Hannes Androsch: Unglaubliches Indien
Essay - Teil 2. Im Jahr 2040 wird der Subkontinent mehr Einwohner als China haben und zur Wirtschaftsgroßmacht aufgestiegen sein. Höchste Zeit für heimische Unternehmen, diesen Markt gezielt zu erobern.
Hannes Androsch ist Industrieller und ehemaliger SPÖ-Finanzminister sowie Vizekanzler der Ära Kreisky.
Indien ist ein Subkontinent in der Verkleidung eines Landes. Mit 3,3 Millionen Quadratkilometern ist es flächenmäßig das siebtgrößte Land der Erde. Es reicht vom Gebirgskamm des Daches der Welt, dem Himalaja, mit einer Breite von 3.300 km keilförmig über eine Länge von 3.400 km nach Süden bis zur Spitze des Kap Komorin und bis nahe an den Äquator. Die gesamte Küstenlänge beträgt 7.000 km. Schon in Kürze ist es das bevölkerungsreichste Land der Welt. Mit 1,6 Milliarden wird es 2040 um 200 Millionen mehr Einwohner zählen als China.
Indien ist eine der ältesten Zivilisationen der Erde. Bereits 2500 v. Chr. entstand im Industal eine frühe Hochkultur mit eigener Schrift und einer diversifizierten Gesellschaft. Seine wechselvolle Geschichte führt unter anderem über die Herrschaft des Maurya-Reiches mit seinem berühmten Herrscher Ashoka, die südindische Chola-Dynastie über islamische Reiche bis in die glanzvolle Epoche der Mogulzeit. Diese begann 1526 mit der Regentschaft des Enkels von Timur Lenk Babur, erreichte unter Akbar einen Höhepunkt, um dann aus Schwäche 1757 unter den Herrschaftseinfluss der von Elisabeth I. bewilligten britischen Ostindien-Kompanie zu gelangen.
Die systematische Ausbeutung des Subkontinents durch die Ostindien-Kompanie führte im Jahr 1857 zum indischen Aufstand. Nach seiner blutigen Niederschlagung wurde Indien als Juwel in der Krone zur Kronkolonie des britischen Reiches, bis es nicht zuletzt dank des gewaltlosen Kampfes von Mahatma Gandhi am 15. August 1947 ("Freedom at Midnight") die Unabhängigkeit erlangte. Die Freiheit war allerdings verbunden mit dem blutigen Preis einer Abtrennung Pakistans, von dem sich in der Folge wiederum Ostpakistan als Bangladesch trennte. Aus dieser Trennung entstand der bis heute währende Dauerkonflikt um die Kaschmir-Region.
Indien ist gekennzeichnet durch eine bunte ethnische, sprachliche und religiöse Vielfalt, mit der aber auch eine starke Polarisierung und gewaltsame Gegensätze verbunden sind. Mit Hindu und Englisch verfügt es über zwei Amtssprachen, zu denen mehr als 30 offiziell anerkannte weitere Sprachen sowie unzählige Dialekte kommen. Religiös dominiert der Hinduismus, dem 75 Prozent der Bevölkerung angehören, dem Islam folgen 15 Prozent, das ist weltweit die drittgrößte muslimische Bevölkerung. Diese wächst stärker und wird bald 300 Millionen ausmachen. Daneben gibt es Angehörige des Christentums, Sikhismus, Buddhismus, des Jainismus und etlicher anderer Glaubensrichtungen.
Vor allem durch Hindu-Extremisten kommt es immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen gegenüber der islamischen Bevölkerung. Ein solcher hat auch Gandhi am 30. Jänner 1948 ermordet. Entgegen der Verfassung von 1949 ist Indien mit seinem Kastensystem noch immer die am stärksten hierarchisch gegliederte Gesellschaft der Welt. Der untersten Kaste, den "Unberührbaren" ("Dalits"), gehören rund 17 Prozent der Bevölkerung an. 30 Prozent leben im urbanen Raum. Im Vergleich zu westlichen Industriestaaten oder China ist das ein sehr geringer Grad der Urbanisierung. Die indischen Städte generieren aber 70 Prozent der Wirtschaftsleistung.
