilnehmern an, dass der Klimawandel sie davon abhält, Kinder zu bekommen. Im Jahr 2023 werden wir mehr Innovationen im Bereich des Umweltbewusstseins sehen, wie z. B. neue Liefermodelle, Kohlenstoff-Fußabdruck-Etiketten auf Lebensmitteln und Produkten sowie passive Nachhaltigkeitstechniken wie den so genannten "durstigen Asphalt" für überschwemmungsgefährdete Gebiete, eine neue ultraweiße Farbe, die den Bedarf an Klimaanlagen reduziert, und kleine städtische Wälder, die die biologische Vielfalt fördern - sie senken die Temperaturen und reduzieren die Umweltverschmutzung. Angesichts der weltweiten Energiekrise und der steigenden Inflation werden immer mehr Menschen auf Flugreisen verzichten und sich für Bus und Bahn entscheiden.


Trend 4: Die Kraft des Sounds

Klang wird zunehmend als mögliche Lösung für zumindest einige der Missstände in der modernen Gesellschaft angesehen. Klangbäder und Soundmappings werden verschrieben, um die Seele zu beruhigen und Ängste abzubauen. Immer mehr Menschen setzen auf braunes Rauschen, um sich zu entspannen oder ihre Konzentration zu verbessern. Im Jahr 2023 werden wir weiterhin neue (und alte) Anwendungen von Klang erforschen, z. B. den Zusammenhang zwischen Stimme und Krankheit. Forscher an den National Institutes of Health sammeln Stimmdaten, um eine künstliche Intelligenz zu entwickeln, die in der Lage ist, Krankheiten von neurologischen Störungen über Autismus bis hin zu Krebs auf der Grundlage der Sprache einer Person zu diagnostizieren.


Trend 5: Unsere kleinen Welten anpassen

Die Menschen schaffen sich immer kleinere Welten, die sich konsequent auf ihr Zuhause konzentrieren, das heute oft auch ihr Arbeitsplatz ist. Die Menschen fühlen sich nicht nur wohl, sondern haben auch ein größeres Bedürfnis, sich gegen alles zu schützen, von mutierenden Viren und Wetterereignissen bis hin zu unsicheren Arbeitsmärkten und Lieferketten. Sie reagieren darauf, indem sie ihre Häuser mit der Technologie, den Vorräten und den Unterhaltungsmöglichkeiten ausstatten, die sie glauben, um jede drohende Krise zu überstehen. Im Jahr 2023 werden immer mehr Menschen ihr Zuhause in einen Zufluchtsort für Gesundheit und Wohlbefinden verwandeln. Der Markt für Zimmerpflanzen wird bis 2029 voraussichtlich auf über 26 Milliarden US-Dollar ansteigen, gegenüber weniger als 18 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021. Immer mehr Unternehmen stellen vorgefertigte modulare Kabinen her, die als Meditationsräume (oder einfach als Oasen ohne Kinder) dienen können. Und immer mehr Duschen bieten multisensorische Erlebnisse mit hydrotherapeutischen Behandlungen, Beleuchtung, personalisierten Klängen und vielem mehr.


ZUR PERSON

Marian Salzman, geb. 1959, ist - obwohl selbst überzeugte Nichtraucherin - seit 2018 Senior Vice President Global Communications für den Tabakkonzern Philipp Morris und Trend- und Zukunftsforscherin. Als solche hat sie zuletzt das Buch "The New Megatrends" veröffentlicht sowie seit Jahren ihren Trend Report, mit dem sie immer überraschend gut liegt. Den vollständigen Report "Five Trends For 2023: Rethinking Everything" finden Sie hier zum Download.

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