Lebenslänglich ahnungslos?
Essay. Von der bangen Suche nach Lebensweisheiten, die uns helfen, vollsmart steinalt zu werden und erfolgreich zu bleiben.
Helmut A. Gansterer

Wir leben in schwachen Zeiten. Mit starken Defiziten in Kreativität und sündhafter Lebenslust, was irgendwie zusammenhängt. Das Volk der Tänzer und Geiger ist eingeschlafen. Kaum einer wagt noch, zu trinken und sich ungesund, aber glücklich zu ernähren. Und die Unterhaltungen, sofern sie noch geführt werden, haben das emotionale Profil einer Wanderdüne. Die Themen werden von Vorsicht und Feigheit diktiert, man will ja überleben.
Bei aller lächerlichen Komik, die jeder Überkorrektheit und Prüderie anhaftet, ist man doch in Gefahr, sich anzupassen. Man könnte sich privat und beruflich schaden. Bald unterhält man sich nur noch im engsten Freundeskreis frei. Doch ohne fremde Impulse gibt es keinen Zuwachs an Lebensweisheit, von der wir gern ein wenig mehr hätten.
Insofern war es dieser Tage ein Glück, dass der große Regisseur Zufall ein paar sanguinische, noch lebhafte und sündige Epikureer an einem idealen Ort zusammenführte: an der gut bestückten, auch der Tabakkultur noch wohlgesonnenen Bar des Donaurestaurants Tuttendörfl bei Korneuburg. Dies ist einer der heiligen Orte, über denen ein Genius Loci schwebt. Ein Ort des Geistes und der Toleranz.
Stammgäste schätzen noch einen weiteren Vorzug. Die Donau fließt dort mit der gleichen erhabenen Geschwindigkeit wie der Mississippi nahe New Orleans, weshalb man sich automatisch zu Mark Twains Lausbuben Tom Sawyer und Huckleberry Finn verjüngt. Was direkt zu jenem Mann führt, den das gut gelaunte Rudel spontan als Leitwolf behandelte.
Er war mit über 80 der Älteste (die anderen gut gemischte 40er, 50er, 60er und 70er), sah aber unfassbar frisch und fit aus, weder dünn noch dick, eher athletisch. Er hielt sich kerzengerade, wirkte noch größer, als er war. Schon die ersten Worte wiesen ihn als gebildet und selbstironisch aus. Einzig an sein Sprechen musste man sich gewöhnen. Seine mit starker Stimme vorgetragenen Sätze lösten sich wie Eisschollen von einem Gletscher.
Bald nannten wir ihn, in Anlehnung an Albert Einstein, wegen seiner Fülle an guten Eigenschaften den "Dreistein". Aber erst, nachdem wir in Fragen des Tabaks und Alkohols Einverständnis erzielt hatten. Man sah gut durchmischt Zigaretten, E-Zigaretten und Zigarillos, der Nichtraucher der Runde verharrte tapfer mit wässrigen Augen. Einstimmig auch das Votum für niederösterreichischen Weißwein: Zuerst Weinviertler DACVeltliner von Schwarzböck, dann Wagramer Weißburgunder vom Bauer, später Federspiele und Smaragde der Wachau. Und falls wir am Ende unsere Stimme reparieren müssten, wurde Tuttendörfl- Boss Günther Gass gebeten, für hohe Carnuntumer Rotweine Vorsorge zu treffen. Man sieht: Einverständnis auch in der Frage einer grün-günstigen Nahversorgung.
,Dreistein', sagten wir, ,Sie sind unser Stammesältester und stehen großartig da. Praktisch Hollywood. Verraten Sie uns Ihre Geheimnisse.'
Ah, dachte ich, in 1.000 Podiumsdiskussionen erlebte ich keine derart gute Vorbereitung für eine glückliche Unterhaltung. Sie wird die Welt nicht aus den Angeln heben, aber die Beteiligten verbessern.
"Dreistein", sagten wir, "Sie sind unser Stammesältester. Und stehen großartig da, praktisch Hollywood. Sie müssen alles richtig gemacht haben. Verraten Sie uns Ihre Geheimnisse. Denn wir wissen, dass man ab 40 ohne Zutun zwar automatisch blöder wird, aber viel tun muss, um gescheiter zu werden. Wir sind auf der Suche nach höherer Lebensweisheit. Beschenken Sie uns!"
Da löste sich eine große Eisscholle in die Stille der Runde. "Sehr gerne", dröhnte er, "alles, was ihr wollt. Völlige Offenheit. Doch ihr seid die Jüngeren und müsst in Vorleistung treten. Zuerst müsst ihr erklären, welche Weisheiten euch das Leben lehrte."
Ich hätte vielleicht noch sagen sollen, dass vier der sechs Rudeltiere trend-Leser waren. So kam ich als Erster zum Handkuss. Man befahl mir, die Lebensweisheitsessenz meiner Interviews mit Weltberühmtheiten zu filtrieren. "Kurz und bündig", sagte man. Das war nicht in jedem Fall leicht, doch gab ich mein Bestes wie folgt.
1 David Ogilvy und die Wahrnehmung der Mitarbeiter
David Ogilvy, die Werbelegende Nummer eins, lernte ich nicht als Journalist kennen, sondern in einem glücklichen Interregnum als Werbetexter von Ogilvy & Mather. Mir war ein Wochenende in seiner französischen Villa vergönnt. Er schrieb die witzigsten, oft auch härtesten Botschaften an seine Kreativen ("Ihr braucht zu lang; eure Texte haben die Schwangerschaft von Schweinen"). Die besten Mitarbeiter waren dennoch zufrieden. Sie fühlten sich wahrgenommen.