70 Prozent der Inder leben als Klein- und Kleinstbauern im ländlichen Raum. Sie stellen 50 Prozent der Erwerbstätigen, aber erwirtschaften nur 14 Prozent des Bruttosozialproduktes. Damit ist Indien nach wie vor ein agrarisch geprägtes Land, das stark vom Monsunregen abhängig ist. Dieser kann zu gering oder zu intensiv ausfallen.
Beides bedeutet geringe Ernte mit Armut und Hunger als Folge. Aber auch eine gute Ernte ändert nicht viel, weil dann die Preise sinken. Unter diesen Umständen besteht immer auch noch ein hoher Grad an Analphabetismus. Er beträgt bei den Männern etwa 20 Prozent, bei den Frauen sogar 40. Letzteres zeigt beispielhaft die große Notwendigkeit der Emanzipation der indischen Frauen.
Die Infrastruktur harrt des dringenden Ausbaus. Dies gilt für Verkehrseinrichtungen ebenso wie für die Stromversorgung. Um das ungenutzte Entwicklungspotenzial der Frauen und vor allem der Jugend effizienter zu nutzen, bedarf es darüber hinaus einer Intensivierung der Bildungsaktivitäten und des Ausbaus entsprechender Bildungsinfrastrukturen.
Ein Problem stellt außerdem die Versorgung mit sauberem Trinkwasser dar. Der Hauptfluss Ganges, "der heilige Ganga", ist in einem gefährlichen Zustand, wie überhaupt die meisten Flüsse im Land, die für viele nach wie vor den einzigen Zugang zu Wasser darstellen. Zudem sind die sanitären Einrichtungen unterentwickelt, was zu bedenklichen gesundheitlichen Problemen in großen Teilen der Bevölkerung führt. Auch die Umwelt- und Luftverschmutzung ist vor allem in den Großstädten verheerend. Unter den 15 Städten der Welt mit der schlechtesten Luftqualität sind laut WHO zehn in Indien, Delhi rangiert auf Platz eins.
In Bangalore begegnen sich Agrar- und digitales Zeitalter: Über den Campus der IT-Firma zieht ein Bauer ...
Das alles sind Probleme, die mit der lange Zeit nachhinkenden wirtschaftlichen Entwicklung zusammenhängen. Die indische Wirtschaftsstruktur ist nach wie vor von der Kolonialherrschaft geprägt: Weil die britische Herrschaft die industrielle Entwicklung verhindert hat, trägt der Industriebereich nur mit 15 Prozent zur Wirtschaftsleistung bei.
... seinen Ochsenkarren, das Handy eingeklemmt zwischen Schulter und Ohr.
Die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung Indiens scheint das Industriezeitalter in hohem Maße zu überspringen und vom Agrarzeitalter direkt in das Digitalzeitalter zu gelangen. Seine diesbezügliche IT-Wirtschaft gehört zu den führenden der Welt. Bemerkenswert dabei ist die große Zahl an qualifizierten Auslandsindern, von denen besonders viele in den USA und überdurchschnittlich im Silicon Valley erfolgreich sind.
Indien ist ein pulsierendes und lebenssprühendes Land. Auf seinen Straßen und vor allem in den Städten herrscht eine sicher nicht umweltschonende, fulminante und chaotische Verkehrsordnung. Autobusse, Lkw und Kleinautos werden von Massen aus Rollern und dreirädrigen Rikscha-Fahrzeugen umschwirrt. Zwischen solchem Wirrwarr spaziert gemächlich immer wieder eine Kuh. Das bunte (Verkehrs-) Chaos wird zusätzlich durch gewaltige Gegensätze und Anachronismen geprägt. So kann es passieren, dass auf dem Areal des globalen Ausbildungszentrums der IT-Firma Infosys mit über 200.000 Mitarbeitern ein analphabetischer Bauer auf seinem zweirädrigen Karren gesichtet wird, gezogen von zwei höckerigen Ochsen mit einem großen Balken im Nacken, er hat zwischen Ohr und Schulter ein Mobiltelefon geklemmt.
Apropos Gegensätze: Das erwähnte Global Education Center von Infosys im südwestlich von Bangalore gelegenen Mysor umfasst 130 Hektar mit über 100 Gebäude von feinster grüner Architektur für 16.000 Trainees und 7.000 Mitarbeiter samt komfortablen Unterkünften. Der riesige Park zählt tausend Bäume. In ihm wird organischer Obst- und Gemüsebau betrieben. Welch ein Kontrast! Es begegnen sich das Agrarzeitalter und das digitale Zeitalter zeitgleich an einem Ort.
Dabei ist die Penetrierung mit Mobiltelefonen für Indien besonders wichtig, weil man damit den Aufbau eines flächendeckenden Festnetzes überspringen kann. Gegenwärtig haben nicht ganz 60 Prozent der Bevölkerung ein Mobiltelefon, wovon aber erst ein Drittel Smartphones sind. Allerdings sind das jetzt schon mehr, als es Wassertoiletten gibt, über die nur die Hälfte der Bevölkerung verfügt. Das ist auch eine Folge der zeitlich nachhinkenden Wirtschaftsentwicklung, die auch dafür verantwortlich ist, dass erst 50 Millionen Inder der Mittelschicht zuzurechnen sind.
Inzwischen weist Indien ein besonders starkes Wachstum auf. Dies ist eine Folge der Reformen, die Anfang der 1990er-Jahre während der Präsidentschaft von Manmohan Singh begonnen wurden und nun unter Präsident Narendra Modi fortgesetzt werden. Es ist anzunehmen, dass er die nächstjährigen Parlamentswahlen gewinnt, um diesen Weg fortsetzen zu können. Damit ist Indien - bei allen Herausforderungen, die es zu meistern gilt, und allen Hürden, die überwunden werden müssen - am besten Wege, die nächste asiatische Wirtschafts- und Großmacht zu werden. Damit wird es einen Markt darstellen, in dem man bestrebt sein muss, aktiv zu sein.
Führende österreichische Unternehmen wie Andritz, AT&S, AVL, Frauscher, Plansee, Voest etc. haben sich diesbezüglich schon längst erfolgreich engagiert. Andere sollten diesem Beispiel folgen. Dies gilt auch im wissenschaftlichen Kontext. Im Asia University Ranking 2018 des "Time"-Magazins befinden sich fünf indische Universitäten unter den ersten 100, davon an der Spitze auf Platz 29 das Indien Institute of Science in Bangalore. Mit diesem wird das AIT Austrian Institute of Technology eine Zusammenarbeit aufnehmen. Bei einem jüngsten Besuch sind dafür mit Unterstützung des Außenwirtschaftscenters bereits die Voraussetzungen geschaffen worden.
Der Autor
HANNES ANDROSCH, Ökonom und Industrieller, war von 1967 bis 1981 Abgeordneter zum Nationalrat, von 1970 bis 1981 Finanzminister sowie von 1976 bis 1981 Vizekanzler unter Bruno Kreisky. Heute ist er geschäftsführender Gesellschafter der AIC-Androsch International Consulting, Miteigentümer der Salinen Beteiligungs GmbH und Vorsitzender des Aufsichtsrates der Salinen Austria AG sowie Miteigentümer und Aufsichtsratsvorsitzender von Europas größtem Leiterplattenhersteller AT & S. Androsch ist weiters Vorsitzender des Universitätsrates der Montanuniversität Leoben, Aufsichtsratsvorsitzender der Finanzmarktbeteiligung AG und Vorsitzender des Rates für Forschung und Technologieentwicklung gewählt.
Der Essay ist der trend-Ausgabe 9/2018 vom 2. März 2018 entnommen.