Merke: Nichts ist schlimmer als ein emotionsloser Boss, der schweigt und Unsicherheit schürt. So einer macht "management by mushrooms": die Mitarbeiter im Dunkeln stehen lassen und mit Dünger bewerfen. Das darf auch aufs Privatleben übertragen werden.
2 Conrad Hilton und die Selbstbezogenheit der Menschen
Ich fand Mr. Hilton indirekt, ohne persönliche Bekanntschaft, witzig. Zunächst gefiel mir dies: "Sie wollen zu meinem 80. Geburtstag wissen, was mir das Leben beibrachte? Es ist beim Duschen klüger, den Vorhang in die Wanne zu hängen." Dann gab es Hiltons Streit mit Ogilvy. David glaubte an die Magie guter Texte, sein Freund Conrad nur an Bilder. Die Wette ging dahin, ob Ogilvy ein reines Textinserat schreiben könnte, das Mr. Hilton freiwillig lesen würde. Die Überschrift des Inserats lautete: "Alles über Conrad Hilton". Hilton zahlte die 100 Dollar.
Merke: "Nichts interessiert den Menschen mehr als die Menschen - und unter diesen er selbst." Das war auch das Erfolgsgeheimnis des Münchner Verlegers und Illustrierten-Königs Hubert Burda ("Bunte","Focus").
3 Ryuzaburo Kaku und die privaten Leidenschaften
Es galt Canon-intern als Sensation, dass ich den legendären Canon-Präsidenten interviewen durfte (mein Dank an Graf Roderich Stomm). Erst recht, dass er mir einen zweiten Termin gab. Mit glücklichem Instinkt hatte ich beim ersten Termin nur über Kakus private Leidenschaften gesprochen, den WWF (World Wildlife Fund) und den Konflikt Kapitalismus -Kommunismus. Kein Wort über den Übergang zur digitalen Fotografie, was sein Tagesgeschäft war.
Die Lehre daraus liegt auf der Hand: Sehen Sie auch in hohen Tieren zunächst das Individuum. Selbst Kardinal König lebte auf, wenn man ihn statt aufs Zweite Konzil auf seine erfolgreiche Diät ansprach ("kein Bissen nach 17 Uhr"). Ganz generell scheint dies eine Zauberformel für alle Erfolgssucher zu sein. Im menschlichen Umgang ist der Umweg eine Abkürzung.
4 Ken Olsen und die Halsstarrigkeit
Das schrecklichste Interview der 1980er-Jahre, als ich selbsternannter Hightech-Chef des trend war. DEC-Boss Olsen war ein furchterregender Choleriker, ein skandinavischer Berserker wie aus Ingmar Bergmans "Jungfrauenquelle". Er kannte nur seine Mid-Size-Computers und wütete gegen alles Größere und Kleinere. Die DEC (Digital Equipment Corporation) scheiterte an ihm selbst.
Merke: Aggression gegen Konkurrenten ist ein tödlicher Makel. Umgekehrt kenne ich keinen Erfolgreichen, dem respektvolle Worte über den Konkurrenten geschadet hätten. Dies vermittelt den Schmelz von Souveränität. Doch Achtung: Die Komplimente müssen begründet sein, sonst wirken sie aufgesetzt. Wie fast jede Lebensweisheit gilt diese zugleich für Business, Beruf und Privatleben.
5 Bill Gates und die Ängste der Starken
Zugegeben, ich rede hier vom jungen Bill Gates, als er noch bettelarm, nur Drittreichster nach Warren Buffett und dem Sultan von Brunei, war. Dennoch erschreckend, wie verschüchtert er beim ersten Gespräch war. "Du hast mit zu lauter Opernstimme zu forsch auf ihn eingesprochen", rügte die Microsoft-PR-Chefin, "hast dann aber die Kurve gekriegt." Tierischer Instinkt hatte mir befohlen, schnurrend wie mit einer Katze über seine Kindheit zu sprechen. Da warf er dann plötzlich in seiner Wittmann-Couch die Arme nach hinten und bot sich schutzlos dar, ein ultimatives Zeugnis für Vertrauen.
Merke: Auch im Stärksten und Reichsten steckt eine sensible Seele, die "good vibrations" sucht. Anfängliche Rücksicht ist niemals falsch. Selbst dort, wo sie nicht notwendig wäre, ist sie kein Fehler.
Dies war das Ende meines Beitrags. Die Tuttendörflkumpane - wir waren beim Federspiel vom Prager angelangt - scharrten schon in den Startlöchern. Ihre üppigen, wunderbaren Beiträge sind als Nachfolgeband meines Ecowin-Buchs "Endlich alle Erfolgsgeheimnisse" vorgesehen. Die klugen Leserinnen und schönen Leser mögen die Selbstwerbung verzeihen. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Nachtrag: Als die Reihe an "Dreistein" kam, gestand er, immer in den Tag hinein gelebt zu haben. Das sei sein Geheimnis. Er wisse erst durch uns, wie kompliziert das Leben sein kann. Wir hörten ihm gar nimmer zu. Er war halt schon alt, der Arme.
Der Essay ist der trend.PREMIUM-Ausgabe 39/2018 vom 28. September 2018 entnommen